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Malis Roadmap am Scheideweg

Im Juli soll in Mali das Parlament neu gewählt werden. Doch werden die Wahlen wie geplant stattfinden? Und wird die Regierung Malis in der Lage sein, den Wahlkampf und die Stimmabgabe unter den gegenwärtigen Umständen abzusichern? Diese Fragen spiegeln die weit verbreitete Skepsis gegenüber den offiziellen Verlautbarungen wider, wie die unmittelbare Zukunft des Landes aussehen soll. Sicher, die malische Regierung hat Ende Januar 2013 einen Plan veröffentlicht, der das Land aus der Übergangsphase herausführen soll. Allerdings war diese „Roadmap“, die zeitgleich mit der militärischen Intervention Frankreichs einherzugehen schien, schon längst überfällig. Sie ist Teil der Schlüsselvereinbarungen, die bereits im April 2012 von den Initiatoren des damaligen Militärputschs und den Vermittlern der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (ECOWAS) unterzeichnet wurde. Sie gründet auf zwei Pfeilern: die Befreiung des Nordens und die Organisation von freien und fairen Wahlen im gesamten Land.

Ein unruhiger Übergang

Bereits kurz nach dem Putsch vom 22. März 2012 erklärte der Putschistenführer Amadou Sanogo auf internationalen Druck hin, die Verfassung sei wiederhergestellt und eine Übergangsregierung gebildet worden. Präsident Amadou Toumani Touré trat zurück und Dioncounda Traoré, der bisherige Präsident der Nationalversammlung, wurde als Übergangspräsident eingesetzt. Darüber hinaus kam es zu einer ganzen Reihe von Provisorien: Junta-Chef Amadou Haya Sanogo wurde „vorläufiges Staatsoberhaupt“ und Cheick Modibo Diaraa, Astrophysiker und damals Leiter von Microsoft Africa, wurde zum Premierminister mit „sämtlichen Befugnissen“ ernannt. Es entstand ein de-facto-Triumvirat ohne klare Abgrenzung der Zuständigkeiten, das schon im Kern zu einer institutionellen Instabilität des Landes führte. So erschien auch bereits Anfang Dezember 2012 der neu ernannte Premierminister im nationalen Fernsehen und verlas eine erzwungene Reueerklärung, in der er sich selbst der persönlichen Bereicherung auf Kosten nationaler Interessen bezichtigte. Sein unfreiwilliger, von der Junta-Führung geforderter Rücktritt zeigte, wie brüchig die anfängliche Konstellation der neuen Mächte bereits geworden war.

Diarras Nachfolger Django Cissoko wurde schon einige Tage nach Diarras Rücktritt ins Amt ernannt. Der zweite Premierminister des Übergangs bekleidete bereits zur Ära Moussa Traorés einflussreiche Regierungsämter. Seine Ernennung kennzeichnete ein weiteres Paradox des Coups: die kontinuierliche Rückkehr von Beamten aus der Zeit der Militärdiktatur. Der neue Premierminister galt als diskreter, effizienter Administrator, der mit allen gut konnte. Er würde den Präsidenten nicht in den Schatten stellen, geschweige denn den Juntaführer. Mit der prompten Neubildung der Regierung ließ die Angst vor einer institutionellen Krise nach. Das neue Kabinett mit mehreren Ministern aus dem Norden repräsentiert eher das gesamte Land. Dennoch unterminierte diese Wendung der Ereignisse deutlich die Positionen wichtiger Akteure: einerseits die der westafrikanischen Vermittler, andererseits die der der Pro-Junta-Koalition.

Eine gestohlene Revolution?

Die Aussicht auf Reformen und einen politischen Neuanfang ziehen sich wie ein roter Faden durch den Diskurs der Befürworter des Putsches. Dessen Hauptfigur, Oumar Mariko, kritisiert schon seit Jahrzehnten die „verpfuschte Demokratie“. In seinem Diskurs vermischen sich immer wieder linke und pan-afrikanische Ideale mit einer Verurteilung der kolonialistischen und imperialistischen Praktiken. Als Generalsekretär der SADI-Partei (Solidarité africaine pour la démocratie et l'indépendance)  ist er der bedeutendste Oppositionspolitiker Malis, die politische Basis für seine Ideenblieb jedoch bisher eher dünn.

Marikos leidenschaftliche Unterstützung der Putschisten von 2012 fand in erster Linie unter den vielen unzufriedenen Intellektuellen und Politikern Anklang, die sich dem COPAM-Bündnis (Coordination des Organisations Patriotiques du Mali) anschlossen. Seine Ziele: Entmachtung der alten politischen Klasse sowie Widerstand gegen alle Krisenlösungen, die vom Ausland dominiert seien. Hierin liegt  ein eindeutiges Zeichen für die Ambivalenz in der aktuellen malischen Politik. Menschen, die mutig gegen eine Militärregierung gekämpft haben, unterstützten die Anliegen einer Junta-Führung. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die daraus resultierenden Kompromisse und Vereinbarungen zwischen der Junta und den afrikanischen Organisationen auf Enttäuschung und Misstrauen stießen.

Obwohl die Nachgiebigkeit der Junta für die Enttäuschung mit verantwortlich ist, wird sie nicht offen kritisiert. Stattdessen werden die Afrikanische Union und die ECOWAS als Schaltstellen der westlichen Mächte, insbesondere Frankreichs, verhöhnt. Ein vehementer anti-imperialistischer und anti-kolonialistischer Diskurs ist neuerlich in Gang gekommen. Im April und Mai 2012 forderte die COPAM immer wieder den Aufbau einer „vom Volk ausgehenden“ oder „unabhängigen“ Versammlung, den Rücktritt des Übergangspräsidenten und die Rückkehr von Hauptmann Sanogo, der den Übergang bis zur Durchführung ordnungsgemäßer Wahlen leiten soll.

Die COPAM selbst sieht sich als die authentische Zivilgesellschaft Malis, die sich schon seit Jahren für die öffentlichen Belange der Bevölkerung einsetzt. Doch im Parlament verfügt sie lediglich über drei Vertreter der linken SADI-Partei, und ihr starres Festhalten an der Junta hat ihre Agenda verzerrt.

Rettung durch die Zivilgesellschaft?

Kern der Pro-Putsch-Bewegung ist die kleine, linke im Parlament vertretene SADI-Partei, deren Anführer noch in den frühen Morgenstunden des Staatsstreichs vom 22. März 2012 die Volksbewegung zum 22. März (MP22) gründete und dem Junta-Führer die Treue schwor. Daraus entwickelte sich kurz darauf die oben bereits erwähnte COPAM. Mit Rückendeckung der neuen Militärführung gelang es der Bewegung, sich sowohl als revolutionäre Partei, als auch als authentische Stimme der sozialen Bewegung zu positionieren. Der Begriff „Forces Vives“ (lebende Kräfte) soll die revolutionären Massen, die vermeintlich hinter der Bewegung stecken, repräsentieren. Diese „Forces Vives“ fordern eine „concertation nationale“, also ein umgehendes Basisabkommen, um neue Institutionen einrichten und daraus eine echte Demokratie schmieden zu können.

Sie operieren innerhalb tausender von Verbänden und Interessensgruppen. Während die Politik immer weiter in Verruf gerät, soll die Zivilgesellschaft die Rettung übernehmen. Dies gilt auch für Gruppen, bei denen die Grenzen zwischen Widerstandskampf und zivilrechtlichen Ansprüchen verwischen. Seit dem militärischen Eingreifen Frankreichs und der Veröffentlichung der Roadmap der Regierung im Januar 2013 haben diverse Entwicklungen dafür gesorgt, dass die Zivilgesellschaft an die Spitze getreten ist. Im Februar wurde eine internationale Petition im Namen der Tuareg-Bevölkerung Malis veröffentlicht. Darin distanzierte sich die Tuareg-Gemeinschaft deutlich von der separatistischen Bewegung und anderen bewaffneten Gruppen. Parallel dazu trat im April eine politische Plattform an die Öffentlichkeit, die den Begriff „Kel Tamashek“ (Tamashek-Sprechende) zur Bezeichnung ihrer Gemeinschaft benutzt und ihre Anbindung an die malische Nation bekräftigt. Etwa zur gleichen Zeit rief die Regierung eine Kommission für Dialog und Versöhnung ins Leben. Die erhitzten Auseinandersetzungen über das Mandat und die Mitgliedschaft, bei denen viele der einheimischen und Auswanderergruppierungen sich in ihrer Kritik an der ursprünglichen Form ablösen, laufen jedoch zugleich weiter. Der offenbar einzige erkennbare Konsens ist, dass ein Dialog, wenn es denn einen geben sollte, in erster Linie zwischen der Bevölkerung und den Gemeinden stattfinden müsste, und nicht wie in der Vergangenheit zwischen der Regierung und den Rebellenbündnissen.

Der bevorstehende Weg

Die malische Politik wird nicht nur mit Blick auf den bewaffneten Konflikt mit großer Wahrscheinlichkeit noch länger kontrovers bleiben. Es sieht ganz danach aus, dass sich die Interessensgruppen immer mehr hinter ideologischen, ethnischen und religiösen Richtlinien verschanzen. Ohne Wahlen kann im Prinzip jede Seite Legitimität für sich beanspruchen, ohne sie unter Beweis stellen zu müssen.

Es herrscht allgemeiner Konsens über die Notwendigkeit, das öffentliche Leben unter einer legitimen politischen Führung wieder in die Normalität zurückzuführen. Aber müssen die Wahlen bereits im Juli 2013 stattfinden? Hier gibt es große Unstimmigkeiten. Die Stadt/Provinz? Kidal im Norden des Landes ist noch nicht unter Kontrolle der malischen Armee. Für viele Malier ist die Lage unbegreiflich und sie unterstreicht das Unvollendete an dieser territorialen Befreiungsgeschichte. Die Pattsituation wird auf die Zurückhaltung Frankreichs geschoben, weder einen Zusammenstoß mit den Tuareg-Kämpfern provozieren, noch die Niederlage einer geschwächten separatistischen Bewegung eingestehen zu wollen, die zu Beginn der Angriffe ihren Dienst gegen die islamistischen Gruppen zur Verfügung gestellt hat. Dies liefert neuen Zündstoff für die lang gehegte Vermutung, wonach Frankreich als Sponsor der Nationalen Bewegung für die Befreiung von Azawad (MNLA) aufgetreten ist, um seine eigenen Interessen in der Region durchzusetzen. Die Zwiespältigkeit der französischen Haltung hat das schlummernde Misstrauen gegenüber den Absichten der Großmächte erneut geweckt.

Die „Roadmap“ sieht einen Wahltermin vor, der manchen akzeptabel erscheint und anderen nicht. Sie legt Juli als Monat für die Wahlen fest, während die Wiederherstellung der territorialen Integrität bis weit in den Oktober dieses Jahres dauern wird. Da die Wahlen im ganzen Land zeitgleich stattfinden sollen, wirft der Termin die Frage der Plausibilität auf. Zur gleichen Zeit ruft Außenminister Laurent Fabius die separatistische MNLA auf, den bewaffneten Kampf aufzugeben und sich zu einer politischen Partei zu organisieren. Das mag wie ein vernünftiger Ratschlag klingen, aber es ruft den alten Argwohn hervor. Die MNLA und ihre islamistischen Verbündeten halten an der Besetzung Kidals fest.
 
Und obwohl die Notwendigkeit, so schnell wie möglich Wahlen abzuhalten, nicht per se strittig ist, verstärkt der aktuelle Termin nur das Gefühl, dass die wichtigsten Entscheidungen von außen auferlegt werden. Dieses Gefühl von kollektiver Hilflosigkeit verheißt nichts Gutes für die Zukunft. Seitens der internationalen Akteure ist viel Diskretion gefordert, insbesondere von der französischen Regierung, um die malische Öffentlichkeit nicht gegen sich aufzubringen und die fragile Führung des Landes nicht noch weiter zu untergraben.

Wenn für Mali über dieses scheinbar unlösbare Dilemma hinweg eine Hoffnung bestehen sollte, liegt sie in der Wiederbelebung der öffentlichen Debatte und Kontrolle, sowohl auf politischer Ebene als auch im Gemeinwesen und im Bereich der Social Media. Mehr denn je werden in Mali die Erklärungen und Beschlüsse von offizieller Seite unverzüglich weiterverbreitet und analysiert. In den digitalen Foren und Austauschgruppen setzt sich die politische Polarisierung, die auf den Putsch folgte, in lebhaften Debatten fort. Die traumatische Kriegserfahrung hat die Gesellschaft ganz besonders im Norden tiefgreifend verändert. Erste Jugend- und Frauenbewegungen sind bereits aktiv in der Region und setzen sich für einen Prozess des Dialogs und der Versöhnung an der Basis ein. Das Streben nach Normalität hat die Tuareg-Bewegungen dazu veranlasst, sich bei ihrer Forderung nach Schutz vor Stigmatisierung und Gewalt deutlicher gegen Separatismus und bewaffnete Rebellion auszusprechen.

Um es auf den Punkt zu bringen: das enorme Ausmaß an Leid und Demütigung des letzten Jahres kann dazu beitragen, die Bürger zu motivieren, sich selbständig und unabhängig vom Staat, den bewaffneten Gruppen und sogar den traditionellen Parteien mit Hauptsitz in der Hauptstadt Bamako, zu organisieren. Insofern kann die in den letzten zwei Jahrzehnten vorangetriebene Stärkung der Institutionen auf lokaler Ebene  der Bevölkerung dabei nützlich sein, wieder ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben zu erhalten.


E-Paper zum Thema von Charlotte Wiedemann: