Am 11. September jährt sich der Putsch in Chile zum vierzigsten Mal. In zahlreichen Gedenkveranstaltungen wird der Opfer gedacht, unaufgeklärte Fälle von Menschenrechtsverletzungen stehen wieder in der Diskussion. Doch im Wahljahr und nach den anhaltenden sozialen Protesten („movilizaciones“) rücken auch in Chile zunehmend das strukturelle Erbe der Diktatur und die notwendigen Veränderungen in den Mittelpunkt des Interesses.
Für den ehemaligen Oberkommandierenden der chilenischen Streitkräfte und Vorsitzenden der nationalen Wahlbehörde SERVEL, Juan Emilio Cheyre, war die Angelegenheit mehr als unangenehm: In einer Talkshow des chilenischen Senders TVN traf er Mitte August auf Ernesto Lejdermann, den Sohn eines Ende 1973 auf der Flucht von Einheiten des Heeres-Regimentes „Arica“ (in der 500km nördlich von Santiago gelegenen Stadt La Serena) ermordeten mexikanisch-argentinischen Ehepaares. Obschon Cheyre zu der Zeit Adjutant des Regimentskommandanten war und den damals zweijährigen Ernesto nach dem Vorfall auf Dienstanweisung schließlich persönlich in die Obhut eines Nonnen-Klosters übergab, behauptete er erneut, nichts von der Ermordung der Eltern gewusst zu haben – er habe die „offizielle“ Version geglaubt, das Ehepaar habe sich vor den Augen des Kindes mit Dynamit selbst in die Luft gesprengt. Doch die Erklärung war wenig glaubwürdig:
Schließlich ist Cheyres Rolle auch in vielen anderen Fällen unklar, so zum Beispiel im Falle der „Karawane des Todes“, eines unmittelbar nach dem Putsch landesweit mit größter Brutalität operierenden Exekutions-Kommandos, das auch in Zusammenarbeit mit dem Regiment „Arica“ 15 Inhaftierte ermordete. Am Tag nach der Sendung musste Cheyre seinen Rücktritt als Servel-Vorsitzender erklären, wenn auch „im Reinen“ mit sich selbst, wie er betonte, denn er habe erst Jahre später von den Menschenrechtsverletzungen des Regimes erfahren.
Der Fall ist symptomatisch für den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit des Landes: Trotz einer beträchtlichen Anzahl von Gerichtsverfahren gegen zumeist rangniedrigeren Täter hat das Land eine offene und ehrliche Debatte über die Vergangenheit und ihre anhaltenden persönlichen und strukturellen Kontinuitäten bislang gescheut, fällt es den zivilen und militärischen Tätern und Hauptverantwortlichen, aber auch den weniger belasteten Mitwissern schwer, den eisernen Pakt des Schweigens zu durchbrechen.
Zurzeit gelten noch immer über 1200 Menschen als „Detenidos-Desaparecidos“, also nach Festnahme weiterhin als vermisst, darunter auch eine Reihe von zum Verhaftungszeitpunkt Minderjährigen. Und zu diesen Fällen gestaltet sich die Suche nach verfahrensrelevanten Informationen als äußerst schwierig, denn noch immer schweigen sich zahlreiche überführte oder unerkannte Täter aus.
Mit dem Fall Cheyre gewinnt die unvollständige oder fehlende juristische Aufarbeitung zahlreicher Fälle von Menschenrechtsverletzungen zum Jahrestag des Putsches und wenige Monate vor den Wahlen zwar erneut eine gewisse politische Brisanz. Doch zugleich drängen sich, auch mit diesem Fall, Fragen zu weiteren, tiefergehenden Folgen und Auswirkungen der Diktatur auf die Beschaffenheit der chilenischen Demokratie, die Kontinuitäten struktureller Art, auf:
Warum ist vor dem beschriebenen, - diplomatisch formuliert - eher schwierigen Hintergrund der chilenischen Streitkräfte ausgerechnet ein ehemaliger General von der Regierung zum Vorsitzenden der nationalen Wahlkommission SERVEL berufen worden, einer der zentralen Organe der chilenischen Demokratie? Zudem in einem Moment, in dem der SERVEL nach zahlreichen Pannen in den Kommunalwahlen 2012 vor einer schwierigen Reform steht ( siehe auch: "Präsident Salvador Allende darf wählen") - trotz des unbestreitbar weitreichenden, zivil-akademischen Hintergrunds des Generals mutete diese Kombination vielen kritischeren Beobachtern eher seltsam an.
Die Verrenkungen im Fall Lejdermann waren zudem nur noch der Auslöser für den Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden der Wahlkommission: Bereits kurz nach seiner heftig debattierten Ernennung durch die konservative Piñera-Regierung zeigte er sich, in Reaktionen auf die Initiative „Marca Tu Voto – por una Asamblea Constituyente AC“ (Markier Deinen Stimmzettel - für eine Verfassunggebende Versammlung) nicht besonders firm im geltenden Wahlrecht: Zuerst bestritt er die Gültigkeit markierter Wahlzettel (neben der Kandidat/innenpräferenz ein AC in einer freien Eckte des Wahlscheins), musste dann aber schließlich doch einlenken, nachdem zahlreiche Verfassungsrechtler der Kampagne mit Verweis auf den genauen Wortlaut des Gesetzes das Gegenteil bewiesen. Schon das Hin und Her um diese Frage brachte den bereits seit dem Registrierungschaos in den Kommunalwahlen in der Kritik stehenden SERVEL kurz vor den Wahlen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt in Turbulenzen und Cheyre an den Rand des Rücktritts.
Die Virulenz der Debatte um eine Verfassunggebende Versammlung und die SERVEL-Unklarheiten wie auch die anhaltenden sozialen Proteste verdeutlichen, dass trotz aller Gedenkveranstaltungen und ungelösten Menschenrechts-Fälle 40 Jahre nach dem Putsch und 23 Jahre nach dem formellen Ende der Diktatur der Fokus der Bevölkerungsmehrheit eher auf den systemischen Erblasten der Diktatur liegt: Trotz aller Fortschritte und Reformen in den letzten Jahrzehnten stellen die nur punktuell überarbeitete Verfassung aus der Pinochet-Zeit und das ererbte politische System eine Zwangsjacke für die chilenische Demokratie dar, die einen extremen Präsidentialismus und ein in wesentlichen Rechten beschnittenes Parlament mit einer äußerst unzureichenden politischen Repräsentativität verewigen.
Zugleich sind, trotz Rückgang der offiziellen Armutsraten, die frappierende Ungleichheit und anhaltend prekäre Lebensbedingungen einer Mehrheit der chilenischen Bürger und Bürgerinnen auf entscheidende Weise mit den von der Verfassung zementierten Spielregeln der Diktatur-Zeit verbunden.
Bis heute ist Chile das Land mit einer der spektakulärsten Reichtumskonzentrationen und den höchsten Einkommensdifferenzen in der Region und weist, trotz kontinuierlicher Reduzierung der offiziellen Armutsraten, einen der größten Niedriglohnsektoren des Kontinents auf. Deshalb ist in der konsequent durchprivatisierten und monopolartig organisierten sozioökonomischen Realität Chiles für viele Bürger/innen ein angemessenes Bildungsangebot, eine bezahlbare Gesundheits- oder eine akzeptable Altersvorsorge kaum oder nur unter einer sich immer schneller drehenden Schuldenspirale zu finanzieren. Die Lebenswirklichkeit definiert die Chilen/innen nicht als Bürger/innen mit Rechten, sondern als Konsumenten privater Dienstleistungen, ohne jedoch das notwendige Maß an Verbraucherschutz genießen zu können. Das unantastbare, von der Verfassung aufs Äußerste priorisierte Recht auf Privateigentum schränkt zahlreiche andere, auch kollektive Rechte in der Praxis auf eine Art und Weise ein, dass jegliche Reform der Verfassung an einzelnen Punkten Stückwerk bleibt. Zugleich ist die ideologisch begründete Reduktion des Staates -und damit seiner Möglichkeiten, über Politiken moderne und innovativere Entwicklungsstrategien zu verfolgen- auf ein Minimum für ein OECD-Mitgliedsland wie Chile mittlerweile kontraproduktiv. Das Land verschleudert mit seinem unfairen Bildungssystem nicht nur zahlreiche Talente. Auch bietet die einseitige Orientierung auf die Ressourcensektoren wenig Raum für einen diversifizierten, nachhaltigen Industrie- und KMU-Sektor mit qualifizierten Arbeitsplätzen. Dafür schafft die Rohstoffökonomie eher neue Abhängigkeiten von internationalen Konjunkturen und erst recht zahlreiche neue Konflikte um knappe Ressourcen wie Wasser und Energie.
Es ist wesentlich das Verdienst der sozialen Proteste der Studenten- und anderen sozialen Bewegungen, seit Mitte der 2000er Jahre, vor allem aber seit 2011, diese Aspekte struktureller Benachteiligungen und Unzulänglichkeiten des in der Diktatur etablierten und in den letzten Jahren kaum reformierten politischen und ökonomischen Systems mit einer klaren Reformforderung für die Zukunft auf die politische Agenda gesetzt zu haben.
Vor allem im Jahr der Präsidentschaftswahlen kann die bislang stark selbstreferentielle politische Elite die Notwendigkeit grundlegender Reformen nicht mehr negieren: Mittlerweile vertreten selbst zahlreiche Mitglieder der Regierungspartei Renovación Nacional RN die Ansicht, dass beispielsweise eine Reform des binominalen Wahlrechts und eine Stärkung des Parlaments hin zu einer parlamentarischen Demokratie notwendig sind – soviel Veränderungsbereitschaft wünschten sich viele Chilen/innen auch von der Vorgänger- und mutmaßlichen Nachfolgerregierung unter Michelle Bachelet. Dabei geht es, vierzig Jahre nach dem Putsch, allen Unkenrufen und überspitzter Rhetorik zum Trotz, nicht um einen linksradikalen Systemumsturz, sondern um Aspekte, die auch in der Bundesrepublik - bei allen Nuancen - zum parteiübergreifenden Konsens gehören.
Neben der Frage einer Reform der Verfassung und des politischen Systems sowie nach mehr Bürger/innenbeteiligung stehen als grundlegende Forderungen vor allem eine Reform des Bildungs- und Gesundheitswesens, des Steuersystems, des Arbeitsrechts aber auch der Ressourcen- und Umweltgovernance mit ihren zahlreichen Konflikten um Wasser, Umweltverschmutzung und Energie- sowie Bergbauprojekte ganz oben auf der Tagesordnung.