Vorwort

Lesedauer: 4 Minuten

Der Begriff „kommunale Bildungslandschaft“ signalisiert einen Perspektivenwechsel. Die Verantwortung für die offensichtlichen Mängel unseres Bildungssystems – zu geringe Leistung in der Breite und zu geringe Fähigkeit zur Förderung der als Risikogruppe eher ausgegrenzten als beachteten Jugendlichen – wird nicht länger an Akteure außerhalb der Schulen delegiert. Sie wird „vor Ort“ angenommen und nicht länger „den Eltern“ oder „dem Kultusministerium“ oder „der Bildungspolitik“ zugeschoben. Denn Bildung spielt „vor Ort“, und die Förderung besonders der Risikogruppe braucht die Kooperation sämtlicher Akteure: Eltern, alle Träger von Kinder-, Bildungs- und Jugendeinrichtungen, die verschiedenen Ebenen staatlicher Verwaltung und politischer Entscheidung, zivilgesellschaftliche Organisationen, ehrenamtliches Engagement und auch das Engagement der lokalen und regionalen Wirtschaft. Kommunale Bildungslandschaften sind Verantwortungsgemeinschaften, bei denen die verschiedenen Akteure ihre Verantwortung nicht auf ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich beschränken, sondern im Interesse am gelingenden Aufwachsen junger Menschen zusammenwirken. Die gemeinsame Konzentration auf die Bildungsbiographie soll sicherstellen, dass alle Jugendlichen ein Mindestmaß an Kompetenzen zur Gestaltung ihrer eigenen Biographie als Grundlage von Mündigkeit und Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit erwerben. Regionale Bildungslandschaften übernehmen die Verantwortung dafür, dass kein Kind und kein Jugendlicher verloren geht.

Einen entscheidenden Anstoß erhielt das Konzept der regionalen Bildungslandschaft durch die von Rot/Grün gegen massiven Widerstand durchgesetzte Ganztagsschule. Die zeitliche Ausdehnung der Schule in den Nachmittag erzwang neue Arrangements mit Eltern und den anderen Trägern außerschulischer Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche. Zeitliche und finanzielle Ressourcen mussten neu verteilt werden. Viele der hier entstehenden Konflikte folgten noch der alten Logik der Legitimation der eigenen Einrichtung durch die Sicherung der Zuständigkeit für möglichst viele Ressourcen. Erst allmählich setzt sich eine neue „Governance“ durch, die sich nicht an der Zuständigkeit für Geld oder Personal, sondern an der Verantwortung für den Bildungserfolg des einzelnen Kindes und Jugendlichen orientiert.

Diese neue Governance folgt dem hohen sozialethischen Anspruch der Bildungsgerechtigkeit, den bereits die Schulkommission der Heinrich-Böll-Stiftung mit ihrer Empfehlung „Bildungsgerechtigkeit im Lebenslauf“ von 2009 in den Mittelpunkt stellte. Bildungsgerechtigkeit zielt auf Inklusion: Alle Kinder einer Kommune oder Region sollen die gleichen Chancen haben. Dabei besteht die Erwartung, dass die besondere Förderung der Risikogruppe die Fähigkeit des gesamten Bildungssystems zur individuellen Förderung verbessern wird. Gemessen an diesen Ansprüchen ist die Gefahr der Enttäuschung groß. Vielfach hält die Praxis noch nicht, was die Idee der Bildungslandschaft und der Verantwortungsgemeinschaft verspricht. Vielfach fehlt es noch an sozialräumlich differenzierten Unterstützungssystemen. Noch fällt es vielen Akteuren schwer, die Wirksamkeit des eigenen Handelns – den Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen – als entscheidenden Maßstab für die eigene Praxis anzuerkennen. Auf beiden Ebenen wird sich die Praxis der kommunalen Bildungslandschaft weiterentwickeln müssen. Die Governance braucht sozialräumliche Indikatoren für die Ressourcenverteilung und Akteure mit einem hohen Maß an Selbstwirksamkeitserwartung und -erfahrung.

Dem Ziel der Verbesserung der Praxis der kommunalen Bildungslandschaft widmen sich die beiden Texte dieser Publikation aus je unterschiedlicher Perspektive. Anika Duveneck stellt das Konzept der kommunalen Bildungslandschaft ins Zentrum, die Vielfalt ihrer Schwerpunkte und Leitbilder sowie vier Entwicklungslinien, aus denen heraus sich verschiedene Modelle entwickelt haben. Im Hauptteil geht es ihr darum, kommunalen Akteuren Anregungen und Hinweise zum Aufbau von Bildungslandschaften an die Hand zu geben – ergänzt durch die Erfahrungen von Praktikern in vier kommunalen Bildungslandschaften, die für verschiedene Modelle stehen.

Demgegenüber bietet der Bericht von Sybille Volkholz Einblicke in die Praxis „vor Ort“ verschiedener Bildungslandschaften, ihre sichtbaren oder noch ausstehenden Effekte auf die Governance und den Umfang, in dem die Akteure die Verantwortung für die Wirksamkeit ihres Handelns wahrnehmen. Beide Texte zeigen, dass das sozialethische Konzept der Bildungsgerechtigkeit die Praxis in Gestalt kommunaler Bildungslandschaften anleiten kann und dass diese Praxis vor dem Hintergrund der Erfahrungen fortlaufend weiterentwickelt werden muss. Dazu will diese Publikation anregen.
 

Berlin, im Dezember 2011

Dr. Andreas Poltermann, Leiter der Abteilung Politische Bildung Inland der Heinrich-Böll-Stiftung