Am Ende der Geduld: Soziale Ungleichheit in Lateinamerika

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Für die chilenische Elite kamen die Proteste aus dem Nichts: Sie begannen im März 2011 mit einer Demonstration gegen das Groß-Staudammprojekt Hidro-Aysén im Süden des Landes – die bisher größte dieser Art, für die in den sozialen Netzwerken aufgerufen worden war. Neu war, dass neben den üblichen Verdächtigen Studentenorganisationen, Gewerkschaften und andere soziale Organisationen, vor allem zahlreiche Bürger(innen) mit ihren Familien auf die Straße gingen – für ein vordergründiges Umweltanliegen und quer über alle Schichten hinweg. Sie teilten den Unmut über einen hinter den Kulissen getroffenen Deal, der das Projekt an den Ergebnissen einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) vorbei ermöglicht hatte. Nicht nur die intransparente Top-down-Entscheidung gegen ein prinzipiell eingabeoffenes Beteiligungsverfahren wie die UVP, auch die offenkundige Priorisierung der Interessen der beiden Stromkonzerne Colbún und Endesa gegenüber den Lebensgrundlagen der örtlichen Bevölkerung symbolisierten in aller Deutlichkeit die Art und Weise, wie die chilenische Politik jenseits der Parteigrenzen politische und soziale Ungleichheit reproduziert. Was folgte, ist bekannt: Bis zum heutigen Tag engagieren sich Studenten- und zahlreiche Bürgerbewegungen für ein universelles Recht auf kostenlose Bildung und viele andere Themen und bestimmen damit die Agenden der Politik, denn in Chile wird im November 2013 die neue Regierung gewählt. Die aktuelle Mobilisierung in Chile, aber auch zuletzt in Brasilien und Argentinien, charakterisieren sich durch eine breite soziale Vielfalt und parteipolitische Neutrali tät, mit der die Bewegung den rechtskonservativen wie progressiven Regierungen die sich auf fatale Weise gleichenden, akkumulierten Defizite ihres Regierungshandelns um die Ohren haut. Auffällig ist aber vor allem, dass die Kritiker(innen) in sehr konkreter Weise unterschiedliche Aspekte andauernder sozialer Ungleichheit aufgreifen und ihre Forderungen spezifisch daran ausrichten. So haben die brasilianischen Demonstrant(inn)en eine mehr oder weniger klare Vorstellung davon, wo anstelle der WM- und Fifa-Kostenorgie die Prioritäten staatlicher Ausgabenpolitik liegen sollten.

Armutsbekämpfung nur vordergründig erfolgreich

Auch die chilenische Protestbewegung adressiert mittlerweile recht präzise grundsätzlichere Fragen zur Steuer- und Gesundheitspolitik wie auch zu einer grundlegenden Verfassungsreform, die die mangelnde Repräsentativität und hierarchische Orientierung des politischen Systems überwinden soll. In Argentinien sorgt die autistische Regierungsführung für wachsenden Unmut über die Polarisierung und politische Marginalisierung der Bürger(innen) und zahlreicher Institutionen. Ihre gemeinsame Schnittmenge finden zahlreiche lokale Initiativen und Bewegungen im Aufbegehren gegen die andauernde politische Entmündigung beispielsweise anhand einzelner Bergbauvorhaben: Der Protest entzündet sich immer häufiger nicht nur an sozialen Missständen oder Forderungen, sondern zugleich an intransparenten oder undemokratischen Entscheidungsfindungsprozessen und der Missachtung bereits etablierter Beteiligungsrechte und -formen. Die bis in Kolonialzeiten zurückreichende Tradition der Protestbewegungen und -dynamiken gegen die hartnäckig anhaltende Ungleichheit auf dem Kontinent erreicht heute eine neue politische Qualität, die auch die verschiedenen links-progressiven Regierungen irritiert oder unvorbereitet trifft: Hatten diese es doch ab dem Jahrtausendwechsel geschafft, als Antwort auf die massiven gesellschaftlichen Proteste und Mobilisierungen gegen die katastrophalen Folgen der Liberalisierungspolitik der 1990er-Jahre dezidiert ein Wiedererstarken des Staates mit hohen Wachstumsraten und gezielter Armutsbekämpfung zu verbinden, die die unerträglichen sozialen Verzerrungen überwinden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen sollten. Und in der Tat, gut eine Dekade später konstatiert auch der ökonomische Zusammenschluss der lateinamerikanischen Ländern und der Karibik, die Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL), dass die offiziellen Armutsraten kontinentweit von fast 49 Prozent im Jahr 1990 auf knapp 29 Prozent im Jahr 2012 gesunken sind und die formelle wie informelle Beschäftigung stark wächst. Ein etwas genauerer Blick auf die positiven Daten offenbart jedoch einige Widersprüche und Mythen.

Zum einen sind die methodologischen Grundlagen und Richtwerte der Armutsmessungen von Land zu Land unterschiedlich, sodass die kontinentweiten Erhebungen nur einen eingeschränkten Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen. In Chile beispielsweise wird ein Pro-Kopf-Grundwarenkorb für Lebensmittel auf der Basis von kalorischen Werten für die Messungen absoluter und relativer Armut zugrundegelegt. Im Jahr 2009 lag dieser bei umgerechnet 70 Euro – keine Frage, dass die Armutsrate so mit rund 15 Prozent relativ niedrig lag. Zum anderen geben viele nationale Erhebungen nur wenig Aufschluss darüber, in welchem Ausmaß diejenigen Personen ihre Situation verbessern, die die Armutsgrenze überwinden und deshalb nicht mehr in der Statistik aufgeführt werden. Unabhängige Erhebungen weisen nach, dass in den vergangenen Jahren viele chilenische Haushalte nur sehr knapp die Armutsschwelle überwunden haben, dort dann aber ohne weitere signifikante Verbesserung verharren: 2008 lagen rund 40 Prozent der Bevölkerung unter oder nur knapp über der Armutsgrenze von rund 70 Euro im Monat.

Mono- und Duopole verhindern Abbau struktureller Defizite

Diese anhaltende Vulnerabilität, also die Verletzlichkeit gegenüber der sozialen Situation, verweist auf eine Kette struktureller Ursachen, für die auch eine verfehlte oder nicht konsequent umgesetzte Politik verantwortlich ist: Wie auch die CEPAL konstatiert, scheinen hauptsächlich die Einkünfte aus selbstständiger und nichtselbstständiger Arbeit die Einkommenssituationen zu verbessern und damit den Sprung über die Armutsgrenze zu ermöglichen, während konkrete Sozialprogramme mit direkten Umverteilungsinstrumenten vor allem Armen zugutekommen. Doch Arbeitseinkommen aus formeller und informeller Beschäftigung unterliegen in vielen lateinamerikanischen Ländern nicht zwangsläufig einer Wachstumsdynamik, wie es in entwickelten Ökonomien die Regel sein kann (oder sollte). Dabei spielen vor allem zwei Faktoren ein entscheidende Rolle: Erstens sind bis auf wenige Ausnahmen spezifische Ausbildungsinstrumente und qualitativ hochwertige Bildungsangebote für eine Mehrheit der Bevölkerung kaum zugänglich. Entweder überwiegen vor allem kostenpflichtige private Bildungseinrichtungen oder aber die öffent lichen kostenlosen Instanzen bieten nur in sehr eingeschränktem Maße eine angemessene Berufs- oder Hochschulausbildung, die wiederum entsprechende Qualifikationen und damit verbesserte Einkommensperspektiven ermöglichen. Zweitens und von zentraler Bedeutung hängen die lateinamerikanischen Ökonomien konjunkturell trotz aller nationalen Unterschiede weiterhin fast mehrheitlich von mineralischen und agrarischen Rohstoffexporten ab (vgl. S. 28 ff.). Diese einseitige Fokussierung auf Rohstoffe spiegelt in den meisten Fällen nicht nur eine historische Kontinuität bis weit in die Anfänge der Kolonialgeschichte, sondern hat aufgrund der technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahre auch negative Aus - wirkungen auf den Arbeitsmarkt: Sowohl in der Landwirtschaft wie auch im Bergbau geht die Zahl der über Investitionen geschaffenen Arbeitsplätze kontinuierlich zurück.

In der industriellen Intensivlandwirtschaft beispielsweise sinkt die Beschäftigung aufgrund von Landkonzentration, Bauernhofsterben sowie neuen Eigentumsmodellen und Hightech-Produktionsformen bereits seit Jahren. Verschärft durch die Ausweitung des Sojaanbaus und der Direktsaat sind in der argentinischen Landwirtschaft nur noch ein Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung direkt in abhängigen Arbeitsverhältnissen beschäftigt – der argentinische Bauer organisiert heute entweder als Landbesitzer oder Manager eines Saatpools von einem Büro aus die Pestizidausbringung, Saat oder Ernte und den Verkauf per Telefon, Handy oder online. Selbst in der eigentlich arbeitsintensiven Wein- und Obstlandwirtschaft Chiles ist die Beschäftigung in den vergangenen sechs Jahren von 14 auf acht Prozent gesunken, zahlreiche mittlere und kleinere landwirtschaftliche Betriebe sowie Kleinbauern und -bäuerinnen geben auf. Auch im Bergbausektor werden immer weniger direkte Arbeitsplätze geschaffen, die Beschäftigung wandert in nachgelagerte oder informelle Sektoren aus. Zudem konzentrieren sich selbst international wettbewerbsfähige Industrien auf Weiterverarbeitungsprozesse des Rohstoffsektors – das betrifft beispielsweise in Brasilien und Argentinien sowohl einige Vorzeigeunternehmen der Schwerindustrie als auch Unternehmen in der Verarbeitung von Agroprodukten wie Biokraftstoffe oder Lebensmittel. Auch in diesen Branchen gibt es nur wenige Player, und sie brauchen zudem kaum Beschäftigte. Eine moderne Soja-Biodiesel-Raffinerie in der argentinischen Stadt Rosario wird beispielsweise von nur zwei Facharbeitern gesteuert.

Steuerpolitik reproduziert Ungleichheit

Das zentrale Hindernis für eine diversifizierte, innovative, beschäftigungsintensive und Entwicklung fördernde Wirtschaft sind – neben politischen Strategien – Konzentrationsprozesse und Monopolstrukturen, die nur in vernachlässigbaren Größenordnungen eine reguläre Beschäftigung und soziale Aufstiegsperspektiven bieten. Besonders deutlich wurde dies im Dienstleistungssektor, etwa hinsichtlich Finanzen, Energie oder Wasser, während der Liberalisierungspolitik der 1990er-Jahre, als unter hohem Kapitaleinsatz neue private Mono- oder Duopole entstanden. Arbeitsplätze wurden abgebaut und in den stark wachsenden informellen Sektor oder in prekäre Selbstständigkeit abgedrängt. Auch die von der EU vorangetriebenen Verhandlungen um Freihandelsabkommen in und mit der Region zielen im Kern darauf, europäischen Unternehmen weiterhin Vorteile zu verschaffen und andererseits im verschärften internationalen Wettbewerb Zugänge zu den Rohstoffen des Kontinents zu erhalten.

Die ökonomische wird von einer politischen Konzentration der Macht begleitet: Die beinahe durchweg präsidentiellen Systeme mit geringer Repräsentativität und Beteiligung ermöglichen im Wesentlichen keine oder nur sehr eingeschränkt strukturelle Veränderungen und Reformen. Das betrifft trotz aller Gerechtigkeitsrhetorik auch das vergangene Jahrzehnt links-progressiver Regierungsführung und vor allem das größte und historische Versäumnis lateinamerikanischer Politik in der Bekämpfung der Ungleichheit: die Steuersysteme und -politik, die ihren äußerst regressiven, Reichtum konzentrierenden und Ungleichheit reproduzierenden Charakter beibehalten haben. Deshalb leidet die für all ihre positiven Effekte in den vergangenen Jahren gefeierte Politik gegen Ungleichheit immer noch an der gleichen fundamentalen Einschränkung wie in den Jahrzehnten zuvor: Ihre Maßnahmen sind eher Notlageninstrumente, konzipiert in einem Verständnis von Krisenbewältigung, und werden ausschließlich von der Ausgabenseite her gedacht – ausgerichtet an den strukturell limitierten und von Konjunkturen abhängigen Haushalten. Zwar bieten in fast allen größeren Ländern mittlerweile die Verfassungen einen progressiven Rechtsrahmen, der eine Definition gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsziele auf der Grundlage der verschiedenen politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und Umweltrechte ermöglicht und, in einem gewissen Umfang, auch vorschreibt. Doch die haushaltspolitische Absicherung und konsequente Verschränkung der unterschiedlichen konkreten Politikfelder und -strategien für eine Verwirklichung zentraler Rechte von Bevölkerungsmehrheiten gehören zu den noch ungelösten Herausforderungen der meisten Demokratien des Kontinents.

Klare Vorstellung von nachhaltigen Verbesserungen

Die Forderungen einer Mehrheit von Bürger(inne)n nach größerer ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe und besseren institutionellen Garantien der verschiedenen Rechte hinterfragen mittlerweile auch das „Wie“ der Entwicklung. Nicht nur die Gemeinschaften in den stärker abgelegenen Regionen und Territorien, auch die Bewohner(innen) der unaufhörlich wachsenden Ballungsräume haben deutliche Vorstellungen davon, welche Faktoren eine nachhaltige Verbesserung ihrer Lebensqualität beeinflussen und welche Rolle dabei der Staat und seine Institutionen spielen sollen. Ob Konzepte wie das „Buen Vivir“, das „gute Leben“, in seiner Reinform oder seinen unterschiedlichen Ausformungen das politische Leitmotiv für die zahlreichen gesellschaftlichen Aufbrüche in den unterschiedlichen Kontexten stellen werden, ist noch offen (vgl. S. 100 ff.). Die jüngsten Proteste haben jedoch gezeigt, dass soziale und politische Teilhabe untrennbar miteinander verknüpft sind und ganz oben auf der politischen Agenda der Bürger(innen) des Kontinents stehen. In den meisten Ländern Lateinamerikas hat das Modell des bevormundenden und bestenfalls Brosamen verteilenden Regierens jedenfalls ausgedient.

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In Zusammenarbeit zwischen oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation und der Heinrich-Böll-Stiftung entstand das Heft „Lateinamerika – Zwischen Ressourcenausbeutung und ‚gutem Leben‘“ in der Reihe „politische ökologie“ des oekom verlages. (pö 134, September 2013) Spannende Artikel bieten der Leserschaft ein Kaleidoskop an Informationen. Neoextraktivismus und Lithiumboom werden ebenso beleuchtet wie organisierte Kriminalität und die Fallgruben des Freihandels. Leserinnen und Leser erfahren unter anderem, wie süß die Südfrüchte aus Zentralamerika wirklich sind, wie Windenergie Zwietracht säen kann und was Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele in Brasilien mit der Verschlechterung von Lebensbedingungen der Bevölkerung zu tun haben.