
Vorspeise
Kaum haben CDU und Grüne in Hessen den bemerkenswerten Mut, ihre erfolglos aufgeschlagenen Lager zu verlassen, beteuern sie selbst die Banalität ihres Tuns: Es existiere kein „schwarz-grünes Projekt“, versichert Volker Bouffier. Und auch Tarek Al-Wazir nimmt am Verhandlungstisch demonstrativ mit einer Miene Platz, als sei bei der Tischreservierung im Lokal was schief gelaufen, aber schnell mal eine Kleinigkeit essen kann man ja auch mit fremden Leuten.
In Berlin ist die Annäherung offenbar noch komplizierter, hier sollen es wiederum geteilte lukullische Leidenschaften sein, die freilich erst nach vier Jahren gemeinsamer Abende beim Szene-Italiener auch Gemütlichkeit am Kabinettstisch aufkommen lassen können. Jens Spahn und Omid Nouripour gründen die erklärtermaßen auf langjährige politische Gewichtszunahme angelegte "Pizza-Connection 2.0". Lockerungsübungen mit der Teigrührmaschine, wo ein Panino im Stehen und eine Verabredung beim Espresso angezeigter erschienen.
Hauptspeise
Nun, beide Herangehensweisen an vermeintlich nur politisch-arithmetische Erfordernisse sind ein bisschen unterkomplex, aber für jetzt im Lagerkoller postende Rot-Grün-Anhänger („Nie wieder wähle ich Grün!“, „Ihr werft Euch der CDU vor die Füße.“ „Machtgeile Verräter“) und für eine streitentwöhnte und inhaltsscheue CDU-Funktionsträgerschaft („Hauptsache, wir regieren weiter.“) vermutlich noch am leichtesten verdaulich.
A propos Pizza: Tatsächlich sind schwarz-grüne Bündnisse so etwas wie eine deutsche Variante des italienischen "compromesso storico". Blickt man in die Genese christlich-demokratischer Parteien in Europa, findet man in der Muttermilch die Vorstellung von Personen, deren Wesen eine Individual- und eine Sozialnatur haben. Menschen sind soziale Wesen, keine Ego-Shooter, aber auch keine kollektiven Teilelemente. Das grenzt Christdemokraten im Menschenbild von Liberalen und Sozialisten gleichermaßen ab und muss bei geneigtem Blick als Wasserzeichen in jedem ihrer politischen Programme erkennbar bleiben. Die Idee vom Gemeinwohl, das alle gesellschaftlichen Kräfte ihren Eigeninteressen voranzustellen und überzuordnen haben, bot und bietet dann auf sozialer Ebene eine Alternative zum ziellosen Klassenkampf, aber natürlich auch zum apolitischen und asozialen Kapitalismus. Seit gut 150 Jahren hat sich dieser Wertekompass stets als geländegängig erwiesen, auch wenn die Akteure der C-Parteien hin und wieder stolperten oder sich blind im Gelände verirrten. Aber Subsidiarität und Solidarität werden nun auf europäischer Ebene wieder als logisch aufeinander bezogene Schlüsselprinzipien wiederentdeckt, erstere nach langem Zögern von der Kommission, letztere inzwischen sogar von der CDU.
Was der katholischen Soziallehre im Wertekanon eigenartigerweise originär fehlte, war die Dimension von Nachhaltigkeit, generationen-übergreifender Gerechtigkeit und der ökologischen Umgreifung sozialer Werte. Hier kommt nun in den 70er Jahren die Ökologiebewegung ins Spiel, die einerseits breiter, andererseits schmaler als die spätere Partei der Grünen war, und deren Würdigung Papst Benedikt XVI. im Jahr 2011 im Bundestag zu einem charmanten momentanen Flirt mit den Grünen verleitete, welche die naturrechtliche Anbahnung seiner Sympathie freilich nicht recht nachvollziehen konnten oder wollten.
Die Grünen erarbeiteten dennoch inzwischen für sich und für alle neben der Austherapierung von Maoismus und staatlich-doktrinärem Sozialismus auch die postindustrielle und postindividualistische Ergänzungslieferung zur christlichen Soziallehre. Die geistig erlahmte Union hat versäumt, sie rechtzeitig und regelmäßig in den eigenen programmatischen Sammelordner zu heften. Die Grünen haben sich daher bisweilen verzettelt. Manche wollen jetzt gar in einen geistig völlig unsortierten Stapel mit dumpf-dichotomischen Gewerkschaftsflug blättern, hochverdienstvollen Emanzipations- und Integrationskonzepten, aber auch den letzten vergilbten SED-Kaderakten gepackt werden. Jeder Windzug tut hier gut.
Hinzu kommt, dass die Grünen in anstrengenden programmatischen Dehnübungen das ursprünglich der Forstwirtschaft entlehnte Nachhaltigkeitsprinzip aufs Beste in der Energiepolitik, aber auch der Haushalts- und Finanzpolitik eingepflanzt haben.
Nachspeise
Gerne und bequem verweisen Akteure und Kommentatoren - auch und gerade wieder nach der Bundestagswahl - auf die größeren Schnittmengen, die zwischen SPD und Grünen (auf vielen Feldern auch mit der Linken) bestehen. Tatsächlich erklärt sich mit diesen Schnittmengen aber nicht nur das Wohlbefinden von Parteimitgliedern in solchen Konstellationen, sondern auch die abnehmende Mehrheitsfähigkeit und gesellschaftliche Prägekraft dieser Wahlverwandtschaften: Je größer die Schnittmengen, umso mehr umwerben zwei oder drei Parteien dieselben Wähler. Und umso mehr müssen sie sich gegenseitig Themenkompetenz abstreiten, wie man im Wahlkampf in der Sozial- und Finanzpolitik schön, bzw. unschön beobachten konnte.
In Koalitionen zwischen Union und Grünen können sich beide Parteien – eingeübter wechselseitiger Respekt vorausgesetzt – politische Erfolge viel leichter gönnen und gleichzeitig in ihrer breiten Vereinigungsmenge Wesenskerne ihrer Programmatik bewahren und schärfen. Beide Parteien können sich helfen, ihre jeweiligen gesellschaftsprägenden Grundwerte einander zuzuwenden. Die CDU ist keine versehentlich zu groß geratene FDP, die Grünen sind keine ewigjunge Lebensstilvariante der SPD.
Digestiv
Zwei Hinweise an dieser Stelle gegen die von sozialdemokratisch inspirierten Kommentatoren ventilierten Parolen: Die Jamaika-Koalition im Saarland ist weder an den Grünen, noch an der CDU gescheitert, sondern an der an der Saar besonders überflüssigen FDP, die die CDU-Ministerpräsidentin am Dreikönigstag berechtigterweise vom Hof jagte.
Die schwarz-grüne Koalition in Hamburg ist an der plebiszitären Desavouierung der grünen Bildungspolitik und am Ausscheiden der Ankerpunkte des Vertrauens auf CDU-Seite gescheitert – wobei die Ermüdung des Lotsen und CDU-Landesvorsitzenden Michael Freytag weitaus folgenreicher war, als der Abgang des Kapitäns und ersten Bürgermeisters Ole von Beust.
Espresso
Die Pizza ist für all dieses natürlich ein ganz lehrreiches Lebensmittel: Sie bietet eine runde, bezahlbare und nahrhafte Grundlage und darauf ausreichend, trennscharf und mehrheitsgemäß Platz für sektorale Wunschbeläge aller Beteiligten. Verglichen mit dem trotz wochenlangem Umrühren eingebrannten und jahrelang schwer im Magen liegenden schwarz-roten Eintopf ist die Pizza Nero/Verde auch im Handumdrehen heiß aufgetischt. Dabei muss es nicht den Köchen gut gehen, sondern den Gästen.