
Das Land ist im Wartestand. Aber wenn man sich so umhört, findet sich auch unter den politisch Interessierten kaum jemand, der eine Regierung vermisst. Irgendwie scheint es recht und schlecht auch ohne zu gehen. Nach der Lektüre des Koalitionsvertrages sind jegliche Erwartungen an die nächsten vier Jahre Regierungsarbeit, sollte es sie angesichts der Kräfteverhältnisse im Parlament je gegeben haben, gedämpft. Aber was soll von einer künftigen Großen Koalition gehalten werden, wenn ihre Verhandlungsführenden nach Abschluss des Koalitionsvertrages vor die Presse treten, und die eine sagt, das wäre ein Vertrag „für Deutschland“ und der andere behauptet, er wäre für „die kleinen und fleißigen Leute“ gemacht. In welchem Jahrhundert sind wir?
Sind die Kriegskredite gebilligt, hat der Kaiser schon gesagt, dass er keine Parteien kennt, nur Deutsche? Ich stelle mir bei kleinen und fleißigen Leuten Ufa-Filme in Schwarz-Weiß vor, in denen schlecht ausgeleuchtete Menschen, gebückt von der Feldarbeit, mit Holzpantinen und Schürzen bekleidet abends bei Nebel Holz aus dem Wald holen. Und der Großgrundbesitzer verschenkt zu Weihnachten eine Zigarre an den besten Knecht. Und was ist eigentlich das Pendant zu den „kleinen und fleißigen Leuten“?
Ausladende und faule? Arbeitslose? An den Hartz-IV-Regelungen, bei denen für die Betroffenen andere Rechte und Gesetze gelten, die mit Artikel 1 des Grundgesetzes nicht mehr viel zu tun haben, ändert sich laut Koalitionsvertrag jedenfalls nichts. Oder ist das Gegenteil von klein und fleißig immer noch der dicke Mann im Dreireiher und mit Zylinder, der auf dem Geldsack sitzt und eine Zigarre raucht? Sind es große Leute, die den kleinen sagen, dass sie von da unten objektiv keinen Überblick haben können und lieber die Experten ranlassen sollen, die das Problem mit den Finanzen in Europa schon klären werden? Und das der Überwachung gleich mit? Aber die kleinen und fleißigen Leute haben ja sowieso nichts zu verbergen. Tritratrallala.
Tu-nix und Kümmerer
Allerdings ist der Begriff der „kleinen und fleißigen Leute“ nicht ganz neu. Sigmar Gabriel hat ihn vor ziemlich genau einem Jahr schon einmal verwendet, auf einem Parteitag und in Vorbereitung auf das Wahljahr. Damals ging es noch gegen die „Tu-nix-Koalition“, der die „Kümmerer-Partei“ ein entsprechendes Programm zur Bekämpfung der Armut und das Eintreten für faire Löhne entgegensetzen wollte. Im Koalitionsvertrag gibt es auf 185 Seiten auch jede Menge Absichtserklärungen. Aber was ist ein heute festgelegter Mindestlohn von 8,50 Euro in vier Jahren, wenn er dann endlich flächendeckend eingeführt ist, noch wert, die Preise für Miete, Strom und Lebensmittel werden ganz sicher nicht stagnieren? Was ist mit der Besteuerung von Wohlhabenden, eine zentrale Forderung der SPD? Fehlanzeige? Energiewende? In der Drehung ausgebremst. Bekämpfung der Kinderarmut? Kommt gar nicht vor. Integration? Ein bisschen. Gleichstellung? Hinter den „verbindlichen Zielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils in Aufsichtsrat, Vorstand und in den obersten Management-Ebenen“ verbirgt sich doch wieder nur eine Absichtserklärung. Dafür soll der Helene-Weber-Preis für Frauen in der Politik weiter vergeben werden. Kennen Sie nicht? Egal.
Alte Forderungen – neu gescannt
Wenn die SPD-Frauen schon nicht die Herdprämie verhindern konnten, soll doch wenigstens das Feld der Symbolik und der Repräsentanz gut bestellt sein. Dafür finden sich dann im Koalitionsvertrag Aussagen wie die, dass das Archiv der Deutschen Frauenbewegung digitalisiert werden soll, unter besonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Frauenbewegung von 1989. So löblich das ist, aber es hört sich wie ein billiger Kompromiss an. Wenn die Geschlechtergerechtigkeit an der Wirtschaft scheitert, scannen wir wenigstens noch die Plakate und Flugblätter des Unabhängigen Frauenverbandes, auf denen schon dieselben Forderungen standen, die wir 25 Jahre später immer noch haben. Und es ist nicht frei von Bitternis, wenn man bedenkt, dass ein wichtiger Teil der ostdeutschen Frauenbewegung, das Archiv Grauzone, im Robert-Havemann-Archiv abgelegt ist. Dessen Existenz ist massiv bedroht, weil die Stiftung Aufarbeitung, wie viele andere Stiftungen, aufgrund der Zinsentwicklung nur noch die Hälfte der Fördermittel zur Verfügung stellen kann, eine Folge der europäischen Finanzpolitik. Zwar gibt es zur Förderung der Aufarbeitung der deutschen Diktaturen Wünsche und Absichten im Koalitionsvertrag, aber ob sie eingelöst werden können, bevor man 25 Jahre nach dem Mauerfall vor einem Scherbenhaufen steht, bleibt fraglich.
Und was ist mit dem Thema Datenschutz? Nachdem herausgekommen war, dass auch das Handy der Kanzlerin unter Überwachung der NSA und anderer Geheimdienste stand, hatte es mal kurzzeitig Aufregung im Regierungslager um die weltweite Überwachung gegeben. Was davon im Koalitionsvertrag hängengeblieben ist, ist mehr als dürftig. Zu recht wurde der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel dafür kritisiert, dass er die Initiatoren des internationalen Schriftstellermanifestes für die Verteidigung der Demokratie im digitalen Zeitalter medial umarmte, dabei hat die SPD, speziell ihr Vorsitzender gar nichts dagegen, dass im Koalitionsvertrag die Vorratsdatenspeicherung fröhliche Auferstehung feiert, die SPD hat es sogar auf einem Parteitag beschlossen. Die VDS zwingt Provider, das Nutzungsverhalten jedes einzelnen Kunden anlasslos über Monate festzuhalten und bei Bedarf dem Staat zur Verfügung zu stellen.
In ein paar Tagen werden wir wissen, wie die Mitglieder der SPD entschieden haben. Gegner der Großen Koalition in ihren Reihen sind nicht zu beneiden. Sie können nur zwischen Scylla und Charybdis wählen. Denn wird es ein Votum gegen die Große Koalition, schaffen die Mitglieder ihre Führung gleich mit ab. Eine Neuwahl würde der Partei sicher nicht mehr Stimmen bringen.
Und was machen „die kleinen und fleißigen Leute“, tritratrallala? Sie kochen und backen, sie trennen den Müll und kaufen Weihnachtsgeschenke. Nur über die Regierung können sie nicht schimpfen, weil es keine gibt.