Sommerakademie 2013: Technik, Zeit und Lebenswelt

Lesedauer: 11 Minuten

Bei ihrer Sommerakademie debattierte die Grüne Akademie, wie die neuen Technologien Individuen und Gesellschaft verändern und herausfordern. Aus ziemlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten wir die Ambivalenzen des digital change: philosophisch, social-media-praktisch, ingenieurswissenschaftlich, ethisch und politisch. Hier der Bericht mit Zusammenfassungen der einzelnen Panels

 

1. Technik, Zeit, Lebenswelt – Eine Hinführung zum Thema

Zum Auftakt führte der an der Universität Hamburg lehrende Philosoph Thomas Schramme ins Thema ein. Er fokussiert zunächst auf den Begriff der Technik, den er als Kontrast zur Natur und dem Natürlichen entwarf.

Technik wird demnach als Chiffre eines instrumentellen Weltzugangs gedacht. Technischen Erzeugnissen qua Definition vom Menschen ein bestimmter Zweck auferlegt.  Dem gegenüber steht der Selbstzweck des Natürlichen. Zwar kann das Material eines technischen Produkts aus der Natur entnommen sein, seine Herstellung setzt aber menschliche Absicht notwendig voraus. Die Natur selbst kennt keine bewusst gesetzten Ziele. Die „Lösungen“ der Natur seien Zufallsprodukte, sie folgten keinem eigentlichen Zweck. Gerade diese Zweckfreiheit begreift Thomas Schramme als den spezifischen Wert des Natürlichen.

Schramme schlägt vor, das Unbehagen, das technische Entwicklung bei vielen Menschen auslöst, in zwei Kategorien zu unterteilen: Zum einen die Technisierung der Natur. Als Beispiele nennt Schramme u.a. die moderne Landwirtschaft, Kommunikationsmedien und synthetische Biologie. Andererseits bezieht sich diese Unbehagen auf die Unterwerfung sämtlicher Lebensbereiche unter den Imperativ des Zwecks, z.B. durch Ökonomiesierung von Bildung oder das Idealbild des „unternehmerischen Selbst“.

Technik sei kein Wert an sich, resümiert Thomas Schramme, sondern nur ein Mittel zum Zweck.  Über diese Zwecke müssten sich Gesellschaft und Individuen verständigen. Im letzten Schritt handele es sich um die individuelle und gesellschaftliche Frage, „wie wir leben wollen.“

2. Das gedoppelte Ich

Christoph Kappes näherte sich dem Thema soziologisch. Er betonte, auf der Suche nach Phänomenen zu sein und sich nicht auf einen normativen Standpunkt festzulegen. Für ihn spiegeln soziale Netzwerke den Urzustand einer vernetzten Gesellschaft wieder, in dem der Mensch in ein soziales Geflecht aus Vertrauen und Verbindlichkeiten eingebunden ist. Das Potenzial von Facebook besteht in der Möglichkeit der Vernetzung mit Kontakten von Kontakten, erschöpft sich jedoch nicht in der Vernetzung. Für Kappes ist Kommunikation ein Prozess der Selbstfindung durch Interaktion.

Diese Selbstfindung äußere sich z.B. im Shitstorm. Wenn Wellen der Empörung über bestimmten Personen oder Institutionen brechen, entsteht für Kappes ein „gesunder psychischer Zustand“ der Demokratie. Der Shitstorm führt zur Behandlung sozialer Fragen oder löst gar das Problem des Misstrauens gegenüber Institutionen, indem soziale Normen neu ausgehandelt werden. Wie genau diese heilende Funktion des Shitstorms eintreten soll, bleibt allerdings unklar. Er entsteht, so Kappes, nicht nur aus berechtigter Empörung. Auch Uninformiertheit oder mangelnde intellektuelle Reflexion können einen Shitstorm auslösen. Welcher Faktor der entscheidende ist, lässt Christoph Kappes offen

Carolin Wiedemann wirft ebenfalls einen sozilogischen Blick auf die wahrscheinlich wichtigste Manifestation des Web 2.0: das Soziale Netzwerk Facebook. Schritt für Schritt erläutert sie, wie UserInnen sich durch einen Prozess des Self-Rending in neue Formen der Sichtbarkeit einordnen. Die Freiheit der Selbstdarstellung ist jedoch durch Branding-Vorgaben  beschränkt, welche auf Profilen nur bestimmte Informationen zulassen.

In neuen Möglichkeiten der Vernetzung sieht Wiedemann zwei grundlegende Tendenzen. Facebook bewege sich zwischen der Gefahr eine Kontrollgesellschaft und Hoffnungen auf frische Formen der Politisierung in neuen Kollektiven.

Die Kontrollgesellschaft (Deleuze, 1991) wirkt durch unmittelbare Kommunikation im Alltag in Form ständigen Abtastens, Steuerns und Kontrollierens. Das Soziale wird ökonomisiert, die Gesellschaft entlang neoliberaler Ideale umgebaut. Viel direktere Formen der Kontrolle treten auf, wenn über jede/n UserIn Daten gesammelt werden und ein digitaler Schatten entsteht.

Zeitgleich konstituieren sich auf Facebook neue politische Kollektive. Schicksale aus der ganzen Welt und aus anderen sozialen Kontexten sind über Facebook leichter erfahrbar. Ein schrumpfendes Raumgefühl öffnet die Fähigkeit zur erweiterten Empathie. Im besten Fall entstehen gar Habermasianische Debatten. Damit diese Utopie wahr wird und nicht in einer gemanagten Demokratie mündet, müssen die Kommunikationsinfrastrukturen nach den Vorstellungen der Amsterdamer Network Cultures in den Händen demokratischer Anbieter liegen. Die Macht am „back-end“ darf nicht gegen die kommunikative Macht der User ausgespielt werden.

Widerspruch gegen diesen Lösungsansatz der Regulierung kam von Jeanette Hoffmann. Wie sollen Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden, wenn wir für ihre Dienste nicht zur Kasse gebeten werden? Im Übrigen war die Dezentralisierung in der Telekommunikationsindustrie gewollt und eine staatliche Infrastruktur hätte ebenfalls Nachteile. Grundsätzlich ist eine europäische Regulierung US-amerikanischer content service provider wie Facebook schwierig, weil deren Server unter US-amerikanische Rechtsetzungskompetenzen fallen.

Die Monopolstellung von Facebook als Problem diskutiert. Für Kappes ist dieses Monopol das Resultat von Netzwerkeffekten. Falls Monopole unter demokratische Kontrolle gestellt werden, bleibt die Frage, wer die Überwacher überwacht. Letztendlich hat jedes zentralisierte System einen angreifbaren Kern. Eine logische Konsequenz ist für Kappes eine dezentrale verteilte Architektur. Dem Staat kommt dabei nur die Rolle zu, durch öffentliche Programme eine solche Infrastruktur zu fördern und das Innovationstempo anzukurbeln. Da es sich beim Internet um ein globales Medium handelt, ist eine solche Förderung auch nur global möglich.

3. I'm a cyborg, but that's okay?

(Download der Powerpoint-Präsentation als PDF)

Thomas Christaller gab eine kurze Einführung in die Welt der Cyborgs. Er machte uns mit den unterschiedlichen Ausformulierungen dieser, aus künstlerischer Phantasie entsprungenen, Mischwesen bekannt; angefangen bei Pandora, dem von Hephaistos geschmiedeten künstlichen Weib, über Golem und Dr. Frankensteins Kreatur bis hin zu Alraune, Terminator und Co. Dabei grenzte er zunächst das Arbeitsfeld des Ingenieurs, der Artefakte erfindet, von dem des Naturwissenschaftlers ab, der Gegebenes untersucht. Aus Sicht des Ingenieurs führt er uns die Eigenheiten und Vorgehensweisen dieses Erfindens vor Augen. Dieses funktioniere nach einem vorher konstruierten Plan im Unterschied zum selbstständigen Wachstumsvorgang der Natur. Das Wachstum sei für die Ingenieure nämlich bis heute weitgehend ein Rätsel. Daher bleibe das Schicksal der Cyborgs vorerst ein kinderloses und kurzes Leben. Kinder wachsen und eine Leistungssteigerung beispielsweise durch Doping wird mit dem Preis eines verkürzten Lebens bezahlt. Christallers Plädoyer: Man solle die Technik nur als Ersatz verloren gegangener Fähigkeiten einsetzten und nicht zur Leistungssteigerung menschlicher Fähigkeiten missbrauchen. Es sei Hybris den Tod besiegen zu wollen.

Auch nach mehrmaligem Nachfragen hütet sich der erfahrene Ingenieur vor Zukunftsprognosen. Doch weist er uns nach einem kurzen Exkurs in das bisher technisch Mögliche (Handprothesen, Körperimplantate etc.) darauf hin, dass der Chip im Hirn wohl noch lange ein Traum bleiben wird, da dieses nicht mit Hilfe eines Software/Hardware Prinzips funktioniere, sondern selbst einem ständigen Wandel unterliege. Denken verändert unsere Hirnstruktur substantiell und bietet daher vorerst keine Anschlussmöglichkeit für eine determinierte Technik.

Mit Fragen nach Selbstbildern, Glück und dem gelingenden Leben nahm der Beitrag des Philosophen Oliver Müller bildhauerische Eingriffe an unserer Hirnsubstanz vor. Die private Nutzung der Neurotechnologien (Neuro-Enhancement) bildete den Ausgangspunkt seiner Befragung. Er stellte fest, dass dem Wunsch nach einer technologische Optimierung des Menschen ein bestimmter Begriff von Selbst voraus gehe. Dieser betrachte das Selbst als defizitär und reduziere es, zumindest zum Teil, auf neurophysiologischen Prozesse. Setze man ferner Glück als Ziel der Lebensgestaltung voraus und verorte dieses in einem Spannungsfeld zwischen Selbstverfügung und der Akzeptanz von Kontingenz, einem Selbstschöpfungsimperativ und Dankbarkeit für das Gegebene, dann müsse man sich fragen, ob in der Suggestion der technischen Herstellbarkeit von Glück nicht auch die Gefahr der Selbsttäuschung stecke und wir mit diesen leistungsgesellschaftlichen Imperativen Gefahr laufen uns selbst zu instrumentalisieren.

Ungeachtet dessen sieht Müller Verbote in Bezug auf des Neuro-Enhancement derzeit als unbegründet und unterstellt es weitgehend "der Sorge um sich" und damit dem Individuum. Mechanismen des Lernens, Glück und die Frage, ob man dem Tod den Kampf ansagen sollte oder nicht, bildeten die Koordinaten der anschließenden Diskussion, die weitgehend auf Grundlage persönlicher Lebenserfahrung geführt wurde. Ein letztes Bild Diskussion zeichnete Christaller mit der Feststellung, dass das Leben - zum Glück - nicht als Wettbewerb organisiert sei.

Wenn nicht instrumentelles Denken und Zweckrationalismus, sondern vor allem künstlerische Phantasie die Geburtsstätte der Androiden und Cyborgs ist an welchem sich wiederum das Schaffen des Ingenieurs orientiert, dann wäre es sinnvoll diese Dimension mit in den Diskurs aufzunehmen. Die Diskussion unterwarf sich meiner Meinung nach zu sehr einer, von der Technik geschaffenen, faktischen Realität, in dem sie vor allem Machbarkeiten und Folgen in den Blick nahm.

4. Den Tiger reiten?

Der Politikwissenschaftler Thomas Saretzki der an der Leuphana Universität Lüneburg Politische Theorie und Politikfeldanalyse lehrt, strukturierte seinen Vortrag entlang der drei Leitfragen: 1. Kann man den Tiger reiten? 2. Wer [oder was] ist das Subjekt des Fortschritts? 3. Wie steuerbar ist der technische Wandel?

Zu1: Der Metapher des Tigers, der geritten wird, verweist auf die Idee, dass der Mensch die Technik zähmen muss, soll sie ihm nicht gefährlich werden. Diesem Bild liegt die Vorstellung eines bestimmten Techniktyps zugrunde: Wenn wir von der Technik als Tiger sprechen, denken wir intuitiv an Großtechniken (z.B. Kernenergie) und nicht etwa an Handwerkstechniken (z.B. die Fertigkeiten eines Uhrmachers). Wenn wir über die Zähmung des Tigers nachdenken – also die politische Steuerung des technischen Wandels -, müssen wir zunächst klären, ob wir es mit Agrar- oder Medizintechnik, mit Energie-, Informations- oder Militärtechnik zu tun haben. Jedes dieser Technikfelder ist mit diversen Politikfeldern verknüpft. Ob und wie wir den Tiger reiten können, hängt also auch vom Technikfeld ab. 

Auf die Gesellschaft wirkt Technik in zweierlei Weise zurück: sie eröffnet neue Freiheiten, produziert aber auch Handlungszwänge. Gleichzeitig beeinflussen Politik, Gesellschaft und Individuum den Gang der technischen Entwicklung – Technik und Gesellschaft stehen also in einem Wechselverhältnis.

Zu 2: Als Subjekte des technischen Fortschritts kommen in Frage: der politische Mensch als Bürger (Citoyen), der Mensch als Handwerker (homo faber) oder die Technik selbst. Insofern wir davon ausgehen, dass die Politik hier Entscheidungsspielräume besitzt und – bis zu einem gewissen Grad – die Richtung des Fortschritts beeinflussen kann, empfiehlt Saratzki, von Subjekten zu sprechen bzw. einer „Multiakteurskonstellation“.

Zu 3: Ob die Richtung des technischen Fortschritts durch die Bürgerschaft beeinflusst werden kann, hängt vor allem davon ab, was eigentlich den Fortschritt steuert. Dazu existieren unterschiedliche Thesen, z.B.: a) Technischer Fortschritt folgt einer Eigenlogik oder wird b) primär von den Gesetzen der ökonomische Verwertung getrieben. Nur wenn wir annehmen, dass c) Politik eine Rolle spielt, stellt sich die Frage, wie eine Steuerung am besten gelingen kann, etwa durch Subventionen für bestimmte Technologien oder das Setzen eines rechtlichen Rahmens.

Jeanette Hofmann vom Wissenschaftszentrum Berlin plädiert dafür, Technik als einen Teil der Gesellschaft zu verstehen. Auch die Technikentwicklung ist demnach ein sozialer Prozess; in jede Technologie ist eine gesellschaftliche Handlungsanweisung eingeschrieben. Als Beispiel nennt Hofmann u.a. die schweren Gewichte an Hotelschlüsseln, die verhindern sollen, dass die Gäste den Schlüssel mitnehmen, wenn sie das Hotel verlassen.

Allerdings sind bei etlichen Technologien diese Normen nicht fix sondern veränderbar. So wurde das Internet im Laufe seiner Entwicklung mehrmals radikal umgedeutet, während die Technik als solche sich kaum veränderte: Am Anfang stand Idee, Rechenressourcen auf dem gesamten Globus zu verteilen, so dass Großrechner von jedem beliebigen Ort aus genutzt werden könnten. Als nächstes dachte man sich das Internet als „kollaboratives Wissensnetzwerk“, das in den 1990er Jahren von Erzählungen des „World Wide Web“ und der „Datenautobahn“ abgelöst wurde. Die aktuellen Chiffren heißen Web 2.0 und Social Media. Möglicherweise, so Hofmann, markiere das Jahr 2013 bzw. der NSA-Skandal einen neuen Wendepunkt, an dem sich eine offene Kommunikationsform in ihr Gegenteil verkehrt. Hofmann hält es für sinnlos, von Techniksteuerung zu sprechen. Technologien werden kollektiv genutzt, das Neue entsteht aus der Summe aggregierter Einzelhandlungen. Im letzten Schritt entscheidet jede/r Nutzer/in wie er / sie eine Technik nutzt. Der Steuerungsbegriff suggeriere eine Steuerungsmacht, die so nicht existiere, resümiert Hofmann.

Der Referent für Wissenschafts- und Forschungspolitik und Technikfolgeabschätzung der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen Johannes Kode schlägt vor, „technischen Wandel“ als Erkenntnisse und Innovationen zu verstehen, die Einfluss auf unsere Lebenswelt nehmen. Kode nennt diesen Wandel ambivalent und mehrgesichtig. Einerseits habe er zur Misere der Moderne beigetragen, andererseits ermögliche er Selbstreflexion. Kode betont, dass der Wandel einen Pfad eröffnet, um zu einer nachhaltigeren Lebensweise zu kommen, und die gesellschaftspolitischen Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Diese optimistische Perspektive setzt voraus, die Technologien, die wir heute nutzen, verändern zu können. Daran schließt sich die Frage der Steuerung an. Diese schließt für Kode Governance mit ein, geht also über den Staat hinaus. Wenn wir technischen Wandel positiv fassen, lässt sich auch über Fortschritt, und aus grüner Sicht, über grünen Fortschritt sprechen. So kann eine positive Idee des Wandels definiert werden.

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Dieser Bericht entstand kollaborativ dank der Zuarbeit der teilnehmenden Stipendiat/Innen!
Ein DANKESCHÖN allen Mitwirkenden.