Lauren Wolfe: „Sexualisierte Gewalt ist furchtbar effektiv“

Lauren, auf Ihrer Webseite listen Sie den syrischen Bürgerkrieg als einen der Konflikte auf, den die Medien ignorieren. Seit bald drei Jahren hört man aber doch fast täglich von Syrien.

Das stimmt. Wenn es aber um Frauen geht, wird der syrische Bürgerkrieg weitgehend ignoriert. Im Vergleich zu anderen Aspekten des Krieges interessieren sich Medien nicht dafür, was mit Frauen passiert. Meist geht es um Waffen, um Truppenbewegungen oder politische Verhandlungen – um sehr männliche Themen also. Die Geschichte der Folter von Frauen in Kriegen bleibt meist unerzählt.

Zu welchem Zweck wird sexualisierte Gewalt in Syrien eingesetzt?

Sie zerreißt Familien, Gemeinschaften, sogar ganze Gesellschaften. Es ist eine sehr einfache Art, nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer zu demoralisieren. Sexualisierte Gewalt ist furchtbar effektiv. Wir haben zum Beispiel Fälle dokumentiert, in denen Regierungstruppen in Häuser eindringen und nach den Männern suchen. Sie vergewaltigen die Frauen, um die Männer herauszulocken.

Mit dem Projekt „Women under Siege“ dokumentieren Sie sexualisierte Gewalt in Kriegen. Sind in Syrien ausschließlich Frauen und Mädchen betroffen?

Wir tragen systematisch Berichte von NGOs, Medien, den Vereinten Nationen und eigene Rechercheergebnisse zusammen. Zwanzig Prozent davon betreffen Männer. Meist handelt es sich um sexualisierte Gewalt in Haft, um die Männer zu brechen. Bei Frauen dagegen lassen sich drei Arten von sexualisierter Gewalt beobachten: bei Hausdurchsuchungen, an Checkpoints, wo Frauen oft aus den Autos herausgezerrt werden, und ebenfalls in Haft. Hinzu kommen Berichte über sogenannte Vergewaltigungshäuser. Das sind Privathäuser, in denen Frauen und Mädchen festgehalten und gefoltert werden.

Was können Sie über die Täter sagen?

Die Berichte, die wir sammeln, sind großenteils keine verifizierten Berichte. Aber unserem Material zufolge wird sexualisierte Gewalt gegen Frauen, Männer und Kinder in 85 Prozent der Fälle durch Regierungstruppen oder Schabiha verübt. Schabiha sind die regierungstreuen zivilen Milizen. Betrachtet man nur die Gewalt gegen Männer, sind es sogar über 90 Prozent.

Wie erklären Sie sich das?

Eine Erklärung könnte sein, dass die Opposition die Gewalttaten besser publik macht und wir ein verzerrtes Bild haben. Allerdings hat das US Institute of Peace in einer Studie festgestellt, dass sexualisierte Gewalt in den meisten Konflikten hauptsächlich von der Regierungsseite verübt wird. Es ist also gut möglich, dass unser Bild stimmt. Auch wenn der Unterschied vielleicht nicht so groß ist, wie es im Moment aussieht.

Sagen Sie also, dass Ihre Daten nicht unbedingt korrekt sind?

Das ist kein Ergebnis, mit dem ich zum Internationalen Strafgerichtshof gehen würde. Wir sammeln hier ein Stück und da ein Stück. Es ist ein Anfang.

Um die sexualisierte Gewalt zu dokumentieren, haben Sie eine Crowdmap entwickelt. Überlebende können auf einer Online-Landkarte von ihren Erfahrungen berichten.

Die Idee stammt von der Feministin Gloria Steinem. Sie hatte über Vergewaltigungen im Holocaust gelesen und erkannt, dass das eine unerzählte Geschichte ist. Dann kamen die ersten Berichte über Vergewaltigungen in Syrien und ich habe dieses Medienprojekt entwickelt. Die Karte hat viel Aufmerksamkeit erregt. Allerdings hatte ich ursprünglich an Crowdsourcing gedacht – wie bei der „HarassMap“ in Ägypten –, was in Syrien aber unmöglich ist. Bei unserer Karte handelt es sich um traditionelle Berichterstattung. Wir haben ein Netzwerk von Menschen, die daran arbeiten. Deshalb nenne ich es auch nicht Crowdsourcing.

Auf ihrer Karte geht es nur um Syrien. Millionen von Syrerinnen sind mittlerweile jedoch geflohen. Hört die Gewalt in den Nachbarländern denn auf?

Außerhalb Syriens leiden Syrerinnen unter einem hohen Maß an häuslicher Gewalt. Die Frustration unter Männern ist groß. Sie haben oft keine Arbeit und können ihre Familien nicht ernähren. Soweit ich das einschätzen kann, wird diese Frustration teilweise an Frauen ausgelassen. Zudem kommt es zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die in den Nachbarländern eine Unterkunft oder Arbeit suchen. Sogar bestimmte NGOs sollen Frauen ausnutzen, etwa in den Flüchtlingsgegenden in Jordanien. Wenn sie Essen zu verteilen haben, müssen die Frauen mit jemandem schlafen, um es zu bekommen. Ich konnte das aber noch nicht beweisen.

Sprechen Sie hier von Hilfsorganisationen?

Ja, westliche und lokale. UN-Kreise haben mir bestätigt, das ebenfalls gehört zu haben. Aber auch sie hatten keine Beweise. Es ist ein Gerücht.

Es gibt Konflikte, in denen es keine oder kaum sexualisierte Gewalt gibt. Kann das Ausmaß reduziert oder sexualisierte Gewalt in Konflikten komplett verhindert werden?

Ja. Nichts von alledem ist natürlich oder unvermeidlich. Studien haben gezeigt, dass sexualisierte Gewalt in bestimmten Kriegen nicht stattfindet – oft, weil es den Soldaten verboten wird. So einfach ist das. Wenn Dir aber signalisiert wird, dass du machen kannst, was du willst, dann machst du es auch. Natürlich gibt es immer Männer, die sich nicht an Verbote halten, wie damals in Abu Ghraib. Aber immerhin beteiligten sich nicht Tausende US-Soldaten an Vergewaltigungen.

Rechtfertigt sexualisierte Gewalt in Syrien eine militärische Intervention?

Die Frage ist, warum Chemiewaffen eine rote Linie darstellen, Vergewaltigungen aber nicht. Dieser Krieg wird unglaublich brutal geführt. Wir alle sollten uns für dieses Ausmaß an Gewalt schämen. Aber ich kann Ihre Frage nicht beantworten. Ich persönlich spreche mich nicht für eine Intervention aus. Wofür ich mich ausspreche, ist mehr humanitäre Hilfe. Für Frauen und Kinder werden keinerlei Ressourcen bereitgestellt, für traumatisierte Frauen gibt es nicht genug psychologische Hilfe. Wir machen nicht genug.

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Lauren Wolfe, 38, ist Journalistin und Direktorin des Projekts „Women under Siege“ (www.womenundersiegeproject.org ) des Women Media Centers in New York. 2012 stellte sie die Ergebnisse ihrer Arbeit vor den Vereinten Nationen vor. Zuvor arbeitete Wolfe für die New York Times und das Committee to Protect Journalists. Sie bloggt (laurenmwolfe.com) und twittert (@Wolfe321).