„Nun auf zu den Waffen!“ - Jahrestagung der Grünen Akademie (Tag 1)

Der Erste Weltkrieg wurde in Deutschland lange Zeit fast ausschließlich in der Perspektive einer Linie betrachtet, die unweigerlich auf den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Herrschaft hinführt. Das hatte zur Folge, dass der Krieg der Jahre 1914-18 lediglich wie ein geschichtlicher Vorläufer des Zweiten erschien, ohne seine Eigenständigkeit und Spezifik gebührend zu berücksichtigen. Der einhundertste Jahrestag seines Beginns hat nun eine Reihe von Veröffentlichungen hervorgebracht, die dem eine komplexere Sichtweise entgegenstellen. Zwei der Autoren, Ernst Piper, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und Herfried Münkler, Professor für Politische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin, diskutierten ihre wichtigsten Ergebnisse in der Grünen Akademie der Böll-Stiftung. Die Historikerin Andrea Genest moderierte das Gespräch.

In seinem Eröffnungsstatement wertete Ernst Piper die Zeit vor 1914 allgemein als eine Krisenzeit, in der die europäischen Großmächte um Hegemonie ringen. Bereits die zweite Marokkokrise im Jahre 1911 war für Piper ein Präludium des kommenden Krieges. Vorzeichen dafür findet er in der Publizistik und Kunst der Vorkriegsjahre. Der Krieg als Metapher für Reinigung und Erlösung wird nicht nur in Literatur und Malerei, sondern allgemein im Aufbegehren gegen die bürgerliche Welt und ihre Saturiertheit sichtbar. Der Krieg wird zum Symbol der Umwälzung aller Verhältnisse. Mit seinem Ausbruch kommt es zu einer Eruption des Nationalen. Die oft zitierte Kriegsbegeisterung, die einen Teil der deutschen Gesellschaft erfasst - insbesondere in den großen Städten -, begleitet eine Flut literarischer Werke, die den Krieg als Erlöser der inneren Zerrissenheit der Nation feiern. Für Piper war der Ausbruch des Krieges zwangsläufig, waren doch alle Parameter und Konstellationen für einen großen Konflikt vorhanden.

Dem widersprach Herfried Münkler entschieden. Durch kluges politisches Handeln hätte der der Krieg durchaus verhindert, zumindest aber auf eine lokale und temporäre Auseinandersetzung begrenzt werden können. Anders als heute gab es jedoch keine Institutionen oder geregelte Kommunikationswege, die der Eskalationsdynamik etwas entgegensetzen konnten. Münkler verwies in seinen Ausführungen darauf, dass es vor 1914 über alle politischen Positionen hinweg allgemein die Auffassung gab, Gewalt als Mittel der Politik habe keine Zukunft. Zudem wurden von Friedrich Engels bis hin zu liberalen Autoren wie Johann von Bloch die Konsequenzen eines Krieges im Industriezeitalter drastisch aufgezeigt. Und selbst Moltke der Ältere warnte noch in seiner Abschiedsrede im Reichstag vor einem möglichen Krieg. Der Ausbruch des Krieges war also, resümiert Münkler, alles andere als zwangsläufig. Verhängnisvoll war am Ende aber die Eskalation des Misstrauens in den Monaten vor Kriegsausbruch, die Abdankung der Politik, insbesondere auf Grund der strategischen Pläne der Generalstäbe. So bezog etwa der Schlieffenplan weder eine konkrete politische Situation in seine Überlegungen ein, noch gab es einen Spielraum für etwaige Korrekturen, nachdem die Mobilisierungsmaschinerie einmal angelaufen war. Der Schlieffenplan setzte alles auf eine Karte: Sollte Frankreich nicht in sechs Wochen besiegt sein, war der Krieg nach Schlieffens Ansicht verloren. Die Alternative lautete also: Rascher Totalsieg oder Untergang.

 

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Deutschland hatte im August 1914 weder einen weitergehenden Kriegsplan noch konkrete Kriegsziele. Deshalb setzten sofort nach Kriegsbeginn von intellektueller Seite Begründungsversuche ein. Diese waren jedoch keine politischen Diskurse, sondern vielmehr Sinnkonstruktionen. Der deutsche Idealismus gab der Kriegsbegeisterung der Mittelschichten eine wortgewaltige Stimme. Münkler verwies dabei auf die doppelte Bedeutung des Opfers, die es in der deutschen Sprache so nicht gibt: Victim vs. Sacrifice. Zum Opfer werden oder sich (selbst) opfern. Letztere Konnotation gab dem Krieg einen Sinn. Kein Opfer sollte so vergeblich sein.

In der anschließenden Diskussion wurde u.a. der Einfluss des Krieges auf das Geschlechterverhältnis thematisiert. Der Krieg hat die Frauenemanzipation sowohl beschleunigt als auch gebremst. Zwar wurden im Laufe des Krieges Frauen vermehrt in Bereichen eingesetzt, zu denen sie bis dato keinen Zugang hatten (Schwerindustrie, bestimmte Dienstleistungssektoren). Auf der anderen Seite etablierte der Krieg aber ein heroisches Männerbild, das die Geschlechter wieder trennte. Ob das allgemeine Wahlrecht für Frauen ein unmittelbares Ergebnis des Krieges war, blieb offen.

Die anfängliche Begeisterung und die große Zahl der Kriegsfreiwilligen führten zur Frage, woraus sich der Enthusiasmus speiste, der vor allem die jungen Männer der bürgerlichen Schichten ergriff. Der Erste Weltkrieg ist auch als ein Generationenkrieg zu betrachten, ein Kampf der „Jungen“ gegen die saturierten Alten, ein Jugendmythos, der Aufbruch und Erneuerung versprach. Die alte und verhasste Ordnung der Väter sollte in den „Flammen des Krieges“ (Ernst Jünger) endgültig untergehen und ein neues Zeitalter entstehen. Die bewaffnete Auseinandersetzung war in diesem Sinne für viele Freiwillige auf deutscher Seite – insbesondere für die bürgerliche Jugend - weniger eine materielle Angelegenheit als die Vorstellung einer geistigen Konfrontation, Eintrittskarte in die Welt des Heroischen.

Um den Bogen zu 2014 zu spannen, stellte sich abschließend die Frage, ob eine Konstellation wie 1914 in Europa heute denkbar ist. Münklers Antwort darauf war ein klares Nein. Zum einen gibt es heute institutionelle Mechanismen, die drohende Konflikte frühzeitig lokalisieren und im Vorfeld einhegen. Zum anderen wies Münkler darauf hin, dass in den postheroischen Gesellschaften des heutigen Europa die Bereitschaft zum kollektiven Selbstopfer kaum noch existiere.  Durch die demografische Wende ist die Anzahl der (kämpfenden) Söhne darüber hinaus begrenzt. Die europäischen Nationen haben keinen „Youth Bulge“ wie der Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn den Überschuss an jungen Männern nennt, der längere Kriegshandlungen erst möglich macht.

Auch wenn, wie beide Referenten am Ende betonten, der Erste Weltkrieg und seine wesentlichen Fragen heute „abgehandelt“ sind, lohnt sich eine Auseinandersetzung damit unter einer politischen Perspektive noch immer. Das historisch vielleicht berühmteste Beispiel dafür ist die Lektüre der bekannten Studie von Barbara Tuchmann: Die Torheiten der Regierenden durch John F. Kennedy während der Kubakrise. Nicht wenige Autoren sind davon überzeugt, dass die überlegte und maßvolle Politik Kennedys, angesichts der drohenden Eskalation, auf das warnende Beispiel der katastrophalen politischen Entscheidungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges zurückgeführt werden kann.

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Literatur:

Herfried Münkler: Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918, Rowohlt Berlin 2013

Ernst Piper: Nacht über Europa: Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Propyläen 2013