„Geschichten ohne Politik“? Literarische Texte der 1920er und -30er im Kontext der Tageszeitung
Während heutige Leser/innen literarischen Texten meist in Buchform begegnen und ihrer Rezeption eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung – mit unterschiedlichen Motiven freilich – und eine Fokussierung vorausgeht, konnte ein/e Zeitungsleser/in in den 1920er und -30er Jahren zwischen Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, Anzeigen und Illustrationen zufällig über Musils Fliegenpapier, eine Walser'sche Prosaminiatur oder „Unterm Strich“ über einen Ausschnitt aus Döblins Berlin Alexanderplatz stolpern. Neben dem Buchformat fungierten Tageszeitungen und Magazine in der Weimarer Republik als zentrale Publikationsorte. Viele inzwischen kanonisierte Texte wurden hier erstveröffentlicht und einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht, bevor sie später in Buchform erschienen. Die Art der Darbietung von literarischen Texten innerhalb der Tageszeitungen und Magazine variiert. Es gibt zum einen die Tendenz die literarischen Texte von anderen Textsorten zu isolieren, und sie als Gegengewicht zu den „ernsten“ faktischen Nachrichten zu inszenieren, indem sie unter Rubriken eingeordnet werden, die ihren apolitischen und im besten Fall ihren Kunstcharakter betonen, zum Beispiel „Geschichten ohne Politik“ oder „Unterhaltungsblatt“. Meist ist die Ordnung jedoch eher lose, so dass sich literarische Texte auf engstem Raum mit und in Nachbarschaft zu verschiedensten Text- und Bildsorten befinden. Diese Darbietung im Text-Bild-Ensemble 'Zeitung' wirkt sich sowohl auf die Texte selbst als auch auf ihre Rezeption aus. Sie stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern gehen Verbindungen ein. Im vorgestellten Promotionsprojekt sollen die „Tauschgeschäfte“ und „Verhandlungen“ (Greenblatt) zwischen dem literarischen Text und seinen Ko(n)-texten nachvollzogen und (wieder)hergestellt werden. In Einzeltextanalysen soll die Öffnung des Textes auf sein politisches soziales Umfeld hin vollzogen werden, und so die Verknüpfungen des „Kunstwerks“ mit seiner zeitgenössischen Kultur sichtbar gemacht werden. Die Frage nach der spezifischen literarischen Qualität der Texte steht hierbei ebenso zur Disposition, wie umgekehrt die nach ihrer Wirk- und Gestaltungskraft in Bezug auf die (außerliterarische) Wirklichkeit. Auf der Grundlage einer breiten Materialbasis – bestehend aus einer Mischung von bereits bekannten kanonisierten Texten und noch zu entdeckenden – , und der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Textsorten und -gattungen sollen auch systematische Aussagen über die Beschaffenheit von Text-Kontext-Verknüpfungen getroffen, und so erste Bausteine zu ihrer Kategorisierung gelegt werden.
Stephanie Gleißner, Philipps-Universität Marburg
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