Die ägyptischen Arbeiter träumen nicht mehr vom Paradies

Arbeiter in einer Ziegelfabrik
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Längst werden auf Veranstaltungen am 1. Mai - einem Feiertag, der in Ägypten selbst zum ersten Mal ausgerufen wurde - nicht mehr die Interessen der Arbeiter vertreten

Vor fünfzig Jahren wurde der 1. Mai in Ägypten zum offiziellen Feiertag der Arbeiter erklärt. Um diesen 1. Mai 1964 herum, als der Staat den Arbeitern zum ersten Mal frei gab, wurden Ahmad Mahmud, Ali Aref und Hisham Abu Zeid geboren. Ahmad ist heute Angestellter im Öffentlichen Verkehrsbetrieb, die beiden anderen sollten eigentlich in der Ägyptischen Dampfkesselgesellschaft beziehungsweise in der Leinenfabrik Tanta arbeiten. Die letztgenannten Firmen sind jedoch außer Betrieb; sie gehören zu acht ägyptischen Unternehmen, die zuerst gegen Bestechung privatisiert und nach der Revolution vom 25. Januar per Gerichtsurteil wieder verstaatlicht wurden. Die seitherigen Regierungen setzten diese Urteile jedoch nie um.

Am 26. und 27. Mai dieses Jahres – ja, wieder ein Mai – sollen in Ägypten Präsidentschaftswahlen stattfinden. Am 1. Mai wollte ich aber zunächst wissen, wie die drei genannten Arbeiter, die dieser Tage 50 Jahre alt werden, diesen Tag verbringen. Mit Ahmad verbrachte ich einige Stunden. Er wollte sich den freien Tag nicht nehmen lassen und erschien zum Tag der Arbeiter nicht zu seiner Stelle als Schaffner. Trotzdem war er missgestimmt, denn richtige Veranstaltungen zum 1. Mai, auf denen Arbeiter ihren Unmut über die immer schlechter werdenden Lebensbedingungen und die Einschränkung von Bürgerrechten hätten kundtun können, gab es in Kairo nicht. Die kleine Kundgebung, zu der wir es um vier Uhr nachmittags doch noch schafften und die unter dem Monument von Talaat Harb abgehalten wurde – einem Sinnbild des ägyptischen Nationalkapitalismus – verstärkte Ahmads Frustration nur, denn nur wenige Dutzend Teilnehmer waren gekommen. Dabei leben in Ägypten statistisch gesehen zusammengenommen 23 Millionen Arbeiter.

Der 1. Mai 2014: keine Kundgebungen für die Interessen der Arbeiter

Und so zog Ahmad es abends vor, wieder nach Hause zu seiner Familie zu gehen, zu seiner nicht berufstätigen Frau und seinen sechs Kindern, mit denen er sich eine Wohnung aus zwei Zimmern und einer Diele in der Kairoer Vorstadt Shubra al-Khaima teilt, statt mich zu einer Konferenz zu begleiten, die von der Union Unabhängiger Gewerkschaften veranstaltet wurde. Das Motto der Konferenz lautete: "Freie Gewerkschaften = Soziale Gerechtigkeit". Und so konnte Ahmad auch nicht auffallen, dass keiner der beiden Präsidentschaftskandidaten dort auftrat: Weder Feldmarschall Abdalfattah El-Sisi noch der Journalist Hamdin Sabahi sprachen zu dem Kongress. Ebenso wenig bekam er mit, dass man dort zwar nicht mit Kritik am offiziellen Gewerkschaftsbund und seiner von der Regierung ernannten Führung sparte, dass aber kein einziger Redner auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl einging oder auch nur einen der beiden Kandidaten erwähnte. Grund dafür hätte es durchaus gegeben, denn der kritisierte Gewerkschaftsbund hatte von Anfang an seine Unterstützung von Al-Sisi bekundet, so wie er seit seiner Gründung im Jahr 1957 immer die jeweiligen Machthaber und deren Partei unterstützt hatte.

Ich rief dann Hisham und Ali an und erfuhr, dass sie am Vormittag das Mausoleum von Präsident Gamal Abdul Nasser im Kairoer Osten besucht hatten. Nasser galt in den sechziger Jahren als Sachwalter der Arbeiterklasse und Begründer der modernen ägyptischen Industrie. Die Ehrung des verstorbenen Präsidenten war Hisham und Ali genug für den 1. Mai; sie wollten an keinen sonstigen Kundgebungen oder Kongressen teilnehmen. Ich erfuhr außerdem, dass die beiden zwei Wochen zuvor an einer Wahlkampfveranstaltung des Kandidaten Sabahi teilgenommen hatten und dass sie und ihre Genossen gerne auch zu einer entsprechenden Veranstaltung von al-Sisi oder seinen Unterstützern gehen würden – wenn denn eine solche einmal stattfinden sollte, wovon aber bisher nichts bekannt ist.

Erinnerungen an das Nasser-Regime

Alle drei genannten Arbeiter wurden während der Präsidentschaft von Nasser geboren. Die Mitte der sechziger Jahre waren eine Phase ökonomischer und sozialer Entwicklung in Ägypten, sie waren aber auch der Beginn eines Einparteienstaates und einer Einmannherrschaft. 1965 führte das Nasser-Regime einen unerbittlichen Feldzug gegen die Muslimbrüder, die, genau wie heute wieder, zu einer terroristischen Vereinigung erklärt wurden. Warum verehren Hisham und Ali, anders als Ahmad, Nasser eigentlich so sehr? Nasser gilt zwar  in Ägypten als Symbol der Unterstützung der Armen und der nationalen Unabhängigkeit, er steht aber auch für die Niederlage Ägyptens und die Besetzung des Sinai durch Israel im Krieg von 1967. Ich glaube, die beiden träumen einfach davon, wieder in ihren Betrieben arbeiten zu dürfen, die ihre Gründung Nassers Aufbau eines staatlichen Sektors in Ägypten  verdanken.

Die Ägyptische Dampfkesselgesellschaft entstand 1962 im Zuge der Welle der Verstaatlichungen und des Ausbaus der Leinenwerke von Tanta, die syrische Investoren 1954 gegründet hatten. Später durchliefen beide Unternehmen eine Privatisierung der brutalsten Sorte, in deren Verlauf Ali 1997 zur Kündigung gezwungen wurde. Seine Abfindung betrug 7.000 Pfund (damals etwa 3.000 Dollar). Auch Hisham endete als Arbeitsloser und muss sich seither hier und da als Tagelöhner durchschlagen. Ihn hatte man 2008 in die Pensionierung gezwungen. Jetzt gehörten Ali wie Hisham zu dem riesigen Heer von etwa 12 Millionen irregulär beschäftigter (und rechtloser) Arbeiter, die nach Schätzungen des Planungsministeriums 55 Prozent der gesamten Arbeiterschaft in Ägypten ausmachen. Die unregelmäßigen Beschäftigungen, denen Ali und Hisham nachgehen, verschaffen ihnen kein ausreichendes Einkommen, um ihre Familien zu ernähren. Dabei hat Hisham eine Frau und einen Sohn in der Oberschule zu ernähren, Ali eine Frau und drei Kinder. Sein jüngster Sohn geht in die erste Klasse, der älteste hat ein Jura-Diplom – und ist ebenfalls arbeitslos.

Unregelmäßige Einkommen und der Kampf für einen Mindestlohn

Ahmad muss für eine Frau und sechs Kinder zwischen drei und fünfzehn Jahren sorgen und hat dabei nach Abzug der Miete und von Kreditzinsen (jeweils 300 Pfund) nur 600 Pfund im Monat zur Verfügung. Dies entspricht in etwa 60 Euro. Wie seine beiden Kollegen hat er kein Vertrauen in die Muslimbrüder, zumal diese den Arbeitern in ihrem einen Regierungsjahr unter Präsident Mursi keine Verbesserungen verschafft hatten. Für die Demonstranten, die bei Protesten gegen den Putsch vom 3. Juli 2013 Schaden an Leib und Leben nahmen, hat er jedoch große Sympathien und er empfindet Abscheu gegen die kollektiven Todesurteile, die gegen Anhänger der Muslimbrüder wegen angeblicher Gewalttaten verhängt werden. Insofern liegt ihm immerhin etwas an politischen und an Bürgerrechten.

Ahmad hat im letzten Februar auch schon gestreikt. Mit seinen Kollegen vom Öffentlichen Verkehrsbetrieb forderte er unter anderem die Umsetzung des von der Regierung beschlossenen Mindestlohnes ein (1.200 Pfund, etwa 120 Euro). Währenddessen beteiligten sich Hisham und Ali an einem Sitzstreik in der Zentrale des offiziellen Gewerkschaftsbundes und forderten die Wiederinbetriebnahme ihrer noch immer geschlossenen Werke und die Wiederanstellung der Beschäftigten. Keine der Forderungen wurde erfüllt. Stattdessen endete der Streik damit, dass die Armee unter Führung des damaligen Verteidigungsministers al-Sisi eine riesige Flotte von Bussen der Verkehrsbetriebe auf die Straßen Kairos schickte und der Gewerkschaftsbund, der al-Sisi unterstützt, Schlägertrupps aussandte, die die Protestierenden aus der Zentrale vertrieben.

Die Proteste vom Februar 2014 schon fast vergessen

Aber es wird unvergessen bleiben, dass es im Februar 2014 überhaupt wieder soziale und Arbeiterproteste gab, nachdem seit Juli 2013 Stillstand geherrscht hatte. Laut Zählungen des Mahrusa-Zentrums gab es allein im besagten Februar 1.044 Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen, Sit-Ins, Betriebsschließungen von Arbeitern und Menschenketten. Gefordert wurden dabei insbesondere die Durchsetzung von Mindest- und Maximallöhnen, der Kampf gegen Korruption in Unternehmen und Betrieben sowie die Wiederanstellung von Beschäftigten von Firmen, die betrügerisch privatisiert wurden. Und auch wenn nicht weniger wichtige Forderungen wie die nach Inkraftsetzung des Gesetzes zur Freiheit gewerkschaftlicher Betätigung und der Änderung des Arbeitsgesetzes aus dem Jahr 2003, das Arbeiterrechte weitgehend beschneidet, auf der Liste der Forderungen bisher fehlen, so steht das Aufflammen solcher Proteste doch im Gegensatz zur Haltung des Gewerkschaftsbundes, der im März für ein ganzes Jahr Ruhe verkündet hatte, um die Übergangsphase nicht zu gefährden.

Tatsächlich sind diese sozialen Proteste ein schlechtes Omen für die politische Stabilität in Ägypten, und vor ihrem Hintergrund sollte man vermuten, dass die Wahlprogramme der beiden Präsidentschaftskandidaten sich den solchen Protesten zugrunde liegenden Problemen widmen. Aber bis zur Abfassung dieses Artikels lagen weder von al-Sisi noch von Sabahi Wahlprogramme vor.

Aber wie halten es unsere drei Arbeiter Ahmad, Hisham und Ali mit den beiden Kandidaten? Welche Bedeutung messen sie dem Wahlprozess für die Wirtschaft und die soziale Entwicklung der Ägypter bei?

Ahmad scheint hier den entschlossensten Standpunkt zu vertreten: Er macht klar, dass er sich an keiner Wahl mehr beteiligen werde. Er habe seit der Revolution vom 25. Januar bisher fünfmal gewählt (Verfassungsreferenden von März 2011 und Dezember 2012, Parlamentswahlen vom November 2011, Shura-Wahlen vom Januar 2012, Präsidentschaftswahlen Mai/Juni 2012), und jedes Mal seien die Wahlergebnisse danach für ungültig erklärt worden. Schlimmer noch: Die fünf Wahlgänge hätten die Lebenssituation für Arme und Arbeiter in keiner Weise verbessert. Deswegen will Ahmad die Wahl Ende Mai boykottieren. Sein Vertrauen in den politischen Prozess ist geschwunden, er sieht in den Präsidentschaftswahlen ein "Theater", dessen Ergebnis ohnehin schon vorher feststehe. Al-Sisi werde gewinnen, dieser sei als ein hoher Militär der Geschäftswelt zugetan und werde von der alten Garde des gestürzten Präsidenten Mubarak unterstützt. Den Gegenkandidaten Sabahi bezeichnet er nur als "Komparsen", auch wenn er ihn als Oppositionspolitiker und Fürsprecher der Armen schätzt. Er hatte ihn in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen von 2012 auch gewählt, entschied sich aber nach dessen Ausscheiden in der Stichwahl für Mursi.

Der Traum von einem neuen Anführer

Ali und Hisham sprechen nicht davon, die Wahl zu boykottieren. Sie haben allerdings bisher sehr unterschiedlich gewählt. Ali hatte es gemacht wie Ahmad: Er hatte erst für Sabahi, dann für Mursi gestimmt. Hisham dagegen hatte im ersten Durchgang den glücklosen Linkskandidaten Abulizz al-Hariri gewählt, im zweiten dann Ahmad Shafiq. Heute sind sich beide insoweit einig, dass sie bisher weder al-Sisi noch Sabahi offen unterstützen. Sie wollen abwarten, was von den beiden Kandidaten noch kommt und welche Zusagen sie den von ihnen mitbetrauten Arbeiterdelegationen machen werden. Noch haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eines Tages ein neuer "Anführer" erstehen wird, der als Anwalt ihrer Rechte auftritt, auch wenn sie Zweifel daran haben, wie realistisch diese Hoffnung ist.

Auf meine Frage, ob er glaube, dass Sabahi oder Al-Sisi seine Dampfkesselgesellschaft wieder in Betrieb nehmen würde, sagt Ali vorsichtig: "Ich hoffe es. Viel Vertrauen haben die Leute nicht mehr. Es geht darum, dass der, der eine Zusage macht, sie auch einhält. Sabahi hat uns versprochen, sich dafür einzusetzen, ein Treffen mit Al-Sisi steht noch aus. Sabahi ist Nasserist und sollte politisch auf Nassers Spuren wandeln. Al-Sisi ist angeblich auch Nasserist, und Nassers Familie und die Nasseristische Partei unterstützen ihn. Ich hoffe vor allem, dass der kommende Präsident gegen die im ganzen Land  grassierende Korruption vorgeht."

Hisham, der Entlassene der Leinenwerke von Tanta, ist noch zurückhaltender: "Sabahi hat Versprechungen gemacht, die von al-Sisi stehen noch aus", sagt er. "Ali und ich werden uns gegenseitig nicht vorschreiben, für wen wir stimmen. Letztlich geht es darum, was bei der Politik beider herauskommt. Es ist zu befürchten, dass Wahlkampfversprechen nicht eingehalten werden. Genau daran sind wir leider gewöhnt: Zusagen, die nicht erfüllt werden."

Eine Woche vor dem diesjährigen 1. Mai war ich den drei hier vorgestellten Arbeitern bei einem Runden Tisch im Zentrum für Wirtschaftliche und Soziale Rechte in Kairo begegnet. Auch damals hatte niemand über die Wahl eines neuen Präsidenten gesprochen. Vielmehr ging es um die Gründung einer neuen Bewegung namens "Ägyptischer Arbeiterkampf". Allgemein herrschte auf dem Treffen die Auffassung, dass die Proteste allenfalls vorübergehend abgeflaut seien und mit Sicherheit bald umso stärker wieder aufflammen würden. Und da kein Politiker, keine Partei und keine Bewegung in Sicht sei, die eine Lösung für die enormen sozialen Probleme Ägyptens anbieten könne, sei es zu der sozialen Gerechtigkeit, für die die Revolution vom 25. Januar angetreten sei, noch ein weiter Weg.

Die ägyptischen Arbeiter träumen nicht vom Paradies. Dass sie jetzt wieder viel von Nasser sprechen, der vor fünfzig Jahren den 1. Mai zum Feiertag gemacht hat, hat durchaus symbolische Bedeutung. Aber Symbolik allein schafft noch keine Einheit.



Karem Yehia, ist ägyptischer Journalist und Buchautor. In seinem kürzlich in Kairo erschienen Buch ash-Shabihan (die Ähnlichen) vergleicht er die Biographien von Hosni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali.

Aus dem Arabischen von Günther Orth.