Ägyptens Armee und das Volk

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Ägypter bei einer Demonstration für Präsident Sisi. Gesang und Musik sind dabei häufig wichtige kommunikative Mittel
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Ein Ägypter singt bei einer Demonstration für Präsident Sisi. Gesang und Musik sind bei politischen Aktionen häufig wichtiger Bestandteil. Dies zeigt sich beispielsweise im Pop-Song "Gesegnet Deine Hände", der auf Sisi referenziert

Am ersten Tag der Präsidentschaftswahlen 2014, die Stimmung war noch weitgehend fröhlich, versammelten sich einige Frauen vor einem Wahllokal in einem grünen Viertel von Heliopolis, dort, wo die Bessergestellten wohnen. Sie sangen und tanzten zu dem Lied Boshret Kheyr (Frohe Botschaft), das während des Wahlkampfs zum Dauerbrenner wurde, ein Popsong, in dem Ägyptens Regierungsbezirke aufgezählt und die Menschen ermuntert werden, zur Wahl zu gehen. Neben ihnen verkaufte ein Händler Anstecker mit dem Bild des Kandidaten Abdel Fattah Sisi, vormals Feldmarschall und ein Frauenschwarm mittleren Alters.

Ich kaufte mir einen Anstecker für meine Sammlung von Erinnerungsstücken an die politischen Unruhen. Der Verkäufer fragte, ob ich nicht einen zweiten wollte – Sonderangebot. Ich sagte nein. Ein Sisi ist mehr als genug. Eine Wählerin, die aus dem Wahllokal kam, sah das wohl ähnlich. Eine Bekannte, die Journalistin ist, fragte sie, für wen sie gestimmt habe, worauf sie mich ganz verdutzt ansah, so als wollte sie sagen, was für eine Idiotin ist denn das? "Natürlich habe ich Sisi gewählt. Wen auch sonst?" sagte sie.

Und was hielten die tanzenden Frauen davon, dass einmal mehr ein Militär Ägypten führen würde? - "Fe haga ahla men el geish el masry?" (Gibt es etwas Schöneres als die Ägyptische Armee?), sagte eine von ihnen.

Am Tag nach der Schließung der Wahllokale zeigten die vorläufigen Ergebnisse Sisi bei 93 Prozent, das entspricht 23 Millionen Stimmen. Von derartigen Zahlen träumen Diktatoren – und produzieren sie durch Wahlfälschung. Bei dieser Wahl aber wurde, Beobachtenden zufolge, nicht offen manipuliert. Allerdings war das politische Klima freien und gleichen Wahlen nicht eben zuträglich und die Medien stellten sich deutlich auf Sisis Seite. Das Ergebnis ist somit nicht nur ein klarer Sieg Sisis, sondern auch eine Anklage gegen ihn und gegen die Institution, für die er steht.

Es ist eine Tragödie für all jene, die an die Revolution vom 25. Januar glaubten und an den kurzen Moment, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihr eigenes Schicksal in den Händen hatten. In dem Lied Boshret Kheyr heißt es, die Ägypter würden "das Morgen nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten". Dabei herausgekommen ist etwas, das zum Verwechseln den Zuständen vor der Revolution gleicht: Ein ehemaliger Militär mit engen Verbindungen zum vorigen Regime wird mit überwältigender Mehrheit gewählt – ohne je ein Programm vorgelegt zu haben. Die Wählerinnen und Wähler wurden manipuliert, diese Manipulation jedoch begann bereits vor 60 Jahren.

Der Fernsehmoderator Tawfiq Okasha, ein ausgesprochener Fan der Armee, wird nicht müde zu betonen, die ägyptischen Streitkräfte seien vor 7000 Jahren entstanden und damit die ältesten der Welt. Tatsächlich entstand eine moderne Berufsarmee in Ägypten im 19. Jahrhundert, ab 1822, als Muhammad Ali Pascha die ersten 4000 Bauern zum Kriegsdienst einberief.

In seinem Buch "All the Pasha’s Men" beschreibt Khaled Fahmy, wie die Wehrpflicht und die damit einhergehende Notwendigkeit, die Soldaten unter Kontrolle zu halten (und mit Deserteuren fertig zu werden), das Verhältnis zwischen Staat und Bürger/innen grundlegend veränderte. Es war der Beginn eines "organisierten Systems der Manipulation und Kontrolle".

Nachdem 1952 die Bewegung Freier Offiziere geputscht und in der Folge der charismatische Gamal Abdel Nasser an die Macht gekommen war, der Ägypten von 1956 bis zu seinem Tod im Jahr 1970 regierte, wuchs dieses System und die Kontrolle nahm zu. Das schwierige Vermächtnis Nassers wirkt bis heute in Ägypten.

Eine Welle allgemeiner Verehrung trug Nasser an die Macht, was er nutzte, um seine Macht zu festigen, und dabei alles tat, um Informationen und das Bild des Regimes in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Die Freien Offiziere putschten gegen einen verschwenderischen König, der den britischen Besatzern zu Dienste war. In den Jahren danach führte Ägypten drei Kriege gegen Israel.

Nationalismus hat seine ganz eigene Psychologie (Benedikt Anderson nennt Nationen "imaginierte Gemeinschaften") und hängt eng zusammen mit Militarismus. Der ägyptische Nationalismus der 1950er und 1960er Jahre entstand aus einem Gefühl der Einheit, das nur entstehen kann, wenn es einen Feind, einen "Anderen" gibt, von dem man sich abgrenzt. Symbol dieses Nationalismus war Ägyptens Armee und ihr attraktiver und einnehmender Anführer. Die Streitkräfte wurden so zur Form, in der sich Nationalismus ausdrückte. Die Armee zu kritisieren, deren tapfere Soldaten das Land von der Kolonialherrschaft befreit und gegen die zionistischen Angreifenden verteidigt hatten, bedeutete, Ägypten zu verraten.

Hinter den Kulissen und 30 Jahre lang für die Medien tabu, konnten die Streitkräfte in Ruhe ihren Geschäften nachgehen und sehr viel Kapital und Besitz anhäufen. Das änderte sich erst am späten Nachmittag des 28. Januar 2011, als die Armee auf den Straßen dem Volk gegenüberstand. In dieser Situation entstand der recht hölzerne Slogan "el gaysh wel shaab 'eed wahda" (Armee und Volk handeln mit einer Hand), der weniger wie ein Jubelschrei, der eher wie eine Beschwörung klingt, mit der die Spannungen, zu denen es bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Soldaten kam, abgebaut werden sollten. Vielleicht war diese Parole auch das stillschweigende Eingeständnis, dass die Armee nicht Teil des Volkes ist, sondern ein ihm weit entrücktes Gebilde – der berühmte Staat im Staat.

Bis zum Jahr 2011 hatten allein Männer während ihres Wehrdienstes vorübergehend einen gewissen Einblick ins Innenleben der Armee. Die Öffentlichkeit erhielt nur sehr wenige und sorgfältig gesiebte Informationen. Jetzt, auf den Straßen, hatten Armee und Volk ein Problem: Nachdem der anfängliche Überschwang abgeklungen war und die Armee die Kontrolle übernommen hatte, sah sie sich Protesten gegenüber, während die Menschen ihr Bild von der heldenhaften Armee mit einer Wirklichkeit vereinbaren mussten, in der Zivilistinnen und Zivilisten durch die Militärgerichtsbarkeit der Prozess gemacht, Demonstrantinnen auf ihre Jungfräulichkeit hin untersucht und Menschen auf der Straße erschossen wurden. Wenn sich Patriotismus danach bemaß, wie sehr man die Armee verehrte, was konnte all das dann bedeuten?

Mit der Medienkampagne Kazeboon ("Lügner") wurde Ende 2011 versucht, diese widersprüchlichen Wahrnehmungen anzugehen, und zwar nachdem zwei Demonstratinnen von Soldaten auf dem Tahrir-Platz brutal getreten und geschlagen worden waren - vor laufenden Fernsehkameras.

Bei dem Angriff wurde der Oberkörper einer der Frauen entblößt. Das Bild eines Soldatenstiefels, der auf einen blauen BH tritt, wurde umgehend zum Sinnbild. Als Vertreter der Streitkräfte und ihre Unterstützer versuchten, den Zwischenfall unter den Teppich zu kehren, setzte die unabhängige Tageszeitung Al-Tahrir dieses Bild auf die Titelseite, Überschrift: "Lügner". Das war jedoch die Ausnahme, denn wie zuvor übte ein Großteil der Medien Selbstzensur und setzte den Erklärungen des Militärs nichts entgegen. Die Leute hinter der Kazeboon-Kampagen versuchten, das Schweigen der Massenmedien zu umgehen, indem sie Kurzfilme zeigten, die die Behauptungen der Armee Lüge straften und zeigten, was auf Ägyptens Straßen wirklich geschah.

"Wir wollten Zweifel säen", sagte mir Sally Toma, eine der Gründerinnen von Kazeboon. Dazu zeigten sie Bilder von Soldaten, die Zivilisten misshandelten oder töteten und legten darüber als Tonspur die offiziellen Erklärungen der Armee. Die Folgen waren drastisch. Mitglieder von Kazeboon wurden beleidigt, angegriffen sowie Verräter und Staatsfeinde geschimpft, ganz besonders von älteren Menschen, die noch mit der Propaganda Nassers aufgewachsen waren. Dennoch, sagt Toma, hätten die Filme dazu geführt, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer diskutierten und sich mit den offensichtlichen Widersprüchen auseinandergesetzt hätten.

Das Maspero-Massaker zeigt, mit welchen Herausforderungen Kazeboon zu kämpfen hatte. Am 9. Oktober 2011 starben annähernd 30 Demonstrierende, die meisten davon koptische Christen, als ihr Demonstrationszug beim Maspero-Fernsehgebäude angegriffen wurde. Die Fernsehbilder zeigen, wie Mannschaftstransporter in die Menschenmenge rasen und Demonstrierenden zerquetschen, während andere erschossen werden. Die staatlich kontrollierten Medien reagierten umgehend und behaupteten, die Christinnen und Christen hätten die Armee angegriffen und deren Fahrzeuge gestohlen. Eben das erklärte auch die Armee auf einer Pressekonferenz – und kam damit durch. Über eine von Toma und anderen organisierte Pressekonferenz, auf der Augenzeuginnen und Augenzeugen zu Wort kamen, wurde in den ägyptischen Medien nicht berichtet.

Die Version der Armee setzte sich durch. Die meisten Menschen glauben heute, es sei entweder eine geheimnisvolle dritte Kraft im Spiel gewesen, bzw. die Muslimbrüder hätten die Demonstrierenden angegriffen, um einen Keil zwischen Volk und Armee zu treiben und den Übergangsprozess zu sabotieren.

Allein mit dem Einfluss der Streitkräfte auf die Medien lässt sich das nicht erklären. Die Menschen selbst wollen fast zwanghaft daran glauben. Das zeigt sich an der kurzen Phase von Juni 2012 bis Juli 2013, in der Mohammed Mursi regierte.

Im Jahr 2012 hatten bei Protesten am Jahrestag der Revolution vom 25. Januar die Menschen ein Ende der Militärherrschaft gefordert. Nur ein Jahr später schlug Unzufriedenheit mit der Regierung Mursi um in die Forderung, die Armee möge eingreifen. Konfrontiert mit einem Präsidenten, der auf eine verfassungsrechtliche Erklärung drängte, die seine Entscheidungen unhinterfragbar gemacht hätte, zunehmender Gewalt auf den Straßen bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Muslimbrüder und dem Gefühl, die Situation laufe aus dem Ruder, entschied sich die Allgemeinheit für das Altbekannte. Die in privater Hand befindlichen Medien, die sich von Mursi-Anhängerinnen und -Anhängern belagert sahen, die vor den Studios kampierten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angriffen, stellten sich bald gegen die Muslimbrüder und bezeichneten sie bereits im Juni häufig als Terroristen. Hatte man die Muslimbrüder erst einmal als Verräter ausgemacht, war die Auseinandersetzung mit ihnen keine politische mehr, es ging um das Überleben der Nation, das heißt, es herrschte Krieg. In einem Krieg schwappt das Nationalgefühl immer dann besonders hoch, wenn man sich einem gemeinsamen Feind gegenübersieht. In dieser Lage war klar, die Armee, der Stolz Ägyptens und Ausdruck des Patriotismus, musste das Machtvakuum füllen und den Feind attackieren. Wer sonst sollte das tun?

Als Mursi am 3. Juli 2013 gestürzt wurde, war die allgemeine Begeisterung groß – und fand Ausdruck in der Person von Verteidigungsminister Sisi, dem Helden, der Ägypten am Rande des Abgrunds errettet hatte und nun dem großen ägyptischen Volk, dem Licht seiner Augen, süße Nichtigkeiten zuflüsterte. Die ägyptische Unterhaltungsindustrie war ebenfalls auf Zack und der Popsong Teslam Al Ayyady ("Gesegnet Deine Hände") wurde umgehend zum Sommerhit - während eines Sommers, in dem Armee und Sicherheitskräfte an nur einem Tag hunderte Menschen töteten, als sie zwei Sit-ins von Mursi-Anhängerinnen und -Anhängern räumten. Zudem erstickten 38 Männer, die man unter dem Verdacht, sie seien Unterstützer der Muslimbrüder, verhaftet hatte, in einem Gefangenentransporter. Die Verfolgung anderer oppositioneller Gruppen ließ nicht lange auf sich warten.

Sisis Beliebtheit stieg im Gleichschritt mit dem Widerwillen gegen die Muslimbrüder. Toma beschreibt Sisi als "Abdel Halim Hafez mit Pistole", eine Anspielung auf den in den 1950er und 1960er Jahren äußerst beliebten, rehäugigen Sänger. Das beschreibt sehr gut, warum die Menschen in Ägypten ein derart libidinöses Verhältnis zur Armee haben. Hafez ist begehrenswert, entrückt, perfekt – und man verbindet mit ihm die goldenen Jahre der Ära Nasser. Mit einer Pistole bewaffnet wird er in dieser ausgeprägt masochistischen Gesellschaft zum Idealbild von Männlichkeit.

Seit dem 30. Juni 2013 können sich die Streitkräfte der ungebrochenen Unterstützung der Bevölkerung sicher sein – was man auch daran sieht, dass die Armee bekannt gab, man habe ein Gerät entwickelt, das Hepatitis C disgnostizieren könne und zudem ein Heilmittel gegen AIDS entdeckt. Solche Behauptungen lösen bei Wissenschaftlern in aller Welt nur Schulterzucken aus; auch manche in Ägypten machen sich darüber lustig. Ein Teil der ägyptischen Öffentlichkeit glaubt dergleichen jedoch und sieht darin für Ägypten und für die Wissenschaft einen großen Sprung nach vorn sowie einen weiteren Beleg für Glanz und Gloria der eigenen Streitkräfte. Diese Menschen kommen aus allen sozialen Schichten, das heißt, es geht nicht um die Folgen mangelnder Bildung und staatlich kontrollierter Medien. Es handelt sich um ein Bedürfnis zu glauben, das etwas, gleich was, in Ägyptens zersplitterter und zerstrittener Gesellschaft funktioniert.