Europa-Wahlen: Das „slowakische Paradox“

Flagge der Slowakei und der Europäischen Union

„Diesmal geht’s um mehr!“ verkündete eine großangelegte Kampagne des Europäischen Parlamentes (EP) zur europaweiten Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler. Das Neue an den Wahlen der einzig direkt gewählten Institution der Europäischen Union waren die Änderungen, die der Vertrag von Lissabon für das EP mit sich brachte – vor allem die Besetzung des Chefposten der EU-Kommission in Anlehnung an die Entscheidung der europäischen Wählerschaft. Bei der Wahl des Slogans „Diesmal geht’s um mehr!“ ging man von einem erhöhten Interesse an der Wahl und somit auch von einer höheren Wahlbeteiligung aus.  In mehreren Mitgliedstaaten (Großbritannien, Griechenland, Rumänien, Litauen) bestätigte sich dies, wenn auch um den Preis, dass EU-skeptische Parteien gestärkt wurden.

In vielen Ländern Mittel- und Osteuropas verhielt es sich mit der Wahlbeteiligung genau entgegengesetzt. In der Slowakei gaben nur rund 13 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab – ein neuer Negativrekord, der die Tiefpunkte der Jahre 2004 (17 Prozent) und 2009 (19,6 Prozent) sogar noch unterbot. Ähnlich verlief es in der Tschechischen Republik, in der die Wahlbeteiligung 18 Prozent betrug (während es vor fünf Jahren noch 28 Prozent waren), sowie in Polen (23 Prozent) und beim jüngsten EU-Mitglied Kroatien (25 Prozent).

Was ist passiert, dass zehn Jahre nach dem EU-Beitritt in diesen renommierten Klub und 25 Jahre nach dem Fall der undemokratischen Regime, als die „Rückkehr nach Europa“ das gesellschaftliche Leitbild schlechthin war, die Bürgerinnen und Bürger nicht zu den Wahlen gingen?

Ursachen für die Wahlverweigerung

Die ungewöhnliche Kombination aus einer überdurchschnittlich positiven Bewertung der EU-Mitgliedschaft auf der einen Seite und einer passiven Haltung zu den Wahlen auf der anderen Seite, bezeichnet man neuerdings als „das slowakische Paradox“. Slowakische Politikerinnen und Politiker sprachen hierüber bereits vor den Wahlen mit einer Art Schulterzucken und Resignation. Die slowakische Wählerschaft sei eben so: zufrieden, aber desinteressiert. Warum sollte man sich bemühen, sie für die Wahl zu interessieren und den Urnengang zu motivieren? Diese Haltung spiegelte sich im Wahlkampf wider. So ist das schwache Interesse der Wählerschaft in erster Linie den politischen Parteien anzulasten, die die Europawahlen als zweitrangige Angelegenheit betrachten. Zahlreiche Parteien, darunter auch die stärkste Partei Smer-SD (Richtung-Sozialdemokratie), boten der Wählerschaft nicht einmal ein Programm. Programme entscheiden zwar keine Wahlen, bilden jedoch eine Art Anker für die Positionierung der Parteien in wichtigen Fragen, sie sind ein Kompass für die Wählerinnen und Wähler und sind auch wichtig für die Partei selbst.

Neben der gesamteuropäischen Personalisierung der Wahlen durch die Aufstellung von Spitzenkandidat/innen der großen Fraktionen für den Posten des Kommissionspräsidenten rechneten wir in der Slowakei (und nicht nur hier) mit einer Verschärfung des politischen Wettbewerbs. 29 politische Parteien und Gruppierungen stellten insgesamt 333 Kandidatinnen und Kandidaten auf. Das programmatische Angebot ließ hingegen zu wünschen übrig und es fehlte eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung.  

Die EU als Insel Laputa

Ein weiterer Grund für die niedrige Beteiligung an den Europawahlen resultiert aus dem Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zur Europapolitik. Wir leben in einem mehrstufigen System der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Jedoch sind sowohl die Schnittstellen zwischen der europäischen und der nationalen Ebene als auch die Bedeutung und die Tragweite der europäischen Politik in der Wahrnehmung der Menschen nach wie vor schwach verankert. Vieles kann durch die Kommunikation der nationalen Politikerinnen und Politiker über die EU erklärt werden. Sie kritisieren „Brüssel“ oder verschanzen sich hinter diesem Begriff, wenn sie unbeliebte Entscheidungen treffen oder einen Misserfolg erklären müssen. Andrerseits machen sie Erfolge aus Brüssel nur allzu gern zu ihren eigenen. Sie erwecken hierdurch den Eindruck, dass die EU eine unpersönliche illegitime Institution sei, wie die Insel Laputa, die weit abgehoben über uns schwebt, auf die wir aber – trotz zu Hause gewählter Politikerinnen und Politiker – keinen Einfluss haben.

Der slowakische Kommissar der Europäischen Kommission und Spitzenkandidat der Partei Smer-SD, Maroš Šefčovič, sprach in diesem Zusammenhang mehrfach über den  „Effekt des achten Stockwerks“. Im „achten Stock“ tagt der Rat der Europäischen Union, wo die Vertreter der Nationalstaaten grundsätzliche Entscheidungen treffen, hinter denen sie solidarisch und einstimmig stehen. Nach Abschluss der Verhandlungen begeben sie sich in das Erdgeschoss, wo dann Journalisten auf sie warten, und bereits hier verändert sich ihr Auftritt: dann heißt es immer, die Entscheidungen hätten andere getroffen. Sind die Politikerinnen und Politiker wieder zu Hause angekommen, verliert sich die persönliche Verantwortung für die europäische Politik vollends. Dieses Phänomen läßt sich auch in der nationalen Politik beobachten: die europäische Agenda fehlt in nationalen Wahlen, obwohl diese ein integraler, immanenter Bestandteil aller Politikfelder sein sollte. Ganz zu schweigen davon, dass die slowakischen Spitzenpolitiker in keiner Weise über die Aktivitäten und Vorstellungen anderer europäischer Parteien oder der eigenen Fraktionen kommunizieren.

Hiermit verbunden ist auch die gängige Debatte über die EU. Das feierliche Jubiläum anlässlich der zehnjährigen Mitgliedschaft in der EU läßt sich mit dem Bild der „vollen Bäuche“ erklären. Die EU wird als Garant für Wohlstand und Wachstum wahrgenommen, die die slowakischen Stimmen nicht braucht.  

Das Zusammenspiel von europäischer und nationaler Ebene könnte das Wirken der 13 slowakischen Europaabgeordneten entscheidend beeinflussen, doch die meisten treten nur in Wahlkampfzeiten in Erscheinung. Und der Wahlkampf vor den Europawahlen vermag natürlich nicht das ansonsten übliche Schweigen über europäische Themen zu ersetzen.

Das Desinteresse an den Europawahlen läßt sich besser verstehen, wenn man tiefer liegende, kulturpolitische Aspekte und Wertvorstellungen analysiert. Die slowakische Mentalität war immer eher nach innen gekehrt. Dass das Schicksal des Landes woanders entschieden wird, hat sich tief in das historische Gedächtnis eingebrannt. Dies erklärt auch das tradierte, geringe Interesse an dem, was hinter „dem eigenen Gartenzaun“ passiert. Darüber hinaus ist in der Slowakei noch immer eine Rhetorik üblich, in der Brüssel mit „den anderen“ gleichgesetzt wird und und mit „wir“ die Bevölkerung zu Hause gemeint ist.

Die bunte Truppe der dreizehn slowakischen Europaabgeordneten

Die Wahlen gewann zwar die Regierungspartei Smer-SD (24 Prozent), doch sie blieb weit hinter ihrem Ergebnis von vor fünf Jahren zurück, vom Erfolg der vorgezogenen Parlamentswahlen 2012 ganz zu schweigen. Im EP wird die Partei vier Abgeordnete stellen, die die Gruppe der europäischen Sozialisten verstärken wird. Jeweils zwei Abgeordnete verteidigten die Mitte-Rechts-Parteien KDH (Christlich-demokratische Bewegung) und  die SDKÚ-DS (Slowakische Demokratische und Christliche Union-Demokratische Partei). Im EP bleibt auch die Partei der ungarischen Gemeinschaft, wenn auch nur mit einem Abgeordneten. Diese drei Parteien sind bereits Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP). Neulinge mit einem Mandat sind die Parteien OĽaNO (Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten) und NOVA (beide bislang ohne eine klare Einordnung oder ein klares Profil) sowie Most-Híd (EVP) und die SaS (Freiheit und Solidarität, ALDE). Die Ergebnisse spiegeln so auch die Parteienlandschaft der Slowakei mit einer starken Linkspartei und einem fragmentierten Mitte-Rechts-Spektrum wider.

Dennoch können aus den Wahlergebnissen nur schwerlich verlässliche Schlussfolgerungen über die aktuelle Unterstützung für die einzelnen Parteien gezogen werden. Nicht nur mit Blick auf die kritisch niedrige Wahlbeteiligung, sondern auch weil bei diesen Wahlen die neue Partei Sieť nicht antrat, die in aktuellen Umfragen deutlich höhere Präferenzen erhält, als alle anderen Parteien aus dem Mitte-Rechts-Spektrum und die wahrscheinlich im Herbst die Karten bei den slowakischen Kommunalwahlen neu mischen wird. In der Slowakei gilt bei den EP-Wahlen die Fünfprozenthürde. Unter dieser Grenze blieben verschiedene nationalistische Parteien. Die SNS (Slowakische Nationalpartei) konnte ihr Mandat nicht halten. Die gefürchtete rechtsextremistische Partei des Regionalpräsidenten der Region Banská Bystrica, Marián Kotleba, ĽSNS (Volkspartei-Unsere Slowakei) erhielt nur 1,8 Prozent der Stimmen. Zur Illustrierung des Verhältnisses dieser Partei gegenüber der EU genügt es daran zu erinnern, dass der Regionalpräsident die - wie er sie nannte - „Okkupationsflagge der EU“ vom Gebäude des Regionalparlamentes entfernen ließ. Darüber hinaus belegte gerade diese Partei in simulierten Schülerwahlen an Mittelschulen in der gesamten Slowakei den zweiten Platz und hätte im Realfall drei Europamandate gewonnen. Ein warnendes Signal für die Zukunft.  

In der Farbpallette der slowakischen Vertretung im EP fehlt chronisch eine Farbe – Grün. Eine Partei mit einem modernen postmaterialistischen liberalen Profil, die proeuropäisch auftritt und die sich den Schutz von Minderheiten in der Slowakei auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist (bislang) nicht in Sicht.  

Der kritische Rückgang der Wahlbeteiligung hat eine intensive Suche nach den Schuldigen ausgelöst – die Politiker beschuldigen die Medien, die Medien beschuldigen die Politiker und alle verweisen auf die Verantwortungslosigkeit der Wählerschaft. Es bleibt das Gefühl, dass es nach diesen Wahlen keine Sieger gibt, sondern vielmehr alle verloren haben. Es wird nicht einfach werden, das Desinteresse an der EU zu durchbrechen, das in der Bevölkerung trotz aller Vorteile der EU-Mitgliedschaft weit verbreitet ist.

Übersetzung aus dem Slowakischen: Steffen Becker