Fortschritte und Rückschläge: Die Europawahl aus grüner Perspektive

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Ska Keller, inzwischen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament, am Wahlabend

Was machte diese Europawahl 2014 so bemerkenswert? Zum ersten Mal wurden von den europäischen Parteien gemeinsame Spitzenkandidat/innen aufgestellt. Dies hat nicht nur zu mehr Personalisierung des Europawahlkampfes geführt, sondern auch den Wahlen eine konkrete pan-europäische Dimension gegeben. Es waren außerdem die ersten Europawahlen, die nach dem Beginn der Krise stattfanden. Damit zusammen hängt ein erschreckendes Erstarken der rechten Kräfte in Europa. Was bedeutet das Ergebnis für die Grünen und welche Schlussfolgerungen können gezogen werden?

In der Tat bläst mit diesem Rechtsruck ein ungemütlicher Wind durch Europa. Aber die Krise alleine kann den Zulauf der rechten Kräfte nicht erklären. Das Ergebnis der Europawahlen 2014 ist der vorläufige Höhepunkt eines Trends in diese Richtung, der bereits eine Dekade andauert. Bereits in den letzten Jahren wurde in Ländern wie Ungarn, den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Finnland und Griechenland die politische Szene durch den Aufstieg von nationalistischen, offen xenophoben und sogar rassistischen politischen Parteien aufgewirbelt. Anderswo, wie in der Schweiz, in Österreich, Frankreich und Italien hat sich die andauernde Präsenz dieser Parteien im politischen Alltag und ihr Einfluss auf die öffentliche Debatte in der gesamten Gesellschaft bemerkbar gemacht. Manchmal ist er sogar bis zum Kern der demokratischen Institutionen vorgedrungen. Dann kamen die Europawahlen - und sie brachten ungefähr hundert Abgeordnete ins Europäische Parlament, die sich im Spektrum von leicht euroskeptisch zu offen faschistisch bewegen. Die extreme Rechte wird stärker und kühner. Das ist ohne Zweifel ein Schlag ins Gesicht des Europas, für das die Grünen immer gekämpft haben. 

Für die Zusammensetzung der Grünen Europafraktion sind die Ergebnisse aus Frankreich und Deutschland – als größte nationale Delegationen – ganz besonders entscheidend. Die Situation in Frankreich mit dem erschreckend starken Abschneiden des Front National (FN) ist auch angesichts der Rolle, welche das „deutsch-französische“ Tandem bei der europäischen Integration spielt, interessant für eine Analyse.

Frankreich: Euro-Skeptizismus überwiegt

Am Sonntag, den 25. Mai haben die Französinnen und Franzosen eine Schockwelle durch Europa gesendet: 25 Prozent für Marine Le Pens Front National (FN) und 24 Abgeordnete für Straßburg. Ein Drittel der 74 Abgeordneten aus Frankreich wurde aufgrund eines rechten Programms gewählt, das die legitime Enttäuschung über die Fehler der nationalen Regierung mit der Forderung verband, die nationale Identität zu verteidigen. Diese wird aus Sicht des FN durch massive Immigration und die Globalisierung bedroht. Das Programm enthielt außerdem eine starke Zurückweisung der Europäischen Union, die in den Augen der FN das Symbol für eine grenzenlose globalisierte Gesellschaft ist. Konfrontiert mit dieser wachsenden negativen Stimmung haben die pro-europäischen Kräfte (und die Regierung) Frankreichs die größten Niederlagen einstecken müssen. Sowohl die französischen Grünen als auch die relativ neue mitte-rechts Partei UDI-Modem, die offen mit einem proeuropäischen Kurs warb, erreichten enttäuschende Ergebnisse. Mit fast 9 Prozent und 1,7 Millionen der Wählerstimmen konnte Europe Écologie-Les Verts (EELV) zwar einen historischen Tiefpunkt verhindern. Aber das Wahlkreissystem, das die nationalen Listen in 2004 ersetzte, benachteiligt kleine Parteien. Damit schlug sich das an sich gar nicht so schlechte Ergebnis in einem schweren Verlust von 10 Mandaten nieder, was nur noch 6 Mandate für EELV bedeutet.

Natürlich wirkte sich die Abwesenheit des nun pensionierten Dany Cohn-Bendit,  Mediendarling der Europapolitik in der französischen Szene, negative auf die Anziehungskraft und die Reichweite von EELV aus. Die französischen Grünen haben es vermieden, sich zu stark an Danys Erbe zu orientieren und entwickelten stattdessen eine kämpferische und kritische Kampagne was den Zustand der EU angeht. Diese war angelehnt an die europäische Kampagne „vote green to change Europe“. Der Widerstand zu dem Handelsabkommen mit den USA (TTIP) half bei einer Mobilisierung der Sympathisant/innen für solch einen Wandel  – trotz eines harten Wettbewerbs von extrem-rechts und der radikalen Linken zu dem Thema. In einem nationalen Kontext mit einer stärker werdenden Abneigung gegen Globalisierung war es essentiell, die europäische Integration als ein Bollwerk gegen die gefürchteten negativen Effekte der globalisierten Welt darzustellen.

Unglücklicherweise war das Narrativ der EU als ein „trojanisches Pferd“ für neoliberale Politik, die das französische Modell bedroht, sehr stark in der Wählerschaft verankert. Auch blieb fast keine Zeit, die Stimmung zu ändern und die Geschichte eines Europas, das uns schützt und uns nützt, zu erzählen. Mit sechs Wochen war der Kampf zu kurz, überlagert von der Kampagne für die Kommunalwahlen im März und dem herben Verlust für die Sozialdemokrat/innen, gefolgt von dem Wechsel des Premiers und dem Austritt der Grünen aus der Regierung. Es gab kaum Raum und Zeit, um zu transportieren, dass der Euro gerettet werden muss und dass fast alle Vorwürfe an die EU eigentlich nationale Verfehlungen waren, verantwortet von Sarkozy bis Hollande. Außerdem war es schwierig, sich gegen die Story der Mainstream-Medien durchzusetzen: Diese verbreiteten, dass die extreme Rechte ohnehin die Wahlgewinner sein würden mit ihren Angriffen gegen ein „zu fremdes“ Europa, was zu komplex und zu weit weg ist.

Deutschland: Erleichterung, aber keine Entspannung

Obwohl die deutschen Grünen drei Mandate einbüßen mussten, wurde das Ergebnis mit großer Erleichterung wahrgenommen. War es doch nach dem desaströsen Bundestagswahlergebnis ein gutes Zeichen, wieder ein zweistelliges Ergebnis erreicht zu haben. Die Abschaffung der 5 Prozent Hürde, die Ukraine-Krise, die Fokussierung der CDU auf Bundeskanzlerin Merkel und die Kommissionspräsidentenkampagne von Martin Schulz machten den Wahlkampf für die Grünen nicht gerade einfach. Doch im Rahmen der eher ungünstigen Umstände kann das Ergebnis zumindest zufriedenstellend bewertet werden. Europawahlen leiden seit jeher darunter, dass sie oft für nationale Themen missbraucht werden. Die Grünen konnten sich hier mit einer klaren Kampagne gegen TTIP als eindeutiges europäisches Thema profilieren und Anhänger mobilisieren. Ansonsten wurde auf klassische Grüne Themen wie Klimawandel oder Agrarwende gesetzt. Die Eurokrise spielte in Deutschland und auch bei der Kampagne der deutschen Grünen kaum eine Rolle, im Gegensatz zu den Wahlkampagnen der Parteien in anderen europäischen Ländern.

Zwar war der Rechtsruck in Deutschland nicht so groß wie in anderen Ländern und die Stimmung nicht ganz so anti-europäisch wie in Frankreich. Doch auch hierzlande konnte die eurokritische und rechte Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) zulegen und zum ersten Mal Mandate auf europäischer Ebene erzielen. Natürlich profitierte sie auch von der geringen Wahlbeteiligung, die das bessere Abschneiden im Vergleich zur Bundestagswahl zu einem großen Teil erklärt. Jedoch zeigt das Ergebnis und die Wählerabwanderung von allen Parteien zur AfD, dass ein Teil der Bevölkerung in Deutschland deren anti-europäische Positionen teilt. Nicht unerheblich dazu beigetragen hat mit Sicherheit der auch von Konservativen geführte Diskurs über die Eurokrise, die Erzählung vom „nachlässigen Süden“, der durch die „fleißigen Deutschen“ gerettet wird. Die Grünen müssen hier selbstkritisch anerkennen, dass sich die alternative Krisenerzählung in Deutschland nicht durchgesetzt hat: Dass die Krise nicht alleinige Schuld der betroffenen Länder war, sondern auch durch zu laxe Regulierung von Finanzmärkten und Banken ausgelöst wurde. Dass die hohe Staatsverschuldung in den Krisenländern zu einem großen Teil durch die Rettung der Banken entstanden ist. Und dass auch viele deutsche Akteur/innen mit Steuergeldern der Krisenländer „gerettet“ wurden bzw. gerade Deutschland von der Krise profitiert. Es bleibt die Aufgabe, Europa besser zu erklären – insbesondere die komplexen Zusammenhänge der Krise – und das Vertrauen in die europäische Integration wiederherzustellen. Ohne dabei grüne Ideen für eine bessere EU-Politik aus dem Blickfeld zu verlieren.

Die gemeinsame grüne Herausforderung für ein politisch stärker integriertes Europa braucht ein erneuertes gemeinsames Verständnis. Frankreichs Partner/innen sollten verstehen, dass dieses Land der neue „kranke Mann“ von Europa geworden ist. Hier treffen die Sorgen der nördlichen Gesellschaften, die Angst haben vor einem Europa, in dem die reichen Länder für die Armen zahlen, auf die Sorgen der südlichen Gesellschaften, die sich allein gelassen und unter Druck gesetzt fühlen von ihren Partnern, während sie in Rezession und Armut versinken. Kurzum, die Französinnen und Franzosen haben genauso Angst davor, für Griechenland zu bezahlen wie davor, ein neues Griechenland zu werden. Frankreichs Situation muss mit Vorsicht angegangen werden. Wenn Frankreich strauchelt, ist das ganze europäische Projekt in Gefahr. Die deutschen Grünen müssen die Regierung vor sich her treiben, um endlich die Spaltung Europas zu überwinden, anstatt es durch die einseitige Sparpolitik zu dominieren und zu spalten.

Die Wahlergebnisse der Grünen aus gesamteuropäischer Sicht

Für die Gesamtstärke der europäischen Grünen Fraktion ist ausschlaggebend, dass insbesondere die beiden größten Delegationen, die französische und die deutsche, Mandate verloren haben. Das Wahlergebnis für die Grünen sieht ansonsten relativ positiv aus. Noch junge Grüne Parteien konnten in einigen Ländern zum ersten Mal Mandate erlangen, so die spanischen Grünen (EQUO), die ungarische Grüne Partei (LMP) und die kroatischen Grünen (ORaH). Außerdem hat es die neue ungarische Partei PM geschafft, einen Abgeordneten zur Grünen Fraktion zu entsenden.  Dadurch und durch den Zugewinn einzelner fraktionsloser Abgeordneter wie z.B. Igor Soltes aus Slowenien wird die Fraktion nun regional diverser als vorher. Erstmals überhaupt gibt es außerdem grüne Abgeordnete aus den „neuen“ EU-Beitrittsländern. Viele Delegationen so wie die österreichische oder die schwedische haben Mandate dazu gewonnen. Die Kehrseite der Medaille sollte auch nicht verschwiegen werden. So konnte weder für die Grünen aus Griechenland noch aus Portugal der Wiedereinzug ins Europaparlament gesichert werden. Sowohl die tschechischen als auch die irischen Grüne verpassten knapp den Einzug ins Parlament.

Viele Beobachterinnen und Beobachter sind sich einig: Es war einer der europäischsten Wahlkämpfe der Grünen. Statt nur nationalen Kampagnen, die nebeneinanderherliefen, gab es eine genuin europäische Kampagne, deren Elemente überall in Europa genutzt wurden. Neben der Plakat- und Onlinekampagne der Europäischen Grünen Partei (EGP) sowie einem ernsthaften, europäischen Wahlprogrammprozess hängt dies insbesondere auch mit den beiden Spitzenkandidat/innen zusammen. Diese wurden bei der „Green Primary“, der Urwahl im Internet, zum ersten Mal von der EGP bestimmt. Von der gemeinsamen europäischen Kampagne profitierten insbesondere die kleineren Mitgliedsparteien der EGP. In den europaweiten Debatten wurden die Grünen als klare inhaltliche und personelle Alternative neben dem „Einheitsbrei“ von Juncker und Schulz wahrgenommen. Auch in Richtung der oft herbei gewünschten europäischen Öffentlichkeit gab es Fortschritte. Die Medienpräsenz der Spitzenkandidat/innen war gesamteuropäisch und in den sozialen Netzwerken konnte man erstmals von einer wirklichen europäischen Debattenkultur sprechen.

Was das Kräfteverhältnis innerhalb des Europäischen Parlaments anbelangt, haben diesen positiven Seiten des Wahlkampfs allerdings kaum Auswirkungen. Die progressive Mehrheit von Sozialdemokraten, Grünen, Linken und den Liberalen, die sich bei verschiedenen Themen in der letzten Legislaturperiode erfolgreich zusammen getan haben, ging verloren. Zu erwarten ist eine verstärkte Zusammenarbeit der „großen Koalition“, die de facto die einzige wirkliche Mehrheitskonstellation ist. Denn auch die Konservativen haben ihre Mehrheit verloren. Die Grüne Fraktion hat sich also vom Ergebnis her stabilisiert, wird aber vermutlich weniger Einfluss im neuen Parlament haben.

Ein Ausblick

Die diesjährigen Europawahlen könnten eine Zäsur im Machtverhältnis zwischen EU-Parlament und Rat darstellen. Während die vergangenen Jahre im Zeichen einer schleichenden Machtverlagerung von EU-Kommission und Parlament hin zum Europäischen Rat standen, besteht für die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier nun die Chance, ihre Position zu stärken. Vorausgesetzt, sie gewinnen den Machtkampf um den künftigen Kommissionspräsident/innen. Die nächsten Europäischen Wahlen würden dann unter anderen Vorzeichen stattfinden, denn niemand würde dann mehr über EU-Spitzenkandidat/innen lächeln, sondern es gäbe einen wirklichen Wettbewerb in und unter den Europäischen Parteienfamilien, wer die bestgeeignetsten Kandidaten stellt. Schlecht für die Brüsseler Hinterzimmer, gut für Europas Demokratie.

Niemand, inklusive Großbritannien, konnte diese Wahlen zu einer rein nationalen Angelegenheit erklären. In diesem Sinne können die Grünen en Euroskeptiker/innen immerhin für eine Sache dankbar sein: Im Windschatten der Krise trugen sie dazu bei, diese Europawahlen zu einer Debatte über Europa zu machen – und über das Europa, was wir uns wünschen und über den Weg, wie man dort hin gelangt. Die Debatte bleibt offen, wenn man die Sitzverteilung im aktuellen Parlament betrachtet. Aber jetzt wissen die progressiven Kräfte, die sich zu einem integrierten Europa bekennen, immerhin, wo sie stehen. Es wird mit Sicherheit nicht leicht, die Unterstützung all jener Wählerinnen und Wähler wiederzugewinnen, die die Hoffnung auf das europäische Versprechen von gemeinsamen Frieden und Wohlstand verloren haben. Aber immerhin sind die Fronten klar, und die Arbeit ist es wert. Die Grünen haben hier eine besondere Aufgabe als DIE pro-europäische politische Kraft. Lasst es uns anpacken!