Die Menschenwürde in der EMRK - Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven
Diese Dissertation beschäftigt sich mit der Interpretation der Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR. Seit der ersten Erwähnung der Menschenwürde im Fall "Tyrer" von 1978 rekurriert der EGMR immer wieder auf die Würde des Menschen, um einzelne Konventionsgarantien zu begründen und zu rechtfertigen. Gesteigerte Aufmerksamkeit erfuhr dabei sicherlich der Schutz vor erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK), der besonders oft im Zusammenhang mit der Menschenwürde Erwähnung fand und von daher auch als einer der zentralen Anknüpfungspunkte für deren Einbringung gilt. In der Rechtsprechung des EGMR ist jedoch die Tendenz zu erkennen, immer weitere Bereiche des Lebens mit Hilfe der Menschenwürde unter den Schutzbereich einzelner Konventionsgarantien zu subsumieren. So stellte der EGMR u.a. bereits im Zusammenhang mit dem Folterverbot, dem Schwangerschaftsabbruch, der Sterbehilfe und dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einen Bezug zur Menschenwürde her. Mit dem Schutz des Privaten (Art. 8 EMRK) oder dem Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) treten Aspekte des Menschenwürdeschutzes hervor, die regelmäßig vom EGMR zur Heranziehung des Menschenwürde gebraucht werden.
Das ausdrückliche Auslassen der Menschenwürde als Teil der EMRK macht es notwendig, sich ihrer Definition laut EGMR auf Umwegen zu nähern. Nach einem kurzen historischen Überblick über die Entstehung des Menschenwürdebegriffs und seinen Einzug ins Recht wird der erste Teil der Arbeit sich dementsprechend mit der Bedeutung der Menschenwürde im Völkerrecht und im nationalen Recht auseinandersetzen, bevor es darum geht, in der EMRK selbst und in den ihr angeschlossenen oder verwandten Verträgen nach Hinweisen zu suchen. Im Anschluss daran werden im Hauptteil der Arbeit die Anwendungsfälle der Menschenwürde an der konkreten Rechtsprechung des EGMR untersucht und in ihren Einzelheiten analysiert werden. Denn durch das Fehlen eines ausdrücklichen Würdeschutzes in der EMRK entsteht zunächst der Eindruck, der Konvention fehle genau die letzte Verteidigungslinie, als die in der deutschen Literatur Art. 1 Abs. 1 GG betrachtet wird. Es spricht jedoch einiges dafür, der tatsächlichen Spruchpraxis des EGMR eine Auslegung der Konvention zu unterstellen, die wesentlich auf der Annahme einer konkreten Menschenwürde basiert.
Im Anschluss an die Fallanalyse sollen die ideologischen und moralischen Aspekte der Menschenwürde ausgeleuchtet werden, um sie so für eine Diskussion um rechtspolitische Perspektiven einer fortschreitenden Menschenwürdedogmatik auf EMRK-Ebene fruchtbar zu machen. Ziel der Dissertation ist es, am Ende der Arbeit ein möglichst dezidiertes Bild vom Menschenwürdeverständnis des EGMR geben zu können, um so für ein besseres Rechtsverständnis auf europäische Ebene zu sorgen und einen Beitrag für das politische und rechtliche Zusammenwachsen des Kontinents zu leisten.