Progressive Politik in pragmatischen Zeiten: Politische Narrative gesellschaftlichen Wandels

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Ausgangspunkt und zentrale These der Studie

Die Klage darüber, Deutschland sei zu einer reformunwilligen Konsensrepublik geworden, ist zwar bequem, aber wenig zutreffend. Denn sie übersieht, dass der Wille nach politischer Veränderung nach wie vor besteht, wenngleich er in den massenmedialen Diskursen bisweilen untergeht. Dies zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Mit den Mitteln der Narrativanalyse gehen die Autoren der Frage nach, wie derzeit bestehende Verhältnisse kritisch hinterfragt werden und wie sich darin progressive Veränderungsanliegen formieren.

Das Ergebnis der Studie ist, dass sich vor allem der erzählerische Modus verändert hat, in dem progressive Veränderungsanliegen artikuliert werden. Dies geschieht nicht mehr in ideologischen Begriffen und politischen Kampfstellungen. Vielmehr sind Veränderungsanliegen von dem konkreten Wunsch nach einer pragmatischen Verbesserung der Lebensverhältnisse geprägt. In gewisser Weise drückt sich darin eine neue Form der politischen Bescheidenheit aus, insofern es nicht mehr um die Veränderung oder Überwindung ökonomischer Systemzwänge geht, sondern um die Schaffung von Rückzugsräumen und einer pragmatischen Ausbalancierung von Zwang und Selbstbestimmung.

Das Ergebnis beruht auf einer explorativen Studie von fünf Veränderungsnarrativen: „Wie wir leben und arbeiten wollen“ (1), „Die Stadt der Zukunft“ (2), „Die Vielfalt selbstbestimmter Lebensformen“ (3), „Das Netz“ (4), „Neue Überschaubarkeit“ (5). In diesen unterschiedlichen Bereichen entfaltet sich verstärkt der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach Begrenzung eines als uferlos empfundenen Kapitalismus und dem Willen zum Erproben von problemorientierten Handlungsstrategien. Dieser progressive Pragmatismus ist keineswegs apathisch oder politikfern, wie es in vielen pauschalen Gesellschaftsdiagnosen („Generation Merkel“) meist unterstellt wird. Vielmehr werden in den lokalen Kontexten durchaus starke Veränderungsanliegen formuliert und in praktische Perspektiven überführt, wenngleich der zentrale Bezugspunkt dieser Anliegen eben nicht mehr die hohe Politik und Ökonomie ist. Selbst der berechtigte Drang der gesellschaftlichen Mitte, ihren als fragil empfundenen sozialen Status nicht zu verlieren, entspringt weniger einem individuellen Egoismus, sondern einem pragmatischen Verständnis von Sicherheit, das sich an einem überschaubaren und zumindest halbwegs selbstbestimmten Lebensmodell orientiert.

Progressive Narrative und ihre Erzählweisen

Dass das Progressive zunehmend in pragmatischen Kategorien gedacht wird, lässt sich aus einer narrativen Analyse des politischen Sprachgebrauchs schließen. In den hier identifizierten Narrativen sticht dabei insbesondere das erzählerische Spiel mit strukturbildenden Metaphern hervor. Der Gebrauch von Metaphern wie Dorf oder Hamsterrad geht insofern über bloße Beschreibungen hinaus, als dass sie soziale Zustände und Zukunftsentwürfe bildlich einkleiden und die Vorstellungen darüber prägen, wie man sich gegenwärtig zu verhalten hat. Der Vorteil der narrativen Sinngebung liegt in ihrer Fähigkeit, komplexe Gesellschaftsprobleme zu plausibilisieren, emotionale Bindungen zu mobilisieren, kollektive Identitäten anzusprechen und eine mitreißende Sprache zu entwickeln.

Folgende verbindende Muster lassen sich in den Erzählweisen erkennen:

  1. Der Wunsch nach politischer Veränderung ist kleinteilig und meist auf konkrete Probleme des alltäglichen Lebens bezogen. Progressiv ist, was lokal erfahrbar ist und zur pragmatischen Verbesserung der Situation führt. Man fordert nicht das Unmögliche, orientiert sich vielmehr an realistischen Zielen, beispielsweise einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder einer freundlichen Infrastruktur in Städten für Radfahrer und Fußgänger. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Problematisierungen ebenso kleinteilig ausfallen. Es weist nur darauf hin, dass Lösungsstrategien für makrostrukturelle Probleme zunehmend „von unten“ gedacht werden.
  2. Ideologische und pädagogische Töne werden vermieden. Nur selten werden andere Gruppen stereotypisiert oder zur Konstruktion mobilisierender Feindbilder gebraucht. Es geht weniger um Gerechtigkeit als moralischen Appell, sondern um Fairness und Rücksicht in gemeinwohlorientierter Perspektive. Wurden die alten Sozialkämpfe etwa gegen ökonomisch privilegierte Gesellschaftsschichten geführt, geht es heute eher darum jenseits von Lagerbildungen generell eigene Freiräume zu schaffen. Allerdings artikuliert sich der Wille nach Selbstbestimmung und Sichtbarkeit im Kontext der Bemühungen um Anerkennung und Akzeptanz neuer Lebensformen noch kämpferisch. Das hängt vor allem damit zusammen, dass diese Konfrontation vergleichsweise neu ist, ihre Erzählformate sich erst ausprobieren müssen und deshalb noch keine diskursiven Müdigkeitserscheinungen aufweisen. Eine Rolle spielt dabei auch, dass die Rollenkonstruktionen (Ausländer-Deutscher u.a.) hier noch dichotomisch konfiguriert sind und entsprechende Übergangszonen schwierig zu erzählen sind.

Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist die Änderung der Zeitperspektive von politischen Veränderungsanliegen. Ihr zeitlicher Bezugspunkt wird vorgelagert. Es ist nicht mehr die ferne, sondern die herangerückte, greifbare Zukunft, die den imaginären Raum der Hoffnung, Planung und Gestaltung absteckt. Das ist eine alltagserzählerische Gegenbewegung zu den popkulturellen Entwürfen, in denen die Zukunft fast ausschließlich als apokalyptische Endzeit präsentiert wird. Zwar schwindet angesichts permanenter Krisenerfahrungen ein pauschaler Zukunftsoptimismus. Jedoch ist eine Zuversicht hinsichtlich der Veränderungsfähigkeit der Gesellschaft noch erkennbar. Sie hat lediglich ihre Zeitordnung umgestellt. Diese basiert nicht mehr auf dem Wunsch zur Erfüllung großer Utopien, sondern auf dem Glauben an die eigene Gestaltungsfähigkeit im persönlichen Umfeld und in überschaubaren Räumen.

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
Juli 2015
Herausgegeben von
Denkwerk Demokratie e.V. in Kooperation mit Heinrich-Böll-Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung
Seitenzahl
64
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
Sprache der Publikation
deutsch
ISBN / DOI
-
Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort  4
  • Kurzzusammenfassung 6
  • 1. Gesellschaftspolitischer Befund und Ausgangspunkt der Studie 8
  • 2. Systematik – Was ist Veränderung? 9
  • 3. Methodisches Vorgehen 13
  • 4. Konzeptioneller Hintergrund 14
  • 5. Narrative der Veränderung 16
  • 5.1 Wie wir leben (und arbeiten) wollen 17
  • 5.2 Die Stadt der Zukunft 26
  • 5.3 Die Vielfalt selbstbestimmter Lebensformen 30
  • 5.4 Das Netz 38
  • 5.5 Neue Überschaubarkeit 43
  • 6. Ergebnis der Studie 47
  • 7. Literatur  50
  • 8. Datenkorpus 57
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