Die madroshe der westsyrischen Kirche: Eine analytische und vergleichende Studie
Die Melodien der westsyrischen Kirche werden bis auf den heutigen Tag mündlich überliefert. Im Laufe der Jahrhunderte entstand mit der Entfaltung und Organisation der Stundengebete eine Vielfalt an liturgischen Gattungen und Texten. Die Notwendigkeit von Speicherung, Abruf aus dem Gedächtnis und oraler Tradierung brachten das Medium des beth gazo hervor, des wichtigsten Referenzbuchs der syrischen liturgischen Hymnen: In ihm sind die Texte der Modellstrophen festgehalten, anhand derer die dazugehörigen Melodien gelernt und memoriert werden. Der beth gazo klassifiziert die Melodien in elf Gattungen (Ausgabe des verwendeten beth gazo: Holland 1981), von denen die Gattung der madroshe auf Ephraim den Syrer (4. Jh.) zurückgeht und damit zum ältesten Gattungsbestand der syrischen Kirche gehört.
Während die Manuskriptüberlieferung der madroshe eine Fülle an Texten aufweist, ist der liturgische Gebrauch heute auf vier Stücke beschränkt, von denen jedes gemäß dem Achttonsystem (Oktoechos) der syrischen Kirche auf acht verschiedenen Melodieweise gesungen werden kann. Zu einem madrosho sind für bestimmte Festtage noch drei zusätzliche Melodieweisen überliefert, so dass sich eine Gesamtzahl von 35 Melodien ergibt.
Diese 35 Melodien der madroshe bilden im engeren Sinne den Gegenstand meines Dissertationsprojektes. Neben einem einleitenden ersten sowie einem historischen und forschungsgeschichtlichen zweiten Teil steht als dritter Teil die Analyse der madroshe im Zentrum meiner Untersuchung. Meine Zielsetzung ist es, folgenden Fragen nachzugehen:
- Welche Gesetzmäßigkeiten lassen sich für den Aufbau des Melodiekorpus der madroshe erkennen?
- Mit welchen Mitteln erzeugt diese mündliche Tradition eine erinnerbare, im Gedächtnis gespeicherte und abgerufene Struktur?
- Wie verhalten sich die Melodien zum System des Oktoechos? Gibt es für die acht Töne auch musikalische Kriterien?
- Worin liegt, bei aller Raum und Zeit geschuldeten Varianz, die Identität der Stücke?
Meine Untersuchung basiert im Wesentlichen auf zwei methodischen Verfahren:
1. Aufgrund der Mündlichkeit der Überlieferung musste ich zunächst ein aussagekräftiges Melodiekorpus zusammenstellen, das Melodien verschiedener Informanten aus unterschiedlichen Regionen und Zeiten enthält. Mit einer historischen Tiefenschärfe von ca. 90 Jahren und einer regionalen Verteilung, die mit Aleppo (Syrien), Edessa und dem Turabdin (beides Türkei) wichtige Zentren des alten syrisch-christlichen Siedlungsgebiets abdeckt, bieten meine Quellen jenen geographischen und zeitlichen Querschnitt, der von der wissenschaftlichen Fragestellung gefordert ist.
2. Eine bereits verfügbare Methode zur Analyse einstimmiger traditioneller Melodien wurde in den 1960er Jahren von Nicolas Ruwet erarbeitet. Für mein Dissertationsprojekt habe ich diese Methode aufgegriffen, aber noch erheblich verfeinert und erweitert.
In einem abschließenden vierten Teil will ich die Ergebnisse meiner Analysen vorstellen und mit Perspektiven für weitere Forschung verknüpfen.