Das Unbehagen an der Moderne

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Das Nachdenken über die Moderne zeigt sie nicht nur als unvollendetes, sondern auch als unvollendbares Projekt

Befreiung oder Bedrohung? Die Teilnehmer/innen der Sommerakademie haben am 11. und 12. September über die Widersprüchligkeiten und Grenzen der Moderne diskutiert. Der Tagungsbericht.

Die Moderne: Ist sie zu laut, zu schnell, zu fremd? Angesichts neuer nationalistischer Bewegungen, dem darin wachsenden Antifeminismus und Ruf nach Re-Traditionalisierung stellt sich sehr aktuell die Frage nach dem Unbehagen an der modernen Lebenswirklichkeit. Viel Stoff für das intensive Seminar, das auch in diesem Jahr durch eine größere Gruppe von Studierenden aus dem Netz des Böll-Studienwerks bereichert wurde. Was also ist die Moderne? Warum ist sie unbehaglich?

Bernd Ladwig,  Professor für Politische Theorie an der Freien Universität Berlin, charakterisierte die Moderne in seinem Eröffnungsvortrag als "Kondition radikaler Zuständigkeit": Wir alle sind ständig und radikal verantwortlich dafür, wie wir unser individuelles Leben, aber auch das Zusammenleben in Gesellschaft gestalten.

Die moderne Kondition

Die Aufklärung hat uns freigesetzt. Weder Religionen noch die Natur noch Geschichtsdeutungen bieten zwingende Ankerpunkte für Verbindlichkeiten außerhalb unseres Lebens. Die Ordnung, in der wir leben, ist weder vorgegeben noch unausweichlich und entsteht erst in der Praxis durch unser Handeln. Diese „moderne Kondition“ der unbedingten Verantwortung ist zunächst wertfrei; sie kann sowohl befreiend als auch belastend erlebt werden. Jenseits der „Kondition“ aber ist die Moderne auch zu betrachten als “Projekt": Die Moderne als Projekt ist gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Bejahung der modernen Kondition. Aus der Affirmation, das Zusammenleben selbstverantwortlich zu gestalten, erwachsen in der Tradition der Aufklärung die auf Werten basierenden "modernen" Rechte: Menschenwürde, Menschenrechte, demokratische Grundwerte.

Aufgrund dieser begrifflichen Überlegungen unterschied Ladwig dann das Unbehagen in der Moderne vom Unbehagen an der Moderne. Das Unbehagen in der Moderne beschleicht all jene, die die Moderne als Projekt grundsätzlich annehmen - die Selbstverantwortlichkeit also grundsätzlich bejahen - aber dennoch Kritik üben. Sie lässt sich sehr allgemein nach zwei Richtungen sortieren: Zum einen sind die Werte, auf die wir unsere gesellschaftlichen Verbindlichkeiten aufbauen nicht widerspruchsfrei und geraten in Spannung zueinander: beispielsweise in dem individuellen Recht aller Menschen, „nach Glück zu streben“ und selbst Wohn- und Lebensort wählen zu können -  und der gegenüberstehenden kollektiven Notwendigkeit begrenzter Räume, um dieses Zusammenleben für die Gruppe innerhalb dieser Grenzen verbindlich organisieren zu können. Ebenso nimmt der Grundwert der Menschenrechte Schaden, wo er geopolitischen und taktischen Interessen geopfert/ untergeordnet wird.

Eine zweite Richtung der Kategorie „Unbehagen in der Moderne“ wird verursacht durch sich verselbständigende Dynamiken der Institutionen selber, die für die Vergesellschaftung in der Moderne hervorgebracht worden sind. Institutionen der Politik, der Verwaltung, des Marktes (resp. Finanzmarktes) entziehen sich der Selbstverantwortung des kollektiven Zusammenlebens, wenn sich die Werte nicht mehr in ihnen spiegeln.

Anders als diese interne Kritik der Moderne lehnt das Unbehagen an der Moderne die radikale Verantwortlichkeit in der modernen Kondition ab.  Solche antimodernen Bewegungen suchen nach neuen Ankerpunkten unbedingter Verbindlichkeit, etwa in Form von Gottesstaaten, tradierten Geschlechterordnungen oder einer Renaissance der Ständegesellschaft.

Die Postismen

Anschließend an die Keynote ging Mark Arenhövel, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Dresden, auf ein Merkmal der aktuellen Moderne-Diskussion genauer ein: Auf die "Postismen". Ohne genaue Definition wird vielerorts von Post-Bewegungen und -Entwicklungen gesprochen. In dieser Rhetorik von Zeitenwende ("etwas ist zu Ende gegangen") zeigen sich Diskontinuitäten als Wesensmerkmal der Moderne. Auf individueller Ebene resultiert daraus der Zwang zur ständigen Neubeschreibung des eigenen Lebens - und damit auch der andauernden Selbstverantwortlichkeit der Individuen für ihr Leben und die kollektive Ordnung. Für die politische Kultur hat diese Kontingenz von Ordnungen und Lebensentwürfen die Konsequenz, für Argumente eintreten zu müssen, ohne sie letztbegründen zu können.

Die folgende Diskussion – moderiert durch Arnd Pollmann – konzentrierte sich stark auf das Unbehagen an den Institutionen (in) der Moderne und auf die Frage danach, wie der Befund zustande kommt, dass wir unsere Werte in "unseren" Institutionen nicht hinreichend verwirklicht sehen. Legitime politische Regulierung ist hier herausgefordert durch Transnationalisierung und gesellschaftliche Heterogenisierungs- und Dezentralisierungsprozesse. Legitime Marktwirtschaft wird aktuell als Entbettung der Wirtschaft aus ihrem gesellschaftlichen Rahmen wahrgenommen; als Kontrollverlust tritt uns das Primat der Wirtschaft über die Politik gegenüber. In der Gleichzeitigkeit von Industrialisierung und Aufklärung war das Versprechen von Selbstbestimmung - und damit auch Selbstverantwortung - ein ökonomisches und politisches Argument gewesen. Politik aber sei heute nur noch Teil der Ökonomie. Gerade die Verteidiger der "Moderne als Projekt" müssen sich einer öffentlichen Auseinandersetzung über solches Institutionenversagen und das Versprechen einer Einhegung der Märkte in Institutionen offensiv stellen.

Die Moderne und ihre Grenzen

Auf die Grundsatzdebatte am Freitagabend folgten am Samstagmorgen drei Panels zu einzelnen Aspekten des Unbehagens in beziehungsweise an der Moderne: Geprüft wurde die Einordnung der Debatten um Grenzen, um den Islamismus und um Antifeminismus.

Zum Auftakt führte Richard Stöss, Parteien- und Rechtsextremismusforscher an der Freien Universität Berlin, einige Überlegungen zur Ambivalenz von Grenzen aus, die er zunächst in einen Zusammenhang mit dem "Doppelcharakter der Globalisierung" stellte: Die Globalisierung wird in ihrer Entgrenzung von Nationalstaaten und der zunehmenden Liberalisierung als Bedrohung erlebt und schafft damit ein Bedürfnis nach Schutz, Sicherheit und Bindung. Auf dieses Bedürfnis reagiert die Forderung nach kulturellen Grenzen.

Ob diese aber die fehlende Sicherheit, Bindung und Orientierung bieten können, bleibt fraglich. Denn während Grenzen strukturierend wirken und über die Abgrenzung Integration in ihrem Innern ermöglichen, bleiben sie doch soziale Konstrukte. Deshalb, so Stöss, müsste demokratisch entschieden werden, wo es Grenzen gibt und welche. Da territoriale Grenzen kein Identitäts- oder Sicherheitsbedürfnis befriedigen können, könnte ein Wertekonsens als solche Grenze wirken. Um glaubwürdig zu sein, müsste dieser Konsens jedoch zunächst von den Staaten selbst eingehalten werden.

In Sicherheit und Freiheit

An die Glaubwürdigkeit dieser "Wertegemeinschaft" knüpfte Mekonnen Meshgena, Referent der Heinrich-Böll-Stiftung für Migration und Diversity in seinem Kommentar an: Er beschrieb Europa als einen Raum der Sicherheit und Freiheit, der sich im Inneren immer weiter entgrenzt, nach außen jedoch immer stärker abgrenzt.  Die Widersprüchlichkeit dieser - auch wertbasierten - Grenze wird in Europa deutlich, wenn die Staaten, die Werte der Menschlichkeit und Menschenwürde für sich in Anspruch nehmen, zusehen, wie flüchtende Menschen im Mittelmeer sterben.

In der folgenden Diskussion ging es unter anderem darum, dass Grenzen und Renationalisierung häufig als völkische Argumente wahrgenommen werden, es aber auch eine linke Perspektive gibt: So könnten sich Demokratien nur in begrenzten Räumen - bisher Staaten - konstituieren. Gleichzeitig wurde in der Diskussion auch deutlich, dass im Bedürfnis nach Sicherheit zwischen einer ökonomischen und einer kulturellen Seite unterschieden werden kann, auf die differenziert reagiert werden muss. Gerade in Bezug auf die Frage nach der Unterbringung von Flüchtlingen muss genau analysiert werden, ob es um ökonomische Fragen nach der Funktionsweise und Umstrukturierung von Sozialsystemen geht und wo auf der anderen Seite Menschen identifikatorisch bedingte Angst vor Entgrenzung und Veränderung ihrer Kultur haben.

Moderne und Islamismus

Im zweiten Panel gab Abbas Poya, Privatdozent für Islamisch-Religiöse Studien an der Universität Erlangen, einen Vortrag zur Geschichte des Islamismus. Bis zur iranischen Revolution 1978/79 stellte der moderne Islam, wie er im 19. Jahrhundert vom weltkundigen, liberalen Gelehrten al-Afghani geprägt worden war, die vorherrschende Strömung in den islamischen Kulturzentren dar. Seitdem aber gewann der Wahhabismus an Einfluss, der auf den dogmatisch-schriftgläubigen ʿAbd al-Wahhāb (18.Jhd) zurückgreift und den meisten religiös-fundamentalistischen Strömungen zugrunde liegt - sowohl in Saudi-Arabien als auch im Islamischen Staat.

Als Kennzeichen des fundamentalistischen Islamismus beschrieb Poya erstens ein strikt wörtliches Verständnis des Korans und anderer islamischer Textquellen, zweitens die Ablehnung jeglichen zeitgemäßen oder abweichenden Interpretationsversuchs und drittens die Legitimierung militärischer Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Islamauffassung.  Dagegen steht die islamische Moderne mit dem Anliegen, Menschenrechte und Demokratie als Werte zu akkulturieren, aber im eigenen kulturellen Rahmen auszugestalten. 

Die Grenzen der Moderne

Im abschließenden Panel wurde - gewissermaßen als Grenze der Moderne – mit der feminismusfeindlichen Bewegung ein Beispiel der europäischen Antimoderne thematisiert. Andreas Kemper, Publizist und Soziologe, zeigte die feminismusfeindlichen Argumentationsmuster in der AfD auf, die sich auf Naturalisierungen des binären Geschlechterverhältnisses, Biopolitisierungen, "Anti-Political-Correctness"-Rhetorik, sowie Anti-Staatlichkeit stützen. Astrid Rothe-Beinlich, Parlamentarische Geschäftsführerin der Thüringer Landtagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen und ehemalige Frauenpoltische Sprecherin des grünen Bundesvorstands, ergänzte den Vortrag um Erfahrungen mit der AfD aus dem Thüringischen Landtag. Dort sind in familien- und genderpolitischen Fragen häufig Schulterschlüsse von AfD und CDU zu erleben. Am Ende blieb so die Frage: Wem bieten die traditionellen Familienleitbilder Sicherheit und Orientierung, und wie anschlussfähig ist ihr Antifeminismus für weitere Gesellschaftskreise – auch über das christdemokratische Lager hinaus bis in linksliberale Kreise?

Am Ende war deutlich: Eine Reihe weiterer Einzelthemen würde die genauere Betrachtung lohnen. Das Nachdenken über die Moderne zeigt sie nicht nur als unvollendetes, sondern auch als unvollendbares Projekt, das eine Herausforderung für alle bleibt, die sich einer aufgeklärt-wertegebundenen Welt verpflichten.

 

Die Vorträge der Sommerakademie zum Nachlesen: