Dicke Luft in Delhi

Demonstration zu einem Autofreien Tag in Delhi, November 2015

Smog und Staus sind zurück: Nach einem zweiwöchigem Probelauf zur Rationierung des Betriebs privater Kraftfahrzeuge herrscht seit Mitte Januar wieder leidvoller Normalzustand in Delhi. Die Stadtregierung denkt an eine Neuauflage des überraschend populären Experiments.

In Indien ist man stolz darauf, dass das Land heute eine höhere BIP-Wachstumsrate als China hat. Zugleich ist die Luftverschmutzung in Delhi und anderen indischen Großstädte oft noch schlimmer als etwa in Beijing, wie man inzwischen allerorten lesen kann. In Delhi liegen in diesem Winter die Messwerte für Feinstaub häufig um das 5-10fache über den zulässigen Grenzwerten. Die Stadt keucht, und vor allem Asthma-Betroffene, Kinder und alte Menschen leiden massiv.

Drastische Maßnahmen

Nach einer Warnung des Obersten Gerichtshofs im vergangenen Dezember ergriff die Stadtregierung Delhi unter dem populären Chief Minister Arvind Kejriwal eine drastische Maßnahme: Vom 1. bis zum 15. Januar 2016 durften private KFZ von Montag bis Samstag zwischen 8:00 und 20:00 Uhr nur noch jeden zweiten Tag unterwegs sein: KFZ mit geraden Endziffern im Nummernschild an geraden Daten, und umgekehrt (kurzgefasst „odd-even“). Nach heftigen Debatten wurden einige Ausnahmeregelungen zugelassen, zum Beispiel für Gas-betriebene Fahrzeuge. Eine Ausnahme gab es auch für Frauen, die allein oder mit kleinen Kindern unterwegs waren; angesichts verbreiteter sexueller Belästigung im öffentlichen Raum und vor dem Hintergrund der enormen politischen Nachwirkungen des „Nirbhaya“-Vergewaltigungs- und Mordfalls vom Dezember 2012 entschied die Stadtregierung, in dieser Frage alle Risiken zu vermeiden.

Trotz schnellen Ausbaus der U-Bahn in den vergangenen Jahren ist das öffentliche Nahverkehrssystem in Delhi nicht gut. Es umfasst neben Bussen auch „Auto-“ und Fahrrad-Rikshas, die als lokale Verteiler und Zubringer zum Metro-System dienen. Unzuverlässigkeit, Überfüllung und auch Sicherheitsprobleme speziell für Frauen gelten denn auch oft als Hauptargumente für die Nutzung privater Fahrzeuge durch diejenigen, die es sich leisten können.

Für die Dauer von „odd-even“ rief die Stadtregierung die Bevölkerung zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf und setzte Schulbusse zur Ergänzung des öffentlichen Busverkehrs ein. Das zeitlich begrenzte Experiment fand somit nicht wirklich unter Normalbedingungen statt; die Schulen blieben bis 15. Januar geschlossen, und viele Bewohner der Stadt schalteten in eine Art Notfallmodus, reduzierten ihre Alltagswege oder verschoben das Eine oder Andere auf die zweite Hälfte des Monats Januar.

Überraschung: Es funktionierte

Delhi gilt seit langem – und das zu Recht - als chaotische Stadt mit anarchischen Verhältnissen im Straßenverkehr. Umso überraschender war es vielleicht, dass „odd-even“ einigermassen funktionierte – zumindest als Halbmonats-Experiment. Die Stadtregierung unter Arvind Kejriwal vertrat von Anfang an den Standpunkt, dass „odd-even“ ein Erfolg sei, wenn die Menschen Delhis sich daran hielten – und Kejriwal bedankte sich immer wieder dafür, dass sie dies im Großen und Ganzen auch taten.

Tatsächlich blieben die Zwangsmaßnahmen begrenzt; stattdessen beließ man es bei Ermahnungen und einigen hundert Strafmandaten pro Tag und setzte auf Überzeugungsarbeit. Einzelne prominente Persönlichkeiten, von denen man dies sonst nicht unbedingt erwartet hätte (etwa hohe Richter oder Politiker), beschrieben der Presse, wie sie nun mit ihren Kolleginnen und Kollegen Wege zur Arbeit abstimmen und Car-Sharing betrieben. Die positive Botschaft und das Wissen, dass all dies zunächst einmal ein zeitlich befristetes Experiment sein werde, trugen wesentlich zu dieser positiven Gesamtstimmung bei.

Keine Frage: Das Experiment hat großes öffentliches Interesse und Debatten hervorgerufen, und es hat dazu beigetragen, dass Fragen des öffentlichen Verkehrs und der Luftverschmutzung in Delhi breit diskutiert wurden.

Auswirkungen auf Luftqualität begrenzt

Hat „odd-even“ zur Verbesserung der Luftqualität beigetragen? Die meisten Menschen in Delhi haben wohl wenig oder gar nichts davon gespürt. Die Großwetterlage in der ersten Januarwoche trieb die Luftverschmutzungswerte extrem hoch; eine Wetteränderung in der zweiten Januarwoche brachte Erleichterung. Nach Ende des Experiments stiegen die Werte gleich wieder an, doch generell scheinen allgemeine Wettereffekte Verbesserungen der Luftqualität durch Fahrzeugreduzierung aufzuwiegen.
Expertinnen und Experten streiten über Details, doch insgesamt hat die Reduzierung der Feinstaubwerte wohl kaum über 10% gelegen (was etwa dem Anteil des eingesparten Autoverkehrs entspräche). Es gibt zahlreiche weitere Quellen der Luftverschmutzung in Delhi: andere Verkehrsmittel wie Motorräder (doppelt so viele wie PKW) und LKWs (die schon seit Jahren nur nachts durch die Stadt fahren dürfen); Baustellen und zahllose unbefestigte, unbegrünte Flächen, die enorm viel Staub produzieren; Kohlekraftwerke am Stadtrand; das Abbrennen von Stoppelfeldern durch Bauern im Umland.

In einigen Monaten will die Stadtregierung Staubsauger für das Kehren der Straßenränder einsetzen, aber an vielen anderen der genannten Faktoren kann städtische Politik aus technischen oder politischen Gründen kurzfristig nicht viel ändern. So ist eine Erweiterung der "odd-even"-Politik etwa auf Motorräder schwer vorstellbar. Das würde wohl nicht nur zu einem Kollaps des öffentlichen Nahverkehrs führen, sondern auch zu ernsthaftem politischem Protest, denn dies träfe wohl vor allem die Kernwählerschaft Arvind Kejriwals, während unter der PKW-fahrenden Mittelklasse tendenziell  überproportional viele Wählerinnen und Wähler der nationalen Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) sind.

Deutlich bessere Verkehrssituation

Während „odd-even“ bei der Luftqualität allenfalls begrenzte, für die meisten Menschen kaum direkt erfahrbare Erfolge hatte, war jedoch etwas anderes sehr positiv spürbar: Solange „odd-even“ galt, verschwanden die Staus, oder sie reduzierten sich deutlich. Die Reisezeiten innerhalb von Delhi wurden wesentlich kürzer. Das überrascht letztlich kaum, denn PKWs verbrauchen offenkundig deutlich mehr Straßenraum als andere Formen der Mobilität. Aber es war für viele in Delhi eine positive Überraschung, und nach Ende des „odd-even“-Experiments war eine regelrechte Nostalgie spürbar, wenn man sich an die freien Straßen und kurzen Fahrtzeiten erinnerte.

Wie geht es weiter?

Die Stadtregierung unter Arvind Kejriwal hat inzwischen begonnen, öffentlich darüber nachzudenken, ob und wie „odd-even“ weitergeführt werden kann. An eine Neuauflage in zwei bis drei Monaten ist gedacht, wenn Schulbetrieb und Examen weitgehend abgeschlossen sein werden. Der „Co-Benefit“ freier Straßen wird in der Debatte eine wichtige Rolle spielen.
Die Stadtregierung hat mehrere Probleme zu lösen, neben Sicherheitsfragen vor allem für Frauen und Schulkinder auch das Risiko, dass Wohlhabendere sich einfach ein Zweitfahrzeug mit dem „korrekten“ Kennzeichen beschaffen, um den Restriktionen aus dem Weg zu gehen. Erfahrungen etwa in Mexiko-City scheinen zu belegen, dass die dann erfolgende Beschaffung von (oft sehr alten) Zweitfahrzeugen zu einer negativen Gesamtbilanz in Sachen Luftverschmutzung führen kann.
Es ist unklar, wie man dem in Delhi entgegensteuern kann. Eine Zweitwagensteuer dürfte angesichts der vorherrschenden Familienstrukturen in Indien kaum funktionieren, denn es findet sich immer ein Familienangehöriger ohne eigenes Auto, auf den die Zulassung erfolgen kann. Eine Beschränkung oder Verteuerung des Rechts auf Zulassung eines Fahrzeugs in Delhi (sei es in Verbotsform oder per Auktion der KFZ-Zulassung, wie dies in Singapur praktiziert wird) trifft den Mittelklassen-Traum von Mobilität ins Herz. Er könnte auch auf den  Widerstand der zahlreichen Menschen in Delhi treffen, die – mit viel Optimismus übrigens – überhaupt erst auf den Aufstieg in diese Mittelklasse hoffen, während sie noch mit dem Moped unterwegs sind.

Ein anderer Politikstil

Es ist begrüßenswert, dass die Stadtregierung von Delhi eine öffentliche Debatte zu diesen Fragen führt. Der partizipative Ansatz, der auf Gemeinsinn und positive Anreize (statt auf drakonische, aber oft kaum implementierte Strafen für Fehlverhalten) setzt, ist ein in Indien seltener Stil der Politik. Es bleibt abzuwarten, wie weit er trägt. Zugleich sollte die Stadtregierung Delhis zügig verlässliche Aussagen über zukünftige Regelungen treffen, so dass Betroffene planen können. Ohne solche verlässlichen Ansagen weiß niemand, ob die Anschaffung eines elektrischen Fahrzeugs sinnvoll ist, oder die Umrüstung eines privaten PKWs auf Flüssiggas.

Arvind Kejriwal – und Delhi! – haben einmal mehr gezeigt, dass sie für Überraschungen und Innovationen in der indischen Politik gut sind.