Parlamentswahlen in Georgien

Vor einigen Tagen hat die georgische Bevölkerung einen Teil des 9. Parlaments seit der Unabhängigkeit des Landes gewählt. In mehr als 50 Einpersonenwahlkreisen ist eine zweite Wahlrunde vorgesehen.

Vor einigen Tagen hat das georgische Volk einen Teil des 9. Parlaments seit der Unabhängigkeit des Landes gewählt. (Für über 50 Einpersonenwahlkreise wurde ein zweiter Wahlgang angesetzt). Zum ersten Mal seit Inkrafttreten der Verfassungsänderungen 2013, die Georgien zu einer semipräsidentiellen Republik gemacht haben, fanden jetzt wieder Parlamentswahlen statt. Georgien hat seither ein Regierungssystem, bei dem der Premierminister, der vom Parlament gewählt wird, mehr Macht hat als der Präsident.

Bei den Parlamentswahlen am 8. Oktober haben lediglich drei politische Organisationen die erforderliche Fünfprozenthürde genommen: Die Regierungspartei, Georgischer Traum – Demokratisches Georgien, bleibt mit fast 50 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Die von Ex-Präsident Mikheil Saakashvili gegründete Partei, Vereinte Nationale Bewegung, konnte ihre Stellung als zweitstärkste Oppositionspartei mit mehr als 27 Prozent der Stimmen verteidigen. Die dritte Partei, die mit genau 5 Prozent der Stimmen ins georgische Parlament einzieht, ist die vor drei Jahren gegründete Allianz der Patrioten Georgiens. Keine andere politische Partei hat es geschafft, die Fünfprozenthürde zu nehmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 51Prozent - das sind 8 Prozent weniger als bei den letzten Wahlen.

Welche ideologischen Positionen haben die Parteien, die von nun an im georgischen Parlament vertreten sein werden? Aus welchen Gründen sind andere Parteien am Einzug ins Parlament gescheitert? Welche Veränderungen lassen sich erkennen und vor welchen Herausforderungen steht Georgien nach den Wahlen?

Allgemeiner Überblick über die politische Landschaft und die Parteien, die den Einzug ins Parlament nicht geschafft haben

Die politische Landschaft in Georgien ist extrem zerklüftet. Ein Zeichen für diese Fragmentierung ist die Anzahl politischer Parteien, die sich nach den letzten Parlamentswahlen in unterschiedlichen Fraktionen zusammengeschlossen haben. Im Parlament, das 2012 gewählt wurde, gab es sieben derartige Fraktionen. Neben der Fragmentierung gibt es eine weitere Eigenheit im georgischen politischen System: Die Orientierung auf eine starke Führungspersönlichkeit. Politische Akteure richten ihre Präferenzen oft nach den Entscheidungen besonders charismatischer Führungspersönlichkeiten aus. Demzufolge stellt sich der Prozess der Umstrukturierung von Parteien recht dynamisch dar. Generell kann wohl festgestellt werden, dass sich politische Gruppierungen in Georgien eher an charismatischen Führungspersönlichkeiten und klientelistischen Netzwerken als an konkreten Ideologien bzw. programmatischen Plänen orientieren.

Eine weitere Eigenheit des politischen Systems in Georgien ist die Instabilität des Parteiensystems. Als Beispiel lässt sich hier die Tatsache anführen, dass es zwischen 1992 und 2016 insgesamt acht Parlamentswahlen in Georgien gegeben hat und dass bei jeder Wahl immer jene Parteien an die Macht kamen, die in der vorangegangenen Wahlperiode noch gar nicht existierten.

Aus wirtschaftlicher Sicht kann man unter den Hauptakteuren bei georgischen Wahlen eine zunehmende Universalisierung von Konzepten beobachten. So gibt es unter den fünf größten Parteien einen Konsens in den Bereichen wirtschaftliche Deregulierung, Steuersenkungen und Liberalisierung von Gesetzen. Für dieselben fünf Parteien kämen die Einrichtung eines progressiven Steuersystems und die Regulierung von Großunternehmen der Ketzerei gleich. Trennen lassen sich die Parteien entlang dem politischen Spektrum vor allem durch ihre außenpolitischen Sichtweisen und die NATO-Russland-Dichotomie.

Was lässt sich über die Parteien sagen, die den Einzug ins Parlament geschafft haben?
 

Georgischer Traum – Demokratisches Georgien

Die Partei Georgischer Traum – Demokratisches Georgien wurde 2012 von dem Milliardär Bidzina Ivanishvili, der sein Vermögen in Russland aufgebaut hat, gegründet. Die Parteiaktivisten eint vor allem die Loyalität zu ihrem Gründer. Seit den 1990er Jahren unterstützt Ivanishvili – hauptsächlich über seine eigene Bank und gemeinnützige Stiftung - zahlreiche Vertreter in den Bereichen Sport, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Infolgedessen gibt es unter den Parteianhängern eine deutliche Präsenz von Vertretern der sogenannten Intelligenzia, einer elitären sozialen Schicht, die zu Sowjetzeiten entstanden ist und bis heute Bestand hat. In der Partei findet sich zudem eine beträchtliche Zahl von Eigentümern mittelständischer und großer Unternehmen. Ferner ist festzuhalten, dass vor den Wahlen zahlreiche Technokraten - vorwiegend mit westlicher Ausbildung -  der Partei beigetreten sind. Die führenden Regierungsvertreter, der amtierende Premierminister Kvirikashvili, und stellvertretende Premierminister Qumsashvili, waren vor Beginn ihrer politischen Laufbahn als höhere Angestellte in Ivanishvilis Bank tätig.

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass knapp die Hälfte der georgischen Bevölkerung für eine Partei der Nomenklatur, der Beamten, der Intelligenzia, mittelständischer und großer Unternehmer und Technokraten gestimmt hat –  eine Partei, die durch die Loyalität zu ihrem charismatischen Gründer und durch die Opposition zur Regierung der Rosenrevolution zusammengehalten wird.

Vereinte Nationale Bewegung (UNM)

Die Vereinte Nationale Bewegung (UNM) hat bei den Wahlen mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen können. Man kann sie als Partei der ehemaligen Elite und Nomenklatur bezeichnen. Während ihrer Zeit in der Regierung (2003-2013) bildeten sich die grundlegenden ideologischen Stoßrichtungen der UNM heraus. Einerseits hat die UNM das Wirtschaftsfreiheitsgesetz verabschiedet,  unregulierte, freie Marktbedingungen für ausländische Investoren geschaffen, Korruption auf den unteren Verwaltungsebenen besiegt und den Aufbau eines effektiven öffentlichen Dienstleistungssektors vorangetrieben. Andererseits hat sie die strengste Form des sozialen Autoritarismus, eine Politik der Nulltoleranz und eine politisierte Polizei eingeführt. Unter ihrer Regierung rangierte Georgien im europäischen Vergleich in Bezug auf die Zahl von Häftlingen ganz oben. Die unmenschlichen Bedingungen und Foltervorfälle in den Gefängnissen waren mehr als bedenklich. Weiterhin kann die UNM für das Ende der friedvollen Politik in der Zeit vor dem Krieg 2008 mitverantwortlich gemacht werden. Trotz dieser Vergangenheit hat es die Partei des ehemaligen Präsidenten geschafft, Kapital aus den Erfahrungen ihrer Regierungszeit sowie aus ihrer prowestlichen Rhetorik zu schlagen. Erwähnenswert ist zudem, dass sich die Zusammensetzung der Parteispitze nach der politischen Niederlage bei den Wahlen 2012 nicht verändert hat.

Allianz der Patrioten Georgiens (PAG)

Die Wahl der Allianz der Patrioten Georgiens (PAG) in das Parlament hat bei den georgischen Liberalen zu absoluter Fassungslosigkeit geführt. Die Allianz ist eine ultrakonservative und nationalistische Bewegung und lässt sich dem gleichen globalen Trend wie Donald Trump, Marine Le Pen, Pegida und anderen rechtpopulistischen Bewegungen zuordnen. Den Erfolg der PAG kann man zum Teil auf den TV- und Radiosender Obiektivi zurückführen. Seit 2010 wenden sich die Parteiführer der PAG über diesen Sender an das georgische Volk – jeden Tag; stundenlang; mit einfachen und direkten Botschaften. Diese Strategie kann als ‚Radiomissionierung‘ bezeichnet werden. Die Idee, die wir von Massenpredigern aus dem amerikanischen Fernsehen und Radio kennen, besteht darin, die eigene Agenda auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft zu platzieren und zu verbreiten. Dass die PAG eine gefährliche Entwicklung widerspiegelt, lässt sich an ihren Botschaften über die Verbindung von Genetik und Politik, ihren antitürkischen Appellen sowie an ihren unspezifischen Positionen in Bezug auf die nationale Außenpolitik festmachen. Auffallend ist ebenfalls, dass Geschlechterparität in den Reihen dieser radikalen rechten Partei gewahrt wird: Von den sechs PAG Abgeordneten sind drei Frauen und drei Männer.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass von den drei politischen Kräften, die einen Sitz im georgischen Parlament bekommen haben, die erste eine eklektische Partei mit unbestimmten Zielen ist, die sich um ihren charismatischen Gründer versammelt. Die zweite ist eine Partei mit einer liberalen Autoritarismusgeschichte; und die dritte ist eine Partei mit radikalem, rechtspopulistischem Diskurs. Keine einzige liberal-demokratische, linke oder grüne politische Gruppierung wird im neuen georgischen Parlament vertreten sein.

Warum haben andere politische Akteure den Einzug ins Parlament verpasst?

Am 8. Oktober sind zwei traditionell liberale, proeuropäische Parteien - die Freien Demokraten und die Republikaner - an der Fünfprozenthürde gescheitert, was zweifelsohne zum Schaden und zu einer Verkümmerung der georgischen politischen Landschaft beitragen wird. Die Niederlage der liberalen Parteien ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen:

  1. Beide liberalen Parteien waren einmal Teil der Ivanishvili-Koalition. Mitglieder beider Parteien bekamen damals hochrangige Exekutiv- und Legislativposten zuerkannt. In dieser Zeit waren sie oft gezwungen, Kompromisse einzugehen und über ihre eigenen Parteivorgaben hinwegzusehen, was die Wähler mit Skepsis aufgenommen haben.
     
  2. Die ‚ideologischen Zwillinge‘, zwei Parteien mit nahezu identischen Zielsetzungen, haben es nicht geschafft, den Trend der Fragmentierung aufzuhalten, sich zu vereinen und als gemeinsame Liste bei den Wahlen aufstellen zu lassen. Hätten sie sich zusammengetan, wäre ihnen der Einzug ins Parlament wahrscheinlich geglückt. (Die Freien Demokraten haben 4,6 Prozent, die Republikaner 1,5 Prozent der Stimmen erzielt).
     
  3. Das Spendenaufkommen der Parteien, die die Fünfprozenthürde nicht geschafft haben, war bedeutend geringer als bei den jetzt im Parlament vertretenen Parteien. Die ungleiche Verteilung von finanziellen Ressourcen zwischen den politischen Akteuren hat entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt.  
     
  4. Fast 30 Prozent der Bevölkerung des Landes leben laut Statistik unter der Armutsgrenze. Es scheint, als seien die sozialen Programme der liberalen Parteien für einen beträchtlichen Teil der Wählerschaft entweder unklar oder nicht akzeptabel gewesen. In ihrem Wahlkampf haben sich die liberalen Parteien eher auf Themen wie staatliche Strukturen, nationale Sicherheit und Außenpolitik konzentriert. Kurz gesagt, ist die Kommunikation zwischen den Parteien und den Wählern gescheitert.
     
  5. Die zwei größten Parteien des Landes (Georgischer Traum und Vereinte Nationale Bewegung) und ihre Führungsriege haben ihren Wahlkampf stark gegeneinander abgegrenzt. Durch diese Strategie wurden andere politische Akteure marginalisiert, was die Herausbildung eines Zweiparteiensystems in Georgien verfestigt hat.

Die größten Herausforderungen nach den Wahlen

Georgien hat ein für postsowjetische Übergangssysteme typisches gemischtes Wahlsystem: 77 Parlamentsabgeordnete werden nach dem Verhältniswahlrecht, 73 Angeordnete direkt in Einpersonenwahlkreisen gewählt. Von 2003 bis 2012 gehörten 95 Prozent der Einzelwahlkreisabgeordneten der Regierungspartei an. Als die UNM an der Macht war, erzielte sie eine Zweidrittelmehrheit aufgrund der Zahl der gewonnenen Einpersonenwahlkreise. Gegenwärtig hat der Georgische Traum die realistische Chance, eine Zweidrittelmehrheit zu erringen. Die amtierende Partei hat bereits 20 Direktsitze erzielt und führt im zweiten Wahlgang in den meisten Wahlkreisen, in denen eine Stichwahl erforderlich wurde.

Es besteht weiterhin die Gefahr, dass die Regierungspartei in die Fußstapfen von Saakashvili und Putin tritt. (Bei den Dumawahlen im September hat Putins Partei ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit über Einpersonenwahlkreise errungen). Eine derartige Tendenz konnte man unmittelbar nach den Wahlen beobachten, als sich die Führung des Georgischen Traums nicht auf eine Diskussion über die Verdienste der Verfassungsreform einließ, sondern sich stattdessen auf die Machtbegrenzung eines "inakzeptablen" Staatsoberhauptes konzentrierte. In diesem Zusammenhang wurde die Möglichkeit der Abschaffung direkter Präsidentschaftswahlen in Erwägung gezogen. Der Ansatz, sämtliche Machtpositionen in einem einzigen politischen Lager zu konzentrieren, stellt eine wachsende, ernstzunehmende Gefahr dar.

Während im vorigen Parlament ungefähr sieben unabhängige politische Kräfte vertreten waren, gibt es im derzeitigen Parlament lediglich noch drei Parteien, die in der Lage wären, eine Fraktion zu bilden. Es sollte noch einmal betont werden, dass im neuen Parlament weder Linke, noch Grüne oder Liberale, die Bidzina Ivanishvili nicht rechenschaftspflichtig sind, vertreten sind. Das quantitative und qualitative Abschmelzen des Pluralismus lässt sich nur unschwer ignorieren. 49 Prozent der Wähler sind nicht zur Wahl gegangen. Parteien, die 17 bis 20 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielt haben, haben keinen Sitz im Parlament bekommen. Derartige Umstände werfen natürlich die Frage nach der Legitimität des Parlaments auf. Der Georgische Traum hat jetzt die Chance, eine Zweidrittelmehrheit zu erzielen, allerdings geniesst er dabei lediglich die Unterstützung von einem Drittel der Wählerschaft.

Folglich steht Georgien wieder vor der Gefahr einer absoluten Machtkonzentration in den Händen einer einzigen Partei, vor dem Versagen des politischen Systems, die Bevölkerung des Landes angemessen zu repräsentieren, und vor der Möglichkeit einer hierdurch entstehenden Legitimitätskrise. Aber man sollte bei alledem nicht vergessen, dass die georgische Gesellschaft in den letzten zehn Jahren sehr viel erfahrener und widerstandsfähiger gegen antidemokratische Tendenzen geworden ist.

Wir müssen im Hinterkopf behalten, dass Georgien ein postsowjetischer Staat ist, angrenzend an das Chaos in Syrien, die Unsicherheit in der Ukraine, die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, schiitischem Fundamentalismus im Iran, Autoritarismus in der Türkei und aggressivem Imperialismus in Russland. Trotzallem gilt Georgien im Bereich Demokratie als eines der führenden Länder in der Region.