Am 26. Januar 2017 fand die Konferenz „Im Herzen so ängstlich wie eine Taube. Zum Zustand des türkischen Rechtsstaates - Zehn Jahre nach dem Attentat auf Hrant Dink", statt. Claudia Roth, MdB und Vizepräsidentin des Bundestages, hielt den Einführungsvortrag.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde der demokratischen Türkei,
ich danke der Heinrich-Böll-Stiftung,
und vor allem Kristian,
sowie der Deutsch-Armenischen Gesellschaft,
dass Sie, dass Ihr mit dieser Veranstaltung die Erinnerung an Hrant Dink am Leben haltet.
Sich erinnern an Hrant, der zwar nicht mehr unter uns, aber dennoch wichtiger Teil der Zukunft bleibt – dieses Erinnern an Hrant bedeutet immer auch, sein wertvolles und unfassbar großes Vermächtnis zu ehren, genauso wie diesen tollen, wahrhaft unvergesslichen Menschen. Meine, unsere Trauer um Hrant ist auch zehn Jahre nach seiner niederträchtigen Ermordung nicht verflogen. Wir spüren sie alle weiterhin mit schmerzlicher Kraft, voll Überwältigung, und ja, auch immer noch mit Wut über seinen frühen und gewaltsamen Tod.
Das Gedenken und Erinnern ist bei aller persönlichen, intimen Bedeutung in Fällen wie dem von Hrant gleichzeitig auch eine demokratische Notwendigkeit,
- um die richtigen Konsequenzen aus einem solch tragischen Ereignis zu ziehen,
- um aus seinem Wirken und seinem Vermächtnis für die Zukunft zu lernen,
- um Gutes von Bösem zu unterscheiden,
- und den Mut und die Zuversicht anzuerkennen,
- die im Einsatz für Menschen- und Minderheitenrechte,
- für Freiheit und Demokratie für ein Gemeinwesen stecken.
Es geht um ein Erinnern in die Zukunft – und genau das hat sich auch die heutige Tagung vorgenommen. Ein wichtiger, richtiger und notwendiger Anlass, sich heute hier zu treffen!
Hrant und ich lernten uns bei einem meiner vielen Istanbul-Besuche in den 1990er Jahren kennen. Es entstand zwischen uns eine schöne Freundschaft, die bis zum Ende hin andauerte. Ja, und unser allerletztes Treffen kurz vor seiner Ermordung werde ich nie vergessen. „Lass uns heute nicht über Politik reden“, sagte er bei einem Mittagessen in einem Restaurant in der Nähe des Deutschen Generalkonsulates. Und dann sprach er über Rakel, seine geliebte Frau, seine Kinder, seine Pläne, seine Träume, aber auch von der Sorge des Bedrohtseins ohne jeden Schutz.
Hrant war ein lebensfroher, ein leidenschaftlicher, ein empathischer, ein geistes- und herzenskluger Mann, der in der Lage war, seinen Frust, seine Wut und seine Enttäuschung über den Umgang mit der Armenien-Frage in eine große Kraft zur Veränderung, in eine Leidenschaft für die Öffnung seines Landes zu verwandeln. Wegen seiner Sprachgewalt und seiner konsequent demokratischen, gleichsam visionären Haltung wurde er schnell auch zu einer „Entdeckung“ für viele Politiker und Intellektuelle in der EU. Kaum eine Türkei-Konferenz, kaum ein Fachgespräch in Berlin, Paris, Brüssel oder London, für das man ihn nicht gewinnen wollte.
Hrant vermittelte wie kaum ein anderer ein solch lebendiges Bild vom Innenleben der türkischen Gesellschaft, dass er zu einem der wichtigsten Türkei-Erklärer außerhalb der Türkei avancierte. Das half letztlich auch vielen politisch arbeitenden Menschen in Europa, ihre Türkei-Politik entlang der realen Debatten innerhalb der Türkei zu formulieren.
Auch wenn er die kompliziertesten Sachverhalte analysierte, fehlte bei ihm nie der Bezug zur von ihm so benannten „alten Türkei“. Immer wieder dieser Begriff, „die alte Türkei“! Sie war der Bezugsrahmen in Hrant Dinks Reden und Schreiben, aus der gewaltsamen Geschichte und den multikulturellen Traditionen des Landes heraus erklärte er die Verwerfungen der gegenwärtigen Türkei.
Diese geistige Präsenz, diese historische Weitsicht und intellektuelle Schärfe, die ganz ohne Abgehobenheit oder akademischer Verschwurbelung auskam, sie war ein Genuss, war Herz- und Ohrenöffner für alle, die ihn erleben, die ihm zuhören durften.
Die Alte Türkei – mit ihren Tabus - daran arbeitete Hrant Dink sich ab, hier lag ein Knoten, den er aufschnüren wollte, mit klugen Analysen, Geduld und der tiefen demokratischen Überzeugung, dass eine Aufarbeitung der Geschichte und der inneren Konflikte der Türkei nötig sei, eben weil Verdrängung kein Fundament sein kann für eine friedliche, gemeinsame Zukunft. Und Diskriminierung Gift ist für jede Demokratie.
Doch Hrant Dink war nicht nur ein brillanter Erklärer, Erzähler und Analyst, sondern er konnte auch unglaublich konzentriert zuhören und mit seinen Blicken den innersten Sinn des Gesagten förmlich ausleuchten, ganz so, als lese er die Gedanken seines Gegenübers, aber immer mit tiefem Respekt und einer unerschütterlichen Menschenfreundlichkeit. So konnte er andere für sich und für seine Ideen gewinnen, sie mutig machen und mobilisieren für die praktischen Schritte, die immer unweigerlich aus seiner Analyse folgten. Das war seine große Gabe, seine „Waffe“ und machte ihn gefährlich!
Und genau deshalb kämpfte diese „Alte Türkei“ gegen die Zugkraft seiner Ideen und Visionen, sie entstellte seine Aussagen und erklärte ihn zum Feind, der angeblich das Türkentum beleidigen und herabwürdigen wollte.
„Ermeniye bak“ (Siehe dir diesen Armenier an!) Diese Überschrift stand auf dem Titel der türkischen Tageszeitung Yeniçağ am 9. Oktober 2004. „Dieser Armenier“, das war der Journalist und türkische Staatsbürger Hrant Dink, der in dieser Zeit in zahlreichen Leitartikeln offen für seine journalistische Arbeit angegriffen, beleidigt und bedroht wurde. Der Auslöser war ein Bericht in Hrant Dinks Zeitung „Agos“, der bis heute einzigen türkisch-armenischen Zeitung in der Türkei – kein sehr auflagenstarkes Blatt, aber dennoch ein Riesendorn im Auge der Nationalisten.
Die „Agos“ hatte Informationen über Sabiha Gökçen veröffentlicht. Sie war nicht nur die erste Kampfpilotin der Türkei, sondern vor allem die prominenteste der vielen Ziehtöchter von Staatsgründer Mustafa Atatürk. Wie Agos belegte, war sie ein armenisches Waisenkind, das seine Eltern beim Völkermord an den Armeniern 1915 verloren hatte. Agos beging mit der Veröffentlichung dieser Fakten also einen doppelten Tabubruch: Sie rüttelte am Mythos Atatürks und thematisierte daneben den Völkermord an den Armeniern, jenes Verbrechen, das es laut offizieller türkischer Geschichtsschreibung niemals gegeben hat.
Ab diesem Zeitpunkt begann die breit angelegte Hetze türkischer Nationalisten gegen Hrant Dink: Regierungsnahe Medien diffamierten ihn als Landesverräter und die Justiz eröffnete ein Verfahren gegen ihn wegen vermeintlicher "Beleidigung des Türkentums".
Aber er selbst ließ sich nicht beirren oder einschüchtern, sondern sah seine vordringlichste Aufgabe weiterhin darin, einen Beitrag zur Öffnung, zur Modernisierung und zur Demokratisierung seiner Türkei zu leisten. Er wollte eine selbstbewusste, ernsthafte und ehrliche Debatte in der Türkei über die eigene Geschichte, er kämpfte für die Meinungsfreiheit, für eine aufrichtige und in die Zukunft gerichtete Erinnerungskultur und für die Minderheitenrechte.
Er kämpfte für eine Türkei, die, wie er selbst es einmal formulierte, „mit Hilfe ihrer eigenen inneren Dynamiken die Geschichte hinterfragen und mit ihrem Gewissen und freiem Willen die Ereignisse benennen kann“.
Diesem Ziel diente auch die von Hrant Dink mit initiierte Istanbuler Konferenz 2005, auf der zum ersten Mal unter breiter Beteiligung türkischer Intellektueller und der türkischen Zivilgesellschaft über die Massaker und den Völkermord an den Armeniern debattiert wurde. Doch auch von weiten Teilen der armenischen Diaspora schlug ihm für sein Engagement keine große Sympathie entgegen. Für viele von ihnen war er nicht armenisch genug, immer noch zu türkisch. Eine gemeinsame Identität war von vielen auf beiden Seiten nicht vorgesehen. Auch das hat ihn sehr verletzt.
Aber auch darüber half ihm seine Klugheit hinweg, wenn er die Haltung der Diaspora-Funktionäre mit den Worten erklärte: Sie sind eben weit weg von den Entwicklungen in der türkischen Gesellschaft und sie sollten verstehen, in der Türkei bin ich der Armenier und in Europa auch der Türke. Es waren seine Zuversicht und sein Optimismus, die ihn antrieben, die ihn standhalten ließen, und dafür sorgten, dass er seiner geliebten Heimat nicht den Rücken kehrte, sondern einfach weiter machte.
Hrant Dink starb am 19. Januar 2007 durch die Kugeln eines 17-jährigen Mannes, der den Sicherheitsbehörden hinlänglich bekannt war. Bekannt waren den Sicherheitsbehörden auch die Drohungen gegen Hrant Dink und wohl auch die Mordpläne. Doch sie unternahmen nichts, um sein Leben zu schützen.
Schlimmer noch: Viele der Hintermänner des Attentates kamen wohl aus der Polizei und den Geheimdiensten. Es gab sogar einen Brief der Polizei von Trabzon, der Heimatstadt des Mörders, an die Kollegen in Istanbul, worin der Mordplan bis ins Detail beschrieben wurde.
Die Gendarmen aus Trabzon kannten schon vor Verhaftung des Täters die Seriennummer seiner Waffe, soweit ging der Einblick der Sicherheitsbehörden in die Mordpläne. Aber niemand von den Verantwortlichen in Istanbul reagierte.
Hrant war zur Zielscheibe einer Ideologie geworden, die es zur Staatsdoktrin schaffte, eine rassistische Ideologie, die eine ebenso lücken- wie lügenhafte Geschichtsschreibung betrieb. Eine Doktrin, die das eigentlich doch selbstverständliche Bekenntnis zu einer vielfältigen Identität zur Gefahr erklärte und als Sabotage gegen das „Türkentum“ einstufte. Als ob man nicht Türke und Armenier zugleich sein könnte!
Der berühmt-berüchtigte Paragraf 301 zur „Beleidigung des Türkentums“ lieferte die Grundlage für die Verfolgung derjenigen, die sich für Demokratie und Meinungsfreiheit einsetzten, als „Vaterlandsverräter“.
Die Strafverfahren gegen Orhan Pamuk, Hrant Dink, Elif Safak und andere wurden allesamt nach diesem Paragrafen geführt.
Unvergesslich sind mir die Plakate geblieben, die beim Trauerzug für Hrant Dink mit über 100.000 Menschen getragen wurden:
- „Mörder 301!“
- „Wir alle sind Armenier!“
- „Wir alle sind Hrant Dink!“
Wir dürfen und wir werden die Botschaft dieser 100.000 nicht vergessen!
Verehrte Gäste,
in den ersten Jahren nach dem Tod von Hrant erlebte die Türkei eine sehr erfolgreiche Phase, geprägt von Wirtschaftswachstum und zunehmendem Wohlstand.
Die Türkei öffnete sich, sie näherte sich immer weiter der EU an, wurde zum Sehnsuchtsort für viele von uns und es war ganz sicher ein Fehler, dass in der EU dieser Entwicklung nicht entsprochen wurde.
Mit dem Verfassungsreferendum 2010 stimmten die Wähler
- für Gleichberechtigung,
- für die Rechte von Gewerkschaften,
- und für die Beschränkung des türkischen Militärs.
Und auch in den Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien gab es zaghafte Annäherungen und positive Signale von Erdogan oder wie ein legendäres Fußballspiel, das Präsident Gül zusammen mit dem armenischen Präsidenten besuchte.
Hrant hätten diese Entwicklungen gefallen, einige davon waren ohne ihn gar nicht denkbar.
Die Türkei war in dieser Zeit auf dem Weg in eine „Neue Türkei“, weg von der „Alten“, die Hrant immer kritisierte. Doch heute haben sich die Zeiten dramatisch geändert. Can Dündar hat es vergangene Woche bei einem bewegenden Gedenken an Hrant im Gorki Theater so zusammengefasst:
Erst heute, da er selbst verfolgt werde, könne er erahnen, wie es Hrant damals gegangen sein muss. Wir sind alle zutiefst besorgt über die verheerenden Entwicklungen in der Türkei. In dieser Situation, in der sich die Türkei nun seit der de facto Abschaffung der Gewaltenteilung, der parlamentarischen Demokratie befindet, wird auch die Hoffnung auf Gerechtigkeit für Hrant immer kleiner.
Es ist bitter, sehr bitter, dass Hrants Familie und Freunde bis heute auf glaubwürdige Ermittlungen und ein rechtsstaatliches Verfahren gegen die wahren Mörder immer noch warten. In einer Türkei, in der die schon immer auch politisierte Justiz mittlerweile zu einem reinen Machterhaltungsinstrument Erdogans geworden ist, wird diese Aufarbeitung nicht mehr geschehen.
Denn bei aller Konkurrenz zwischen den damals verbündeten Erdogan und Gülen waren sich beide Seiten doch immer in einem einig: Hrants Mörder zu hofieren und sie zu schützen. Und das gilt auch für die neuen Partner Erdogans, die ultranationalistische MHP.
So ist es bitter, dass ausgerechnet ein so engagierter Investigativ-Journalist wie Ahmet Şık, der 2011 über die Umtriebe und Geschäfte der Gülen-Bewegung recherchiert und veröffentlicht hatte und deshalb über ein Jahr im Gefängnis verbringen musste, jetzt wieder im Gefängnis sitzt, mit dem Vorwurf Terrorunterstützung.
Und er ist nur einer von 140 türkischen Journalisten und Intellektuellen, die wegen Kritik an Erdogans Politik derzeit im Gefängnis sind. Die spalterische Politik Erdogans hat inzwischen eine Türkei geschaffen, in der die meisten Menschen nach Worten von Elif Shafak in unsichtbaren kulturellen Gettos leben. Die Türkei ist wieder ethnisch, religiös und nach Lebensstilen gespalten, sie ist nationalistisch und das herrschende Regime ein autoritärer Albtraum.
Und die gegenwärtige Türkei ist wieder ein Land der Gewalt. Neben dem Feldzug Erdogans gegen die eigene Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten, der Kriminalisierung der Mitglieder der HDP – von der Parteispitze bis hin zu unzähligen Bürgermeistern, wie Ahmet Türk, und der Vernichtung der Existenzgrundlage von hunderttausenden Familien durch Säuberungen und Berufsverbote, haben allein im vergangenen Jahr 35 Terroranschläge weiteres Leid, unsagbaren Schmerz und Verlust über die Menschen in der Türkei gebracht. Fast 500 Menschen verloren dabei ihr Leben.
Angst, Trauer, Verschwörungen, Überwachung, Bespitzelung, Misstrauen und Hass – von all dem hat die gegenwärtige Türkei zu viel – Demokratie, Menschenrechte, Achtung vor der Würde des Menschen und vor der Presse-, der Kultur- und vor der Meinungsfreiheit – davon hat die Türkei definitiv zu wenig.
Es ist darum jetzt wichtig, dass wir alle weiter an der Seite der Demokraten und der Demokratinnen in der Türkei stehen, dass wir sie nicht vergessen, sondern genau hinschauen, was dort passiert. Und dass wir laut sind und unsere Kritik deutlich äußern.
Und das erwarte ich auch, wenn Bundeskanzlerin Merkel im Februar nach Ankara fährt. Dass sie auch ein Ohr hat und die Stimme erhebt für die Opposition, für die vielen, die jetzt verfolgt und ihrer Rechte beraubt werden.
Wo sind sie heute, die 100.000, mit den „Wir alle sind Hrant Dink“-Schildern? Wir in Europa müssen diesen Menschen nun neuen Mut zusprechen. Denn wir vergessen Euch nicht, Vergessen tötet! Wir bauen keine Mauer und wir wollen eine demokratische Türkei als Teil Europas!
Wir müssen uns alle ein Beispiel an Hrant Dink nehmen: Er hätte nicht aufgegeben. Hrant hätte einfach weitergemacht.
Mit Zuversicht und Optimismus.
Wir brauchen Dich heute mehr denn je.
Du fehlst.
Vielen Dank!