Perspectivas Lateinamerika: Kommen, Gehen, Bleiben, Weiterziehen

Facetten der Migration in Lateinamerika
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Lateinamerika hat eine lange und bewegte Migrationsgeschichte. Immer wieder war der Kontinent Ziel von Einwanderern und Flüchtlingen aus Europa, Asien, aus dem Mittleren Osten und anderen Teilen der Welt, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Die vielen unterschiedlichen Kulturen in Lateinamerika sind lebendiger Ausdruck davon. Auch die Migration innerhalb des Kontinents spielt eine wichtige Rolle. Sie macht etwa 34 Prozent der lateinamerikanischen Migration aus.

In Zeiten autoritärer politischer Regime und politischer Verfolgung, in Zeiten von Bürgerkriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen haben Menschen andernorts Zuflucht gesucht. Heute sind es vor allem Armut, Gewalt und Terror, die die Menschen migrieren lassen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Lateinamerika von einem Ziel internationaler Migration zu einer Auswanderungsregion. Die meisten Lateinamerikaner migrieren in die USA, viele von ihnen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung. Die über 3.000 km lange Grenze zwischen Mexiko und den USA wird nach Schätzungen unterschiedlicher Quellen jährlich von 140.000 bis 400.000 Menschen ohne Papiere überwunden. Die meisten von ihnen kommen aus Zentralamerika, zuletzt auch verstärkt aus Kuba und Haiti. Auch Europa ist in den letzten Jahren verstärkt zur Zukunftshoffnung für viele Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten – vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika – geworden. Viele fliehen vor Krieg, Gewalt und Verfolgung, andere möchten der Armut und Perspektivlosigkeit ihrer Länder entkommen.

Doch Europa reagiert inzwischen mit Härte und Abschottung und versucht, auch die letzten Zugangslücken zu schließen. In dem Maße, wie das gelingt, versuchen auch vermehrt diese Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten über Brasilien und Ecuador durch Zentralamerika und Mexiko in die USA zu gelangen.

Wurden z.B. 2013 noch 545 Menschen aus Afrika auf ihrer Durchquerung Mexikos an die US-amerikanische Grenze registriert, waren es 2015 schon 2000 und 2016 bereits 16.268.

Wir möchten mit Perspectivas Nr. 3 den Blick auf den Umgang mit Migration in Lateinamerika lenken. Unsere Autorinnen und Autoren analysieren Ursachen und staatliche Politiken, zeigen auf, welche Auswirkungen das für Migrantinnen und Migranten hat, und berichten von Solidaritätsstrukturen, die praktische und politische Unterstützung leisten.

Im ersten Artikel beschreibt Lourdes Cárdenas, wie schnell sich die Situation von Migrantinnen und Migranten in den USA nach dem Wahlsieg Donald Trumps geändert hat. Die von ihm angekündigte Mauer zwischen den USA und Mexiko wurde in vielen Köpfen bereits errichtet. Hass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben zugenommen, und es gibt immer wieder Berichte über tätliche Angriffe. Die rechtliche Situation wurde im Turbotempo verschärft, und die Voraussetzungen für eine Abschiebung wurden gesenkt. Doch nicht alle im Land sind damit einverstanden, und so gibt es auch viel Unterstützung und Solidarität.

Mario Zetino Duarte und Dilsia Avelar aus El Salvador gehen in ihrem Beitrag auf die Migration von (häufig allein reisenden) Kindern und Jugendlichen ein, die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen ist. Sie beschreiben, wie die nationale und familiäre Migrationsgeschichte Identitäten prägt und Lebenspläne beeinflusst. Sie kritisieren die salvadorianische Regierung, die über kein migrationspolitisches Konzept verfügt und falsche Prioritäten setzt. Staatliche Maßnahmen setzen, wenn überhaupt, erst bei der Rückführung an, Prävention ist Fehlanzeige. Um Zwangsvertreibung und Binnenmigration in Kolumbien geht es in dem Artikel von Myriam Hernández Sabogal.

Nach Syrien steht das Land weltweit an zweiter Stelle von Vertreibungen. Die Ursachen sind nicht nur in den bewaffneten Auseinandersetzungen verschiedener Akteure im langjährigen Bürgerkrieg zu finden, sondern haben auch handfeste ökonomische Ursachen, nämlich die territoriale Umstrukturierung hin zu Megaprojekten sowie Boden- und Ressourcenkonzentration. Über 80 Prozent der Opfer stammen aus ländlichen Gebieten.

Der mit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen Regierung und FARC eingeleitete Friedensprozess muss die Folgen der Zwangsvertreibung Schritt für Schritt überwinden – eine Herkulesaufgabe. In Mexiko, dem wichtigsten Durchgangsland für Migrantinnen und Migranten ohne Papiere in die USA, hat sich im Laufe der Jahre eine sehr aktive Unterstützerszene für die Migrantinnen und Migranten herausgebildet. Daniela Rea beschreibt die Arbeit dieser zivilgesellschaftlichen Netzwerke. Begonnen hat es zunächst mit sehr konkreter Hilfe, etwa durch die Bereitstellung von sicheren Unterkünften für ein paar Nächte (den Migrantenherbergen), von Versorgung mit Nahrung und Getränken, medizinischer Hilfe usw. Im Laufe der Jahre hat sich diese Unterstützung aber immer stärker politisiert, und heute geht praktische Hilfe mit politischen Forderungen und Aktivitäten für eine menschenrechtsbasierte Migrationspolitik einher.

Als beispielhaft galt das Migrationsgesetz, das 2003 in Argentinien verabschiedet wurde. Es markiert eine kategorische Wende in der bisherigen Politik, da es den Abschied von der Doktrin der Nationalen Sicherheit eingeleitet und das Menschenrecht auf Migration anerkannt hat, wie Susana Novick in ihrem Beitrag erläutert. Das Ende des Kirchnerismus in Argentinien und der Wahlsieg des neuen wirtschaftsliberalen Präsidenten Macri bedeuten auch das Ende der liberalen Migrationspolitik des Landes.

Mit dem Verweis auf die Bekämpfung von Terrorismus und Drogenhandel wird Migration wieder zum Sicherheitsproblem deklariert. Eine Gesetzesänderung vom Januar 2017 schränkt die Rechte von Migrantinnen und Migranten ein und weitet die Macht der Polizei aus. Etwas positiver sieht der Autor Rodrigo Borges Delfim im letzten Artikel dieses Heftes die Entwicklungen in Brasilien. Das Erdbeben in Haiti 2010 und der Bauboom zur Fußball-WM und Olympiade hatten viele Haitianerinnen und Haitianer nach Brasilien migrieren lassen. Mit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise wurden jedoch die Defizite des geltenden brasilianischen Ausländergesetzes deutlich.

Die Präsenz der Haitianerinnen und Haitianer hat entscheidend zum Wandel der Zuwanderungsdebatte in Brasilien beigetragen. Zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen und Medien ist es maßgeblich zu verdanken, dass eine gesellschaftliche Debatte über eine humane und effektive Migrationspolitik und ein neues Migrationsgesetz angestoßen wurde. In der Heftmitte finden Sie einige Zahlen und Fakten zu den Migrationsbewegungen in Lateinamerika und zur Grenze zwischen Mexiko und den USA, eine der weltweit am häufigsten überquerten Grenzen und gleichzeitig für viele Flaschenhals für die Verwirklichung ihres «amerikanischen Traums».

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.

Berlin, im Juni 2017
Ingrid Spiller Leiterin des Regionalreferats Lateinamerika der Heinrich-Böll-Stiftung

 

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
Juni 2017
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
36
Sprache der Publikation
deutsch
Inhaltsverzeichnis

Vorwort

  • Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump
    Lourdes Cárdenas
  • Und dann? Salvadorianische Kinder nach der Abschiebung
    Mario Zetino Duarte und Dilsia Avelar
  • Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung
    Myriam Hernández Sabogal
  • Zahlen und Fakten zur Migration in Lateinamerika
  • Dieser Ort ist nicht zum Schlafen da:   Migrantenherbergen als Orte der Zuflucht und des politischen Kampfes
    Daniela Rea
  • Ein Schritt vor und zwei zurück: Die Migrationspolitik Argentiniens
    Susana Novick
  • Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien
    Rodrigo Borges Delfim
  • Julia. Das Leben einer Migrantin
    Glória Branco

 

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