Fünf Jahre nach den Geziprotesten - Was vom Aufstand übrig blieb

Hintergrund

Vor fünf Jahren war der Taksimplatz noch Schauplatz der Proteste rund um den Gezipark. Einige der Aktivistinnen und Aktivisten von damals fragen sich zu Recht, was noch von Gezi bleibt.

Taksimplatz - Bau einer Moschee

Wer in diesen Tagen in Istanbul den Taksimplatz betritt, findet sich inmitten zweier Baustellen wieder. Auf der einen Seite ziehen Bauarbeiter in atemberaubender Geschwindigkeit den Traum aller türkischen Islamisten, eine große Moschee im osmanischen Stil hoch. Auf der anderen Seite des Platzes sind seit einigen Wochen die Bagger dabei, das Atatürk-Kulturzentrum, Symbol der alten kemalistischen Republik, abzureißen. Hier soll ein neuer, glitzernder Kulturpalast aus Glas und Stahl entstehen, der die Modernisierungsfantasien der herrschenden AK-Partei verkörpert.

Machtbeweis des türkischen Präsidenten

Diese beiden Baustellen stehen symbolisch für die politischen Veränderungen der letzten Jahre im Land. Zum einen für die Politisierung des Islams, der auf Drängen Präsident Erdoğans seine „neue Türkei“ prägen soll und der Rückgriff auf eine imaginierte, glanzvolle historische Vergangenheit –nicht umsonst gibt es nur weniger als eine Handvoll von Moscheebauten in der Türkei, die sich einer modernen Architektur bedienen - und zum anderen für einen entfesselten Modernisierungskapitalismus, der in erster Linie beweisen soll, dass die Türkei eine globale Zukunftsmacht ist. Auch wenn ähnliche Bauprojekte schon seit Jahren im ganzen Land aus dem Boden sprießen, so ist, was jetzt am Taksimplatz geschieht, noch einmal etwas ganz Besonderes.

Denn der Platz ist nicht nur das traditionsreiche Herz der türkischen Republik, er war und ist noch immer der Ort, an dem Stadtpolitik weit über sich hinausweist und nationale Mythen gebiert. Die Bauwerke, die man jetzt errichtet, sind damit vor allem ein Machtbeweis des türkischen Präsidenten, dass seine Interpretation einer islamischen, national-türkischen Moderne das Herz der Stadt und damit das des Landes dominieren soll.

Vor genau fünf Jahren, im Mai 2013, war der Taksimplatz noch Schauplatz der Proteste rund um den Gezipark, eine am nördlichen Rand des Platzes gelegene Grünfläche, für die die Bezeichnung „Park“ schon fast euphemistisch anmutet. Die Regierung hatte eine Umgestaltung des Platzes geplant, die u.a. vorsah, den Autoverkehr in einen Tunnel unter dem Geländer umzuleiten. Vorgesehen war aber auch, den Park mit der Nachbildung einer alten osmanischen Kaserne zu überbauen.

Als sich 2013  eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Umgestaltung des Taksimplatzes engagierte, war die geplante Betonierung des Parks nur einer der Punkte, gegen den sich der Protest eigentlich richtete. Dass die Protestierenden so viel Zulauf erhielten, dass sich die Demonstrationen selbst bis in andere Städte des Landes ausbreiteten, hatte Gründe, die mit der Erhaltung des Parks nur am Rande zu tun hatten. Zwar standen auch andere stadtplanerische Entscheidungen in der Kritik, von der brachialen Gentrifizierung der Armen- und Minderheitenviertel Sukule und Tarlabaşı, über den Abriss des historischen Emek-Kinos, bis zur Rodung von Waldflächen für den gigantischen dritten Flughafen. Aber auch sie waren nur Ausschnitt eines größeren Problems, das sich im Umgang der Regierung mit den Protestierenden sehr deutlich zeigte. Die Proteste mündeten in eine Demonstration gegen den patriarchalen Führungsstil der AKP und Erdoğans selbst aus.

Bürgerbeteiligung nicht vorgesehen

Obwohl Erdoğan, damals noch Premierminister, von verschiedenen Beratern seiner Partei, nicht zuletzt von Staatspräsident Gül, zu Mäßigung im Umgang mit den Demonstrierenden gedrängt wurde, bestand er auf ein gewaltsames Vorgehen der Polizei. Äußerungen, wie dass die Protestierenden „eine illegale Revolte gegen die Demokratie“ angezettelt hätten, machten klar, dass die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger weder bei der Stadtplanung, noch bei sonst einem Handeln des Staates, vorgesehen war. Auch heute noch betont der Präsident gern, dass die Türkei der demokratischste Staat der Welt wäre. Es ist aber weiterhin ein politisches System, in dem eine abweichende Meinung maximal an der Wahlurne zum Ausgang gebracht werden soll  und selbst davon versucht man die Menschen zunehmend abzuhalten. Die fehlende Bürgerbeteiligung und die Zentrierung auf Kapital- und Politikinteressen anstatt auf das Gemeinwohl bei der Stadtplanung Istanbuls ist da nur eines der herausragenden Beispiele.

Ehemalige AKPler, die damals an den Gesprächen mit Erdoğan beteiligt waren, berichten, dass er besessen von der Idee war, dass die Proteste vom Ausland inszeniert seien, um ihn zu stürzen. Dies ist ein anderes Element, das sich auch heute noch durch die Wahrnehmung des Präsidenten zieht; ein Weltbild zersetzt von Paranoia. Erst wenige Monate vorher im Winter 2012 hatte die türkische Justiz Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder aus Erdoğans Kabinett und Teile seiner Familie angestrengt. Die Untersuchungen, die vermutlich von der Gülenbewegung ausgingen, mit denen der Premier spätestens damals auf Kriegsfuß stand, waren für Erdoğan der Beleg, dass man ihn stürzen wolle. In seiner Sicht fügten sich die Geziproteste nahtlos in diese Erzählung.

Dies war sicherlich nicht zuletzt so, weil die Proteste zumindest anfangs von einer Bevölkerungsschicht getragen wurden, die die Granden der türkischen Politik mit Masse nicht verstehen: einer urbanen, der Mittelschicht entstammenden Jugend.  Paradoxerweise war es eine Jugendbewegung, die erst in ihrer Breite möglich wurde, weil unter der AKP-Regierung ausreichend materieller Wohlstand einzog. Es war aber ebenso eine Bewegung, die über rein materielle und soziale Forderungen – die Felder, auf denen die AKP glaubte zu brillieren – hinausging. Es mag deswegen nicht verwundern, dass die Regierungspolitiker Mühe hatten, die Bewegung zu verstehen oder mit ihrer ungeheuren Dynamik anders als durch Tränengas und Schlagstöcke mitzuhalten.

Hoffnung auf eine andere Türkei vs. autoritärer Staat

Trotzdem konnte die Bewegung nicht nachhaltig erfolgreich sein. Nicht nur, weil die massive Gewalt des Staates sie von den Plätzen und Straßen vertrieb, sondern auch, weil es angesichts der Unnachgiebigkeit der Regierung nicht möglich war, den Protest dauerhaft aufrecht zu erhalten, ohne irgendwelche politischen Konzessionen zu erringen. In der ohnehin politisch stark polarisierten Türkei ist seitdem der Druck beständig angewachsen, was es für die vielen in ihren Zielen oft rivalisierenden oppositionellen Gruppen schwierig macht, nochmal zu einem solchen Bündnis zusammenzukommen.

Der viel zitierte „Geist von Gezi“, an den sich immer noch viele der Personen, die damals aktiv waren, wehmütig erinnern, beschreibt nicht nur die mehrwöchige Besetzung des Taksimplatzes und das zum Teil lebensgefährliche Katz- und Mausspiel mit der Polizei, sondern vor allem die Hoffnung, dass eine andere Türkei möglich sein könnte. Eine in der die verschiedensten Gesellschaftsgruppen Seite an Seite für ein besseres Land stritten, eines in dem man sich in basisdemokratischen Diskussionsforen traf, eines in dem die Stimme der Bürgerinnen und Bürger etwas galt.

Doch es kam anders. Die Türkei ist heute ein autoritärer Staat, in dem zivilgesellschaftliches Engagement einen schnell ins Gefängnis bringt und die Besetzung eines öffentlichen Platzes – rund um dem Taksimplatz gibt es seit den Protesten eine beeindruckende, ständige Präsenz von Wasserwerfern und Zivilpolizisten – steht heute völlig außer Frage. Manch einer der Aktivistinnen und Aktivisten von damals fragt sich daher zu Recht, was noch von Gezi bleibt.

Was bleibt?

Was bleibt sind zum einen zivilgesellschaftliche Initiativen und Nichtregierungsorganisationen, die während der Post-Gezi-Zeit und aus der Erfahrung mit ihr entstanden sind, die bis heute überleben. Was bleibt ist die Erfahrung, die viele der Beteiligten teilen, dass Widerstand gegen ein autoritäres System möglich ist, aber auch das Wissen, dass die Durchsetzung eigener politischer Ziele trotz breiter Mobilisierung nicht gelang. Was bleibt ist der Grundstein für eine Türkei, wie sie sein könnte, wie sie vielleicht irgendwann werden wird: bunter, dynamisch und gerechter.