Digitalisierung – Wie kann Europa wettbewerbsfähig werden?

Bericht

Ein Bericht der Fachgruppe Digitalisierung, der im Rahmen der internationalen Fachkonferenz „Europa im Aufbruch? Ideen für eine progressive Politik“ der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Mai 2018 entstand.

Zusammenfassung:

Die digitale Transformation betrifft sämtliche Aspekte der europäischen Gesellschaften. Im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses in der EU stehen jedoch allzu oft nur die wirtschaftlichen Folgen dieser technologischen Revolution. Wenn es um Digitalisierung geht und darum, was getan werden muss, damit Europa in der globalen digitalen Wirtschaft wettbewerbsfähiger wird, gleitet die Diskussion schnell in die technischen Details einzelner europäischer Richtlinien und Verordnungen ab. Die aktuellen Narrative zur Digitalisierung werden in der EU hauptsächlich von Unternehmen und Regierungen bestimmt; Sozialunternehmer/innen, Start-ups und digitale zivilgesellschaftliche Organisationen sind im digitalen öffentlichen Diskurs und in wichtigen politischen Diskussionen dagegen eher schwach vertreten. Offenere Fragen zu Sinn und Zweck der digitalen Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in der EU und zu ihrer Inklusivität bleiben oft unbeantwortet. Diese Diskurslücke muss entschlossener angepackt werden; andernfalls kann es zu gravierenden sozialen Verwerfungen kommen. Wenn Stimmen und Ideen aus der Zivilgesellschaft zur Zukunft der digitalen Transformation in Europa ausgeklammert oder beiseitegeschoben werden, werden Misstrauen, Argwohn und Ressentiments gegenüber der scheinbar unausweichlichen technisch-wirtschaftlichen Entwicklung zunehmen. Stattdessen muss die Digitalisierung völlig neu gedacht werden – weg von der technischen Perspektive hin zu Narrativen, die kulturelle und gesellschaftliche Implikationen sowie inklusivere politische Lösungen miteinbeziehen.


In diesem Sinne erörterte die Fachgruppe Digitalisierung die wichtigsten Fragen zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen digitalen Wirtschaft aus zwei Blickwinkeln: In den ersten Beiträgen ging es um Fragen der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und der Harmonisierung auf dem Binnenmarkt: Wie ist der Stand der digitalen Binnenmarktstrategie der Kommission? Bietet der Binnenmarkt europäischen Start-ups derzeit ein geeignetes Umfeld für Wachstum und grenzüberschreitende Expansion? In der zweiten Vortragsrunde wurde dieser wirtschaftliche Blickwinkel mit einer sozial und kulturell inklusiveren Perspektive verknüpft: Was ist das europäische Alleinstellungsmerkmal im Bereich Geschäftsmodelle? Wollen wir Europäer/innen die amerikanischen oder chinesischen Ansätze für digitales Wachstum kopieren, oder gibt es ein drittes, „europäisches“ Wachstumsmodell, das der Einbeziehung der gesamten Gesellschaft und den sozialen Auswirkungen genauso viel Aufmerksamkeit schenkt wie den ökonomischen Wachstumsfaktoren? Wie können wir einen mentalen Wandel hin zu einem inklusiveren europäischen Modell des digitalen Wachstums bewirken? Das waren die Leitfragen der Diskussion über die Zukunft der Digitalpolitik im Binnenmarkt.

Der digitale Binnenmarkt und die Skalierung europäischer Start-ups

Fast drei Jahre sind vergangen, seit die Europäische Kommission ihre Strategie für einen digitalen Binnenmarkt verabschiedete. Sie umfasst mehr als zwei Dutzend politische Initiativen in den Bereichen Telekommunikationsmärkte, Urheberrecht und digitale Kompetenzen. Ziel der Strategie ist die Modernisierung und Harmonisierung der Vorschriften, beispielsweise für den Online-Handel im gesamten Binnenmarkt. Wo stehen wir heute? Nach Ansicht der Expert/innen der Gruppe ist der digitale Binnenmarkt von einer vollständigen Harmonisierung noch weit entfernt und für Nutzer/innen ebenso wie für Unternehmen nach wie vor fragmentiert. Trotz einiger Erfolgsgeschichten, wie der Abschaffung der Roaming-Gebühren oder der Portabilität audiovisueller Inhalte (beispielsweise eines Netflix-Abonnements), ist die Harmonisierung mühsam und kommt nur schleppend voran. Ein besonders eindringliches Beispiel für die Fragmentierung des Binnenmarkts, unter der sowohl Start-ups als auch Verbraucher/innen zu leiden haben, ist der Grundsatz der Gebietslizenzen, denen die Urheberrechtsbestimmungen in der EU unterliegen. Das Geoblocking der meisten audiovisuellen Inhalte, von Filmen bis hin zu Sportveranstaltungen, entlang nationaler Grenzen wird daher voraussichtlich die Norm bleiben. Für Start-ups, die im Binnenmarkt wachsen wollen, stellt diese Fragmentierung ein erhebliches Hindernis dar. Die Gebietslizenzen waren auch ein Grund dafür, dass Spotify, eines der erfolgreichsten europäischen digitalen Unternehmen, seinen Kundenstamm zunächst in den USA erweiterte, wo ein einheitlicherer Binnenmarkt existiert. Neben der Fragmentierung können auch schlecht durchdachte Urheberrechtsvorstöße künftige europäische Innovationen ernsthaft behindern. Ohne Ausnahmeregelung oder „Fair-Use-Klausel“ werden viele Text- und Data-Mining-Unternehmen in der EU Schwierigkeiten haben, im Binnenmarkt tätig zu werden, da sie für die Textkorpora, die sie „schürfen“, um relevante statistische Muster zu finden, Urheberrechtsgebühren zahlen müssten. Problematisch könnte das beispielsweise auch für autonome Fahrzeuge werden, die ununterbrochen Bilder von ihrer Umgebung machen müssen: Da es die sogenannte „Panoramafreiheit“ in einigen EU-Mitgliedstaaten nicht gibt, würden die von autonomen Fahrzeugen aufgenommenen Bilder unter Umständen gegen das Urheberrecht verstoßen.

Im Gegensatz dazu ist Datenschutz zwar ein wichtiges Thema für Start-ups, wird aber nicht als wesentliches Problem oder Hindernis für das Wachstum im Binnenmarkt angesehen, auch nicht für datengetriebene Unternehmen. Ganz im Gegenteil: Die neue Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) wird weitgehend als positiv wahrgenommen, da sie 28 verschiedene nationale Regelungen harmonisiert und eine zentrale Anlaufstelle für Unternehmen einführt.

Abgesehen von der Fragmentierung, die sich aus den unterschiedlichen rechtlichen Anforderungen der Einzelstaaten ergibt, sind Start-ups mit zwei weiteren Haupthindernissen im Binnenmarkt konfrontiert: Die Beschaffung der erforderlichen Finanzmittel und des Risikokapitals bleibt, insbesondere im späteren Stadium, ein Hauptproblem bei der Skalierung von Start-ups. Am wichtigsten sind aber wohl die kulturellen Unterschiede innerhalb der und zwischen den Mitgliedstaaten. Verdeutlicht wurde dies von einem Teilnehmenden am Beispiel der Einführung einer medizinischen App, durch die beispielsweise bei einem Unfall oder Herzinfarkt die Zeit bis zur medizinischen Erstversorgung verkürzt werden kann. Während es relativ einfach war, diese potenziell lebensrettende App in Großbritannien auf den Markt zu bringen und zu verbreiten, war ihre Einführung in Deutschland weitaus komplizierter. Zu den Herausforderungen, vor denen die Entwickler/innen standen, gehörten Skepsis gegenüber Veränderungen, ein intern fragmentiertes medizinisches System und allgemeine kulturelle Aspekte, beispielsweise Vorbehalte dagegen, sich bei Angelegenheiten von Leben und Tod in erster Linie auf technische Lösungen zu verlassen.

Abschließend ging die Gruppe auf die grundlegendere Frage ein, ob schnelles Wachstum immer zu begrüßen und Größe ein Ziel an sich ist. Die Teilnehmenden wiesen darauf hin, dass schnelles Skalieren für die europäischen Gesellschaften insgesamt nicht unbedingt immer von Vorteil ist. Netzwerkeffekte und First-Mover-Vorteile, die bei Online-Plattformen besonders ausgeprägt sind, führen zu einer Marktkonzentration und dem Missbrauch von Marktmacht durch neue Monopolisten wie Google oder Facebook. Hinsichtlich der Idee, eine neue große europäische Plattform, eine Art „europäisches Google“, aufzubauen, mahnten einige Teilnehmende daher zur Vorsicht. In einer Zeit, in der immer weniger digitale „Einhörner“ entstehen, könnte es sich stattdessen lohnen, neue, europäische Ansätze zum Aufbau digitaler Geschäftsmodelle im Binnenmarkt zu sondieren.

Ein inklusiveres europäisches Geschäftsmodell für Start-ups?

Gibt es für europäische Start-ups auch noch eine andere Möglichkeit, wettbewerbsfähig zu werden als nur durch Expansion und Nachahmung des amerikanischen Wachstumsmodells? Anders gefragt: Ist ein europäisches Geschäftsmodell für Start-ups denkbar? Welche Werte und Ziele würde man dabei zugrunde legen? Viele Teilnehmende forderten die Gruppe auf, vor der Beschäftigung mit den technischen Details einzelner Vorschläge zunächst einmal einen Schritt zurückzutreten und ihre eigene Geisteshaltung gegenüber der Digitalisierung zu hinterfragen. Digitalisierung sollte nicht als rein technischer Diskurs betrachtet werden, sondern als gesellschaftliche und generationsübergreifende Herausforderung und Herausforderung für die Nachhaltigkeit. Eine gesellschaftlich motivierte Herangehensweise an die Digitalisierung, welche die sozialen Auswirkungen zwingend berücksichtigt, könnte am Ende in ein neues europäisches Geschäftsmodell für Start-ups münden. Anstatt nach Wegen zu suchen, wie Start-ups schneller wachsen können, sollten wir uns fragen, welche Geschäftsmodelle wir als Europäer eigentlich unterstützen wollen.

Neben einem mentalen Wandel seitens der Unternehmerschaft hin zu einer stärkeren Förderung sozialer Ziele betonten die Teilnehmenden die Bedeutung des Storytelling und des „Erklärens der Technologie“ sowohl gegenüber der Regierung als auch gegenüber der Öffentlichkeit. Die Einführung von Technologien wie selbstfahrenden Autos auf breiter Basis erfordert einen tiefgreifenden und umfassenden Dialog mit der Öffentlichkeit über Sicherheit, menschliche Autonomie und die Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Andernfalls besteht das Risiko, dass die Akzeptanz für derartige neue Technologien in Europa gering bleibt, was insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit Europas langfristig beeinträchtigen würde. Das Beispiel der selbstfahrenden Autos zeigt zudem einmal mehr, dass die Kommunikation der digitalen Transformation gegenüber der Öffentlichkeit alle Generationen einbeziehen muss. Durch spezielle Coaching- und Mentoring-Programme, bei denen „Digital Natives“ älteren Menschen helfen, digitale Technologien in ihren Alltag zu integrieren, könnten die europäischen Gesellschaften einige der demografisch bedingten Hindernisse bei der Digitalisierung leichter überwinden.

Fazit: Wie geht es weiter für die digitale Wirtschaft in Europa?

Ein wirklich europäisches Geschäftsmodell könnte auf einem mentalen Wandel hin zu inklusiveren Wachstumszielen beruhen, die die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des digitalen Wachstums berücksichtigen. Die Festlegung einer eigenen europäischen Strategie für die digitale Zukunft kann jedoch nur ein erster Schritt sein. Am Ende müssen diese strategischen Ziele in konkrete politische Ziele und Empfehlungen übersetzt werden. Anknüpfend an die vorausgegangene Debatte machten die Teilnehmenden im letzten Teil der Diskussion Vorschläge für mögliche Strategien und gaben Empfehlungen für ein wettbewerbsfähigeres und inklusiveres europäisches Modell für digitales Wachstum.

  • Innovation und soziale Auswirkungen

Wie definiert man inklusive Innovationen? Wie lassen sich Innovationen verhindern, wenn sie zum Beispiel die Umwelt zerstören? Die künftige Innovationspolitik und die europäischen digitalen Geschäftsmodelle müssen inklusiv und sozial relevant sein. Es ist jedoch nicht so einfach, Methoden und Rezepte zu entwickeln, mit denen sichergestellt werden kann, dass sie eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft haben. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, bei den europäischen Finanzierungsmechanismen die soziale Dimension stärker zu berücksichtigen, damit soziales Unternehmertum und soziale Geschäftsmodelle mit einem inklusiven Wachstumsmodell belohnt werden.

  • Kommunizieren der digitalen Transformation

Wie bereits festgestellt, besteht eine große Herausforderung für die digitale Transformation in der EU darin, der Öffentlichkeit, den Politiker/innen und öffentlich Bediensteten technologische Veränderungen und Politiken so zu vermitteln, dass ein nachhaltiger Wandel begünstigt wird. Im Allgemeinen sollten die Regierungen Leitlinien für Investitionen aufstellen und Außenstehende mit ins Boot holen. Moderne, schlanke und iterative Prozesse sowie agile Ansätze der Problemlösung sind bisher meist keine Stärke staatlicher Einrichtungen. Da Beweglichkeit somit nicht aus den Ministerien kommt, müssen die Behörden zur Umstellung ihrer internen Prozesse stattdessen externe Fachleute mit dieser Art von Expertise konsultieren.

Ein weiterer Aspekt des Kommunikationsproblems ist das Informationsgefälle zwischen Brüssel und den nationalen Hauptstädten. Es braucht daher zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen, um die europäischen Rechtsakte zu prüfen und Mechanismen für den Wissenstransfer von Brüssel in die jeweilige nationale Öffentlichkeit aufzubauen. Auch die Macht von Lobbygruppen, die sich für sozialen Wandel und nachhaltige Entwicklung in der digitalen Wirtschaft einsetzen, muss auf europäischer Ebene weiter gebündelt werden.

Denn gemeinsam könnten sie öffentlichkeitswirksamer für den gesellschaftlichen Wandel eintreten.

  • Mögliche Unterstützung von Start-ups

Wie kann die EU Start-ups mit einem inklusiveren Geschäftsmodell bei ihrer Entwicklung helfen? Eine Möglichkeit könnte laut den Teilnehmenden darin bestehen, Steueranreize für Start-ups in der Wachstumsphase zu schaffen und damit ihren Finanzierungsbedarf zu verringern. Eine weitere Idee wäre, gemeinsam mit den Regulierungsbehörden in so genannten „Regulatory Sandboxes“ Strategien zu entwickeln (insbesondere für neue Technologien, bei denen ohnehin regulatorisches Neuland betreten wird).

  • Das heikle Thema Daten

Sind Daten das neue Öl? Ist Datenschutz ein Innovationskiller? Diese beiden derzeit beliebten Behauptungen wurden von den Teilnehmenden der Fachgruppe weitgehend verneint. Um europäischen Start-ups zu helfen, wird es jedoch unter Umständen notwendig sein, einige der Datensilos zu öffnen, die die großen Online-Plattformen errichtet haben, was ihnen oft einen Vorteil gegenüber ihrer Konkurrenz verschafft. Eine weitere Möglichkeit zur Öffnung der geschlossenen Systeme einiger Online-Plattformen, insbesondere sozialer Netzwerke, bestünde in der Einführung strikter Plattformneutralität und dem Zwang zu stärkerer Interoperabilität zwischen den Plattformen. Letztere würde es den Kunden beispielsweise ermöglichen, eine Nachricht von Facebook an Telegram zu senden, ohne sich auf beiden Plattformen registrieren zu müssen.

  • Bildung: Entzauberung des „Digitalen“

Nicht zuletzt sollte das Thema Bildung zu einem zentralen Pfeiler für eine sozialere und inklusivere digitale europäische Gesellschaft werden. Was muss in den Schulen über die Digitalisierung gelehrt werden? Zunächst einmal wäre es wirklich wichtig, technische Dinge wie maschinelles Lernen, Virtual Reality oder Algorithmen im Allgemeinen zu entmystifizieren, um Ängste abzubauen und eine selbstbewusste Teilhabe an der digitalen Gesellschaft zu ermöglichen. Die Vermittlung der grundlegenden Funktionsweise beispielsweise von vernetzten Programmierschnittstellen könnte schon früh ansetzen, um einen natürlichen, intuitiveren Umgang mit den Technologien sicherzustellen.


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