Pestizideinsatz in Bolivien steigt sprunghaft an

Fallstudie

In Bolivien hat sich der Pestizideinsatz binnen nur 10 Jahren versechsfacht auf jährlich über 62.000 Tonnen Importe im Jahr 2017. Der Großteil ist hoch toxisch und in anderen Ländern verboten.

Kleinbauer in Bolivien
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Kleinbäuer/innen rücken zusehends als Kund/innen ins Visier der Pestizidimporteure

Dies ist Ergebnis einer aktuellen Masterarbeits-Recherche, die die Dimensionen und Auswirkungen des Pestizideinsatzes in Bolivien untersucht. Sie besteht aus einer empirischen Fallstudie bei KleinbäuerInnen in vier bolivianischen Ökoregionen, Experteninterviews mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen im März 2018, der Analyse wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisse zum Pestizideinsatz in Bolivien samt akuten wie chronischen Vergiftungserscheinungen und Auswirkungen auf die Ökosysteme.

Herzstück der Arbeit ist ein aufwändiger Abgleich der in Bolivien zugelassenen Pestizide mit den Listen des Pestizid-Aktions-Netzwerkes (PAN) über hoch giftige Pestizide und in anderen Ländern verbotener Pestizide, mit der Toxizitäts-Klassifikation der UN-Landwirtschafts- und Weltgesundheitsorganisationen FAO und WHO, mit EU-Verboten sowie der Greenpeace-Schwarzliste hoch gefährlicher, in der EU zugelassener Pestizide. Dieser Abgleich ergab, dass fast drei Viertel der in Bolivien zugelassenen Pestizide hoch toxisch und ein Großteil davon in der EU und anderen Ländern verboten sind (vgl. Kapitel 3.1).

Über 70 % (mindestens 164) der 229 in Bolivien registrierten Pestizid-Wirkstoffe sind hoch gefährlich aufgrund ihrer akuten oder chronischen Toxizität für die menschliche Gesundheit oder für die Ökosysteme. Obwohl fast die Hälfte (105) dieser hoch gefährlichen Substanzen in anderen Ländern verboten sind, autorisiert sie die zuständige Behörde SENASAG (Nationaler Dienst für landwirtschaftliche Gesundheit und Lebensmittelhygiene), da sie von den Zulassungsgebühren als Finanzierungsquelle ihrer Arbeit abhängt. Allein zwischen Mitte Mai und Ende August 2018 stieg die Anzahl zugelassener Pestizide (Handelsnamen) von 2.190 auf 2.419 an, das sind durchschnittlich 3 neue Produktzulassungen pro Werktag.

Nicht nur industrielle Großfarmen spritzen intensiv Pestizide im östlichen Tiefland Boliviens, das von Soja- und anderen Monokulturen für den Export geprägt ist. Auch KleinbäuerInnen rücken zusehends als KundInnen ins Visier der omnipräsenten Propaganda der Pestizidimporteure (Bolivien produziert selbst keine, sondern importiert alle Pestizide). Sie lassen sich aufgrund häufig niedrigen Bildungsniveaus und mangels alternativer Beratung von den Versprechen der Agrarchemiekonzerne ködern. Diese Erkenntnis widerspricht einer landläufigen Darstellung in der Entwicklungspolitik, dass die kleinbäuerliche Familienlandwirtschaft per se agrarökologisch im Einklang mit der Natur wirtschaftet und gesunde Grundnahrungsmittel erzeuge.

Zusätzlich zu den legalen Importen wird circa ein Drittel der Pestizide illegal ins Land geschmuggelt, da die staatlichen Kontrollen an den Grenzen sowie auf Märkten defizitär sind; es gibt keine Sanktionen.

Die akute Zunahme des Pestizideinsatzes in Bolivien ist jüngeren Datums: Einer repräsentativen Untersuchung des bolivianischen Gesundheitsministeriums von 2015 zufolge begann die Mehrheit der 4.125 befragten LandwirtInnen erst vor weniger als 5 Jahren mit dem Pestizideinsatz (38%); fast 30 % nutzen seit 5-10 Jahren Agrarchemie, und nur knapp ein Drittel (31 %) setzen Agrargifte bereits seit mehr als 10 Jahren ein. Demnach hat eine Mehrheit der ländlichen Bevölkerung, die Pestizide anwendet, ein niedriges formales Bildungsniveau: fast zwei Drittel (62,5%) hatten nur Grundschulbildung; ein weiteres Viertel (24,8%) Sekundarschulabschluss.

Soziale, politische und ökonomische Ursachen des stark angestiegenen Pestizideinsatzes liegen im Fehlen eines angepassten, flächendeckenden bäuerlichen Ausbildungssystems; in der vorwiegend konventionellen Orientierung der universitären Agrarfakultäten; einer nahezu inexistenten staatlichen Agrarberatung – ein Vakuum, das die Pestizidkonzerne und –händler mit ihrer Propaganda und dezentralen Präsenz ausfüllen, sowie im defizitären Pestizidzulassungs- und Kontrollsystem der staatlichen Lebemsmittelsicherheitsbehörde SENASAG.

Der Pestizideinsatz erfolgt willkürlich und chaotisch: viele LandwirtInnen mischen hoch giftige Pestizidcocktails aus Insektiziden und Fungiziden, häufig ohne die nötige Schutzkleidung zu tragen. Mangels flächendeckender Sammel- und Entsorgungsstellen werden große Mengen leerer Pestizidcontainer nicht geordnet entsorgt, sondern verschmutzen Höfe, Gewässer, Erdreich und die Ökosysteme.

In Bolivien fehlt ein öffentliches landwirtschaftliches Ausbildungs- und Agrarberatungssystem, das flächendeckend und dezentral für alle KleinbäuerInnen zugänglich wäre, das zudem - anders als die Pestizidindustrie - ohne Profitinteresse beraten sollte und zum Ziel hätte, die LandwirtInnen vom Kauf teurer Agrarchemikalien unabhängig zu machen und ihre Agrarökosysteme dauerhaft nachhaltig zu gestalten. Mangels unabhängiger Agrarberatung suchen viele ProduzentInnen den Rat der Pestizidhändler, um sich zu informieren, welche Produkte sie spritzen sollen – anstatt dass sie eine ganzheitliche Beratung erhielten, wie sich Schädlinge und Pflanzenkrankheiten ökologisch bekämpfen und kontrollieren lassen.

Fast die Hälfte der vom Gesundheitsministerium befragten BäuerInnen äußerte, bereits akute Vergiftungssymptome während oder kurz nach der Pestizidanwendung erlitten zu haben. Ihr Wissensstand insbesondere über die chronischen Langzeitfolgen des Pestizideinsatzes für Gesundheit und Ökosysteme ist jedoch sehr gering. Die vorliegende Masterarbeit hat daher die verfügbaren wissenschaftlichen Studien und Erkenntnisse ausgewertet, denen zufolge die Exposition gegenüber Agrargiften zu schweren Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, Parkinson, hormonale Störungen, Degradierung des Nervensystems, Fehlgeburten, Missbildungen, Entwicklungsstörungen und Sterilität/ Unfruchtbarkeit führt.

Zur direkten Pestizid-Exposition für LandwirtInnen, ihre Familienmitglieder und AnwohnerInnen hinzu kommt das beträchtliche Risiko für KonsumentInnen, mit Pestizidrückständen belastete Nahrungsmittel zu essen: Wiederholt fanden unabhängige Lebensmittelkontrollen auf bolivianischen Märkten z.B. in Tomaten und Salat Rückstände hoch giftiger Pestizide weit oberhalb der erlaubten Grenzen. Es fehlt ein öffentliches Kontroll- und Monitoringsystem der Lebensmittelhygiene.

Eine Suche nach den Ursachen der von KleinbäuerInnen beobachteten wachsenden Instabilität der Ökosysteme führt zur Theorie der Trophobiose des französischen Biologen Francis Chaboussou. Demzufolge geraten Pflanzen nicht nur durch die Pestizide selbst, sondern bereits durch leichtlöslichen Mineraldünger in Wachstumsstress, so dass ihr Pflanzensaft mehr Aminosäuren, Zucker und Nitrat enthält und dadurch verstärkt Schädlinge angezogen werden.

In ökologischer und auch ökonomischer Hinsicht sind konventionelle LandwirtInnen in einem Teufelskreis (‚pesticide treadmill‘): Sie stellen einen zunehmenden Befall ihrer Kulturen mit Schädlingen und Pflanzenkrankheiten fest, die Symptome der wachsenden Instabilität ihrer Ökosysteme sind. Darum sehen sie sich gezwungen, immer mehr, giftigere und teurere Pestizide zu kaufen, während die niedrigen Produktpreise am Ende oft nicht einmal ihre eingesetzten ‚Inputs‘ decken, geschweige denn ihre Arbeitskraft. Manche verschulden sich gar, da die Agrarchemiehändler ihnen Saatgut, Kunstdünger und Pestizide vorab auf Kreditbasis stellen.

Ein politischer Vergleich der bolivianischen Verfassung und Gesetze sowie internationaler Umweltnormen und im Rahmen der UN eingegangener menschenrechtlicher Verpflichtungen zeigt, dass zwar Bolivien theoretisch eine der progressivsten Umwelt- und Menschenrechtsgesetzgebungen hat, die die Menschenrechte auf saubere Umwelt, Gesundheit, Leben, sauberes Wasser und unbedenkliche Nahrung explizit anerkennt. Diese werden aber in der Praxis oft verletzt, da die bolivianische Bevölkerung – Bauernfamilien und KonsumentInnen – schutzlos andernorts verbotenen, hoch giftigen Pestiziden bzw. mit Pestizidrückständen kontaminierter Nahrung ausgesetzt ist.

Dies kontrastiert mit der indianischen Kosmovision: die ursprünglich links-sozialistisch orientierte Regierung unter dem indigenen Präsidenten Evo Morales hat seit 2006 eigentlich als Ziel proklamiert, Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität zu erreichen, den Anbau gentechnisch veränderter Organismen zu verbieten, den Pestizideinsatz zu reduzieren und die Rechte der ‚Mutter Erde‘ zu schützen, um ein gutes Leben (buen vivir) für alle zu erreichen.

Als nachhaltige Alternative, die geeignet ist, eine giftfreie Produktion gesunder Nahrungsmittel zu gewährleisten, wird das Konzept der Agrarökologie vorgestellt, das die bolivianische Zivilgesellschaft ebenso propagiert wie der Welt-Dachverband von KleinbäuerInnen ‚La Vía Campesina‘ sowie die UN-Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation FAO. Agrarökologie bezeichnet – als Gegenbegriff zur industriellen, konventionellen und Chemie-intensiven Landwirtschaft - sowohl eine Orientierung der Wissenschaft und sozial-ökologischer Bewegungen wie auch der landwirtschaftlichen Praxis am langfristigen Erhalt der Ökosysteme.

Die bolivianische Regierung hat sich in ihrem „Gesetz 300 über die Mutter Erde und integrale Entwicklung für ein Gutes Leben“ zur Anwendung des Vorsorge-Grundsatzes verpflichtet, der auch im von Bolivien ratifizierten Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe (Stockholm Konvention) sowie in der Erklärung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED, ‚Rio Erdgipfel‘) von 1992 festgeschrieben ist. Dieser legt nahe, dass Bolivien ohne Verzug den Import und Verkauf hoch gefährlicher Pestizide (highly hazardous pesticides) verbieten und effektiv sanktionieren sollte.

Daher sollte eine konsequente agrarökologische Umorientierung der Rahmenbedingungen weg von der aktuellen konventionellen Ausrichtung erfolgen, wie es die bolivianischen Gesetze eigentlich vorsehen. Hierzu gehören die Schaffung einer flächendeckenden landwirtschaftlichen Ausbildung sowie staatlichen Agrarberatung für ProduzentInnen, die universitäre Lehre und Agrarforschung, sowie eine effiziente Kontrolle der Lebensmittelhygiene durch die zuständige Behörde SENASAG. Dazu sollte das bolivianische Pestizid-Zulassungssystem in Hand des SENASAG reformiert und finanziell unabhängig von den Gebühren der Agrarchemiekonzerne gemacht werden. In einer Übergangszeit ist es nötig, die flächendeckende Sammlung und sichere Entsorgung der Pestizidbehälter und der großen Mengen illegaler Pestizide im Land zu gewährleisten, um die hieraus resultierende Kontaminierung der Umwelt zu beseitigen – nach dem Verursacherprinzip ist dies von den verantwortlichen Pestizidkonzernen zu finanzieren.

Die bolivianische Regierung sollte in Zukunft institutionelle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und mit einem effizienten regulatorischen Rahmen garantieren, dass die gegenüber Pestiziden sensibelsten und verletzlichsten Gruppen geschützt werden– wie Kinder, schwangere Frauen, indigene Völker, LandwirtInnen, abhängige LandarbeiterInnen sowie saisonale ArbeitsmigrantInnen. Es wird empfohlen, ein regelmäßiges Gesundheitsmonitoring für beruflich Pestiziden ausgesetzte LandwirtInnen zu schaffen, in allen staatlichen Gesundheitszentren eine kausale Dokumentation akuter und chronischer Pestizid-Vergiftungen einzurichten, die „Ombudsstelle der Mutter Erde“ (Defensoría de la Madre Tierra) zu stärken und den Agrarumweltgerichtshof (Tribunal Agroambiental) unabhängig arbeiten zu lassen, dessen Richter aktuell von der Regierung eingesetzt werden.

Bolivien ist kein Einzelfall. KleinbäuerInnen in vielen Entwicklungsländern stehen zunehmend als Kundschaft im Visier der Agrarchemieindustrie und spritzen hoch giftige Pestizide, wie z.B. das wahrscheinlich krebserregende Glyphosat und das nervenschädigende Herbizid Paraquat. Dabei gefährden sie ihr eigenes Leben, verschmutzen Böden und Gewässer, töten auch nützliche Insekten und destabilisieren zusehends die Ökosysteme; viele landwirtschaftlichen Produkte, die auf die Märkte gelangen, sind mit Pestizidrückständen belastet.