Für die Verteidigung individueller Freiheitsrechte im demokratischen Bürgerstaat Tunesien

Analyse

Seit 2014 sind Freiheitsrechte in der Tunesischen Verfassung verankert. Doch der Weg zu einer freien und modernen Demokratie in einem Land, dessen Strafgesetzbuch über 100 Jahre alt ist, ist sehr lang.

Die Verteidigung individueller Freiheitsrechte: Die Silhouetten von sechs Personen springen vor einer tief stehenden Sonne am Meer in die Luft

Alle Bürgerinnen und Bürger haben die gleichen Rechte und Pflichten und sind ohne jedwede Form der Diskriminierung rechtlich gleichgestellt. Der Staat garantiert ihre Freiheitsrechte sowie ihre Individual- und Gruppenrechte, und er gibt allen seinen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, in Würde zu leben. (Artikel 21 der tunesischen Verfassung vom 27. Januar 2014)

Diese neue Verfassungsnorm der Tunesischen Republik ist das Ergebnis des jahrzehntelangen Kampfes von zivilgesellschaftlichen Gruppen und politischen Aktivist/innen im Land. Für all jene, die in Tunesien zu den Menschenrechten stehen, und dafür eintreten, dass sie universell, eng miteinander verzahnt und komplementär sind, ist Artikel 21 der gemeinsame Nenner.

Für die Verteidigung individueller Freiheitsrechte: Zwei Menschen stehen erhöht vor einem blauen Himmel und schwenken jeweils die Tunesische Fahne

Am 12. Februar 2019 fand in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin unter dem Titel „Das Tunesien-Paradox: Verfassungspraxis zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ eine Diskussion mit tunesischen Politiker/innen und Aktivist/innen zum 5. Jahrestag der Verfassung statt. Den Mitschnitt der Diskussion finden Sie am Ende dieses Artikels.

Ist eine Verfassung erst einmal verabschiedet, muss sie auch auf der Ebene der Gesetzgebung und Strafverfolgung umgesetzt werden – keine einfache Aufgabe in einem Land, in dem Gesetze in Kraft sind, die teils Jahrhunderte alt sind: Gesetze, die noch aus der Zeit vor der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stammen und in denen die Rechte des Individuums keine Rolle spielen. Entsprechend traten bei der Umsetzung der neuen Verfassung Schwierigkeiten auf.

Das Tunesische Strafgesetzbuch von 1913 gilt noch immer als Grundlage der Rechtsprechung, was nach wie vor dazu führt, dass Hunderte von – insbesondere jungen – Menschen verhaftet werden: wegen eines Kusses, eines Lächelns, eines Glases Wein oder einer privaten, einvernehmlichen sexuellen Beziehung. So wurden am 12. Januar 2017 in der Küstenstadt Hammam Sousse zwei junge Männer in ihren jeweiligen Wohnungen festgenommen und zu zwei Monaten Haft verurteilt, weil sie „Frauenkleidung und weibliche Accessoires“ besaßen.

Dabei fand Artikel 226 des Strafgesetzbuchs Anwendung, in welchem „Verstöße gegen die öffentliche Moral durch Gesten, Sprache oder Absicht“ sanktioniert werden. Im selben Monat wurde weiter nördlich, in Nabeul, eine Frau der öffentlichen Trunkenheit und des Angriffs auf zwei Polizeibeamte beschuldigt und auf der Grundlage des erwähnten Artikels zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Die beiden Beamten hatten sie gefilmt und das Video unzulässig auf Facebook veröffentlicht.

Überholte Gesetze hindern in Tunesien vor allem Frauen daran, bestimmte bürgerliche Rechte und Freiheiten zu genießen. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen deshalb in Bündnissen und Netzwerken weiterhin für die Umsetzung dieser Rechte kämpfen. Eines der wichtigsten derartigen Bündnisse ist die Bürgerkoalition für individuelle Freiheiten (Le Collectif pour les Droits Individuels). Diese vielfältigen Initiativen haben großartige Erfolge erzielt, wie beispielsweise ein Gesetz gegen Menschenhandel (August 2016), das Verbot jeglicher Art von Gewalt gegen Frauen (August 2017) sowie die Abschaffung einer Anordnung (Circulaire) von 1973, der zufolge es einer tunesischen Frau (die per se als Muslimin betrachtet wird, obwohl es religiöse Minderheiten im Land gibt), nicht erlaubt war, einen Nicht-Muslim zu heiraten (8. September 2017).

Am 12. Juni 2018 folgte die Veröffentlichung des „Berichts über die Gleichberechtigung und die persönlichen Freiheitsrechte“, welcher von der COLIBE, der Commission des Libertés Individuelles et de l'Égalité vorgelegt wurde. Die Kommission war auf Anordnung des tunesischen Präsidenten am 13. August 2017 eingerichtet und beauftragt worden, die tunesische Verfassung, alle internationalen Konventionen, die Tunesien ratifiziert hatte, und die aktuellen modernen Richtlinien zu Menschenrechtsfragen, denen sich das Land verpflichtet fühlte, abzugleichen mit den teilweise freiheitsfeindlichen Gesetzestexten, die weiterhin im gültigen Strafgesetzbuch von 1913 zu finden sind und in der Rechtsprechung Anwendung finden. Zum anderen werden im Bericht zahlreiche Vorschläge formuliert, wie modernes Strafrecht verfassungskonform gestaltet werden müsste.

Der Bericht der Kommission bietet einen grundlegenden Baustein in der Debatte darüber, wie wichtige Grundsätze der tunesischen Verfassung umgesetzt werden sollen. Dazu gehören der Schutz der Freiheitsrechte des Einzelnen, ein Moralkodex, der strafrechtlich nicht im Widerspruch zu persönlichen Freiheitsrechten steht, sowie die vollständige und wirksame Gleichberechtigung von Mann und Frau, inklusive deren Gleichstellung im Erbrecht.

Professor Wahid Ferchichi

Prof. Wahid Ferchichi, ist Professor für Recht an der Universität von Karthago und der Gründer der Tunesischen Vereinigung zur Verteidigung individueller Freiheitsrechte (Association de la Défense des Libertés Individuelles, ADLI). Aktuell leitet er das Tunis-Büro der Zeitschrift Legal Agenda. Schwerpunkte seiner Forschung sind individuelle Freiheitsrechte sowie Prozesse des demokratischen Übergangs.

1. Schutz der persönlichen Freiheitsrechte

Die tunesische Verfassung vom 27. Januar 2014 ist sehr fortschrittlich und menschenrechtskonform ausgerichtet: Sie gewährleistet Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit und freie Ausübung der Religion (Artikel 6). Hinzu kommen persönliche Freiheitsrechte (Artikel 21), der Schutz der Würde und der persönlichen Unversehrtheit (Artikel 23), der Schutz der Privatsphäre, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis sowie der Datenschutz (Artikel 24), die Freiheit von Meinung, Gedanken und Ausdruck (Artikel 31) und die Freiheit des kulturellen und künstlerischen Ausdrucks (Artikel 42).

Zu diesen Verfassungsartikeln treten zahlreiche internationale Konventionen und Protokolle, die Tunesien ratifiziert hat, und in denen Gleichberechtigung und die Wahrung von Freiheitsrechten festgeschrieben sind. Darüber hinaus hat die COLIBE auch jüngste (Neu-)Ausrichtungen im Bereich der Menschenrechte berücksichtigt. Dazu gehören auf internationaler Ebene aktuelle europäische Neuregelungen oder bestimmte Mechanismen der Vereinten Nationen, wie beispielsweise der jüngste Besuch des UN-Sonderberichterstatters zur Bewertung des Status der Gewissensfreiheit in Tunesien (Bericht wird noch veröffentlicht).

Auch Reformforderungen, die auf nationaler Ebene formuliert worden waren, sind in die Arbeit der COLIBE eingeflossen: So hatte z.B. die Koalition für die Rechte von LGBTQI-Personen im Rahmen des UN-Mechanismus der Universal Periodic Review of Tunisia im Mai 2017 einen Schattenbericht vorgelegt, in dem u.a. das Verbot des Analtests zur Beweisführung für Homosexualität gefordert worden war. Außerdem hatte die Vereinigung zur Verteidigung individueller Freiheitsrechte (ADLI) einen Report zu Verletzungen der individuellen Freiheiten in Tunesien vorgelegt, der ebenfalls Gegenstand der Betrachtungen der COLIBE war.

Die Kommission geht zwar auf diese vielfältigen Rechtsvorstellungen ein, hat sich weitreichendere Versionen von persönlicher Freiheit und Gleichheit allerdings nicht zu eigen gemacht: Sie legt Vorschläge für eine Modernisierung des Strafrechts vor, liefert jedoch keine Vorschläge zu Fragen der gleichgeschlechtlichen Ehe, zum Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare, zu Euthanasie oder zur Sterbehilfe.

2. Ein moderner Ausblick auf ein Strafgesetz, das persönliche Freiheitsrechte berücksichtigt

Wie bereits erwähnt, stammt das tunesische Strafgesetzbuch in seinen Grundzügen aus dem Jahr 1913. Besonders deutlich wird dies in einem Abschnitt mit dem Titel „Angriffe auf die Moral“.

Da Moralvorstellungen und Auffassungen zu „anständigem“ öffentlichem Benehmen subjektiv, machtpolitisch und zeitgeschichtlich auf unterschiedlichen Normen basieren und vielfältig ausgelegt werden können, schlägt COLIBE vor, derartige Passagen durch präzisere Regelungen zu ersetzen und an Grundprinzipien des Strafrechts anzugleichen. In diesem Zusammenhang wurde aber lediglich das Verbot der „bewussten Zurschaustellung von Genitalien, um anderen zu schaden“ formuliert, was internationalen juristischen Standards entspricht. Hier wurde eine Strafandrohung von 500 Dinar Geldstrafe (etwa 150 Euro) vorgeschlagen.

Die Kommission empfahl weiterhin eine Revision von Artikel 231 des Strafgesetzbuchs, welcher Sexarbeiterinnen sowohl das Leistungsangebot durch „Gesten oder Worte“, als auch andere Formen der Prostitution verbietet. Die Zuwiderhandlung wird mit einer Haftstrafe (zwischen 6 und 24 Monaten) und einer Geldstrafe (zwischen 6 und 60 Euro) verfolgt. Eine Person, die mit einer Sexarbeiterin Geschlechtsverkehr hatte, gilt als Komplize und erhält dieselbe Strafe. Diese Regelung hält COLIBE für mehrdeutig: Ihre Umsetzung leiste der Willkür Vorschub, weshalb vorgeschlagen wird, das obligatorische Strafmaß durch eine einfache Geldstrafe zu ersetzen.

Die COLIBE sieht auch Artikel 230 kritisch, der Homosexualität kriminalisiert und mit drei Jahren Freiheitsentzug bestraft. Sie schlägt deshalb vor, diesen Artikel zu streichen und die Androhung von Freiheitsentzug durch eine Geldstrafe zu ersetzen. Hier wird ein Kompromiss erkennbar, der eine Verbesserung der Situation herbeiführen würde. Aus unserer Sicht ist dies jedoch nicht hinnehmbar: Der Vorschlag, Homosexualität zu bestrafen, wenn auch nur mit einer Geldstrafe, stellt eine Verletzung der Menschenwürde und des Rechts auf Freiheit von Diskriminierung dar, und widerspricht darüber hinaus sowohl modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als auch dem Diskussionsstand in der gegenwärtigen Rechtswissenschaft, was Homosexualität im rechtlichen Sinne eigentlich bedeutet.

Auch bezüglich der strafrechtlichen Regelung von Ehebruch bleiben in der Arbeit der COLIBE Fragen offen. Der Bericht geht überhaupt nicht auf die Frage ein, ob – und wenn ja, wie – Ehebruch unter Strafe gestellt werden soll. Neuere internationale Entwicklungen im Menschenrecht und Strafrecht haben den Ehebruch entkriminalisiert: Er wird als eine reine Privatangelegenheit des betroffenen Paares betrachtet. Artikel 236 des tunesischen Strafgesetzbuchs sieht hierfür jedoch noch eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren vor.

Bild von Wafa Ben Haj Omar

Wafa Ben Haj Omar (Magistra und Fulbright Alumna) ist Programmkoordinatorin des Demokratieprogramms im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis. Sie ist engagiertes Mitglied der tunesischen Zivilgesellschaft. Seit 2007 war sie in leitender Position tätig für mehrere internationale NROs und Think-Tanks, u.a. in den Bereichen Menschenrechte und Prozesse des demokratischen Übergangs.

3. Umsetzung der verfassungsmäßigen Gleichstellung von Mann und Frau: Forderung nach Gleichstellung im Erbrecht

Tunesische Konservative und radikale Islamist/innen haben den Bericht von COLIBE heftig angegriffen. Eine besonders emotionale Kontroverse stellt der Vorschlag der Kommission dar, Mann und Frau im Erbrecht gleichzustellen und damit die Umsetzung der Verfassung über die Schari'a zu stellen.

Die Mitglieder der Kommission, zuvorderst die bekannte Feministin Bochra Bel Haj Hmida, wurden mit dem Tode bedroht, und zwar von Adel Almi, dem Gründer der extremistischen islamistischen Partei Zitouna. Einige Parteien, darunter auch die islamistische Ennahda-Partei, gaben eher zaghafte Erklärungen ab, in denen sie die Anfeindungen und vor allem die Gewaltandrohungen, denen die Mitglieder der Kommission ausgesetzt waren, zwar verurteilten, sich ansonsten aber mit Positionierungen zu den Vorschlägen zurückhielten.

Zur Unterstützung der COLIBE-Mitglieder und ihres Berichtes verabschiedeten am 24. Juli 2018, am Vorabend des Tages der Republik, mehr als 90 Organisationen einen "Pakt für Gleichberechtigung und individuelle Freiheiten".

Die Zivilgesellschaft wartete nach der Veröffentlichung des Berichts darauf, dass der Präsident ein Machtwort sprechen würde, hatte er doch die Kommission am 13. August 2017 anlässlich des Tunesischen Frauentags sowie des 62. Jahrestags des Personenstandsgesetzes selbst ins Leben gerufen. Zwei Tage vor der erwarteten Ansprache des Präsidenten am 13. August 2018 kam es zu einer Großdemonstration der Gegner des COLIBE-Berichts. Die dabei öffentlich vorgetragenen Parolen fielen äußerst brachial aus.

Die Ansprache des Präsidenten selbst war schließlich eine Enttäuschung, denn er kündigte lediglich ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren an, durch das die Gleichheit im Erbrecht hergestellt werden soll. Die Ennahda-Partei positionierte sich ablehnend zu dieser Gesetzesinitiative. In der Erklärung, welche der Schura-Rat der Partei herausgab, hieß es, der Gesetzesvorschlag des Präsidenten verstoße gegen Grundsätze des Islam. Auch zivilgesellschaftliche Aktivist/innen kritisierten die Rede des Präsidenten und seine lasche Haltung.

Zugleich demonstrierten tausende Tunesier und Tunesierinnen am Tag der Ansprache in eben jenen Straßen, durch die zwei Tage zuvor die Islamist/innen marschiert waren, und forderten eine Reform aller freiheitsfeindlichen Gesetzesregelungen. Männer und Frauen (mit und ohne Schleier), junge und Menschen mittleren Alters versammelten sich nicht nur, um Präsenz zu zeigen und den COLIBE-Bericht zu unterstützen, sondern auch, um der ganzen Welt zu demonstrieren, dass Tunesien sich bewegt und an der Spitze des Fortschritts in der arabisch-muslimischen Welt steht, wenn es um die Verteidigung der Freiheitsrechte des Individuums und den Kampf um die Gleichstellung von Mann und Frau geht.

Es handelt sich hier um eine freie Bearbeitung der Heinrich-Böll-Stiftung, die auf der englischen Langfassung der Autor/innen basiert.

Das Tunesien-Paradox: Verfassungspraxis zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Heinrich-Böll-Stiftung

video-thumbnailDirekt auf YouTube ansehen

Das Tunesien-Paradox: Verfassungspraxis zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Mitschnitt der Diskussion vom 12.2.2019.