Proteste in Thailand: #LetItEndWithOurGeneration

Hintergrund

Studierende und Schüler/innen haben in Thailand eine neue Protestwelle entfacht. Sie fordern die Auflösung des Parlaments, eine neue Verfassung sowie ein Ende staatlicher Repressionen.

Demonstrierende in Bangkok vor dem Demokratie-Denkmal
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Demonstrierende vor dem Demokratie-Denkmal in Bangkok

Als am 16. August über 20.000 Menschen auf der Ratchadamnoen Road in Bangkok zusammenkamen, waren die Schilder mit den Forderungen der Student/innen nicht zu übersehen: Auflösung des Parlaments, eine neue Verfassung und keine Einschüchterungen mehr gegen Bürger/innen von Seiten staatlicher Institutionen. Es sind Forderungen, die eine Hoffnung auf Veränderung widerspiegelt, die in Worte gefasst nur selten öffentlich ausgesprochen wird, denn allein das in Frage stellen von etablierten Strukturen, Gesetzen und Tabus kann in Thailand massive Konsequenzen nach sich ziehen. Aber an diesem Samstag passierte genau das. Man sah Massen an Student/innen der hiesigen Universitäten, überwiegend weiblich, in schwarzen T-Shirts, Hand-in-Hand mit ihren Eltern und Freunden um das Demokratie-Denkmal sitzend, den Diskussionen und Reden auf der Bühne folgend, während sie gleichzeitig Fotos und Nachrichten über ihre Smartphones verbreiteten.

Essensstand am Rand einer Demonstration in Bangkok

Bei McDonalds nebenan verteilten ihre Onkels und Tanten, die eine gefühlte Generation früher noch auf Seiten der sogenannten Rothemden protestierten, Wasser und Snacks. Junge Souvenirverkäufer/innen, die vor allem durch ihre kritisch-kreativ bedruckten T-Shirts auffielen, fanden ihren Platz zwischen Buch- und Pad Thai-Ständen und gaben der Demonstration einen Hauch von Festivalstimmung. Etwas weiter Abseits stand eine kleine Gruppe von Demonstrierenden, die sich als regierungsfreundlich bezeichnete, um an diesem Tag nach eigener Aussage die Monarchie zu schützen. Doch ihre Kundgebung endete früh und ihre Aufrufe gingen letztendlich in der Masse der Student/innen unter.

Währenddessen wurde rund um das Demokratie-Denkmal sehr unterschiedliche Forderungen artikuliert. Aufrufe zur Verfassungsänderung waren ebenso zu hören, wie für das Recht auf Abtreibung. Während die einen für mehr Studierendenrechte kämpften (“White Ribbon Fight for Student Freedoms and Rights”), forderten andere eine Öffnung des von wenigen Unternehmen kontrollierten Biermarktes („Free Thai Beer Campaign“). Doch die Forderungen dieser jungen Protestierenden gehen weit über einzelne Themen hinaus und zielen auf einen fundamentalen Wandel in Thailands gesellschaftspolitischen System. Es geht um Bürgerrechte und Meinungsfreiheit, um eine transparente Politik und faire Justiz, es geht um Chancengleichheit und die Abschaffung eines Elitensystems.

Hinter den Forderungen sammeln sich viele Teile der Bevölkerung

Es geht um Forderungen, die die Student/innenproteste der vorherigen Wochen auf einmal in eine breite soziale Bewegung verwandelten und das Farbenspiel früherer Jahre und der Frage nach, wer ist Rot und wer ist Gelb, hinter sich gelassen hat. Stattdessen wird Unterstützung aus den verschiedensten Gruppen der Gesellschaft signalisiert: Umweltaktivist/innen und Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und Protestierende gegen Staudammprojekte, Friedensaktivist/innen, aber auch Vertreter/innen des Entertainment-Sektors, ob aus dem Fernsehen oder dem Theater, ob Sänger, Rapper oder DJs.

Sogar LGTBI- & Frauenrechtsgruppen, wie ‘Women for Freedom and Democracy’, die in der Vergangenheit häufig für ihre eher pro-militärische Haltung kritisiert wurden, traten der Bewegung bei. Es waren vielmehr LGTBI-Repräsentant/innen, die hier auf der Bühne nicht nur ihre Forderungen öffentlich vortrugen, sondern eine Art Moderator/innenrolle übernahmen, den historischen Moment dieses Aufmarsches hervorhoben und die anwesenden Polizist/innen aufforderten, sich auf die Seite der Protestierenden zu stellen. Das von der Polizei offiziell ausgestellte Genehmigungsschreiben für diese Demonstration wurde tausendfach gepostet und geteilt, während Zehntausende das Event live auf Facebook verfolgten und #DeadlineForTheEndOfTheDictatorship der Hashtag des Abends wurde.

Auf die steigende Zahl an Protestierenden im ganzen Land, ihre Kreativität und direkte Form der Kritik scheint die Regierung unvorbereitet. Ein Land, das innenpolitisch von starken militärischen und royalistischen Strukturen geprägt ist und auf dessen Basis ein oligarchisches Wirtschaftssystem entstanden ist, das es einigen thailändischen Unternehmen ermöglicht hat sich zu bedeutenden regionalen Investoren und Global Playern zu entwickeln, findet keine Antwort auf die Fragen ihrer jungen Generation. Man zeigt Verständnis für einzelne Forderungen und lehnt sie gleichzeitig ab, man verspricht ihnen zuzuhören und stellt sie gleichzeitig als unreif und von außen manipuliert dar. Im Vergleich zu früheren Protesten hält sich die Polizei noch auffallend zurück und konzentriert sich stattdessen auf die Einschüchterung derjenigen, die in ihren Augen als Wortführer/innen identifiziert wurden. Auf Verhaftung folgt Freilassung.

Das Militär regiert durch ein Klima der Einschüchterung

Dabei stand Thailand, neben einer langen Historie an Militärputschs, einem mit Privilegien behafteten bürokratischen Apparat und der selbst für südostasiatische Verhältnisse massiven Wohlstandskonzentration einer kleinen Finanzelite, schon immer auch für eine Tradition in der Bürger/innen für ihre politischen Überzeugungen auf die Straße gehen – ob nun im demokratischen oder weniger demokratischen Sinne.

So protestierten bereits zum Ende der 1960er Jahre Student/innen gegen angeblich manipulierte Wahlen, für Verfassungsänderungen oder Versuche des Militärs gewählte Regierungen abzusetzen. Zu Beginn der 70er Jahre dann, in der ersten Phase der politischen Öffnung Thailands, schlossen sich studentische Aktivist/innen mit lokalen Gruppen zusammen, um sich für die Rechte der Landbevölkerung stark zu machen. Auch wenn diese Bewegung bereits kurze Zeit später militärischen Repressionen zum Opfer fiel und 1976 im Massaker an der Thammasat Universität endete, bei der eine große Zahl an Student/innen von Polizei und Paramilitärs erschossen wurden, waren es diese Erfahrungen des Aufbegehrens gegen autoritäre Strukturen, die in den 90er Jahren eine vielfältige und pluralistische Zivilgesellschaft entstehen ließ. Man begann sich für alternative Entwicklungsmodelle und den Schutz natürlicher Ressourcen einzusetzen und gestaltete mit Forderungen nach einer Beteiligung an den zentralen politischen Entscheidungsprozessen den Charakter des neuen zivilgesellschaftlichen Engagements in Thailand entscheidend mit.

Spätestens mit dem jüngsten Militärputsch im Jahr 2014 wurde jedoch der Raum für eine kritische Bürgerbeteilung nahezu geschlossen. Dies gilt auch für Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Grundrechte der thailändischen Bevölkerung einsetzen. Denn nun hatte sich eine Junta an die Macht geputscht, die wenig Interesse zeigte die Regierungskontrolle kurzfristig wieder in zivile Hände zu übergeben. Stattdessen folgten eine Verhängung des Kriegsrechts, die Reglementierung der Medien sowie die Installierung einer Verfassung, die es dem Militär über lange Zeit ermöglichte, auch unter dem Anschein prodemokratischer Prozesse, an der Macht zu bleiben.

So entstand in den letzten Jahren nicht nur ein Klima der Einschüchterung, sondern ein politisches Umfeld zunehmender digitaler Überwachung sowie eines sich durch Doppelmoral auszeichnenden Justizsystems. Es folgten Verhaftungen auf Anordnungen der Militärregierung, die viele weitere Anhänger/innen der sogenannten Rothemden-Bewegung, sowie Arbeitsrechtsaktivist/innen, Schriftsteller/innen und Musiker/innen zwangen, das Land zu verlassen. Doch auch im Exil wurden einige von ihnen Opfer einer Politik des Verschwindenlassens und später tot aufgefunden. Die gegenwärtigen Verhaftungen dagegen berufen sich größtenteils auf die im Rahmen der Covid-19-Pandemie erlassenen Notstandsgesetze, dem sogenannten Computerkriminalitätsgesetz, sowie dem vage definierten Artikel 116 des Strafgesetzbuchs (Aufruhr), das eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren nach sich ziehen kann. Zudem hängt das mit drakonischen Strafen versehene Majestätsbeleidigungsgesetz (Lèse-Majesté) auch weiterhin wie ein Damoklesschwert über dem angeblichen Grundrecht auf Redefreiheit.

Junge Menschen stellen Traditionen und Autoritäten in Frage

Aber im August 2020 erlebt Thailand eine neue Form der Debatte und des Widerstands, die von den Universitäten aus in Schulen und sogar Familien Einzug nehmen. Insbesondere Online-Schauplätze wie Twitter, das als politische Diskussionsplattform bestehende Frustrationen eher potenziert als zur Deeskalation beiträgt, haben dazu geführt, dass Schüler/innen eine Form des Ungehorsams zeigen, die in Thailands Gesellschaft so noch nicht gesehen wurde. Und während die Demonstration am 16. August zu einer Reihe von Folgeprotesten im ganzen Land führte, insbesondere im Norden (Chiang Mai), im Nordosten (Khon Kaen) und tief im Süden, so ereignete sich nur drei Tage später etwas Ungewöhnliches vor dem Bildungsministerium der Hauptstadt. Eine Gruppe von fast 500 Schüler/innen, die sich selbst als „Bad Student-Group“ bezeichnet, versammelte sich vor dem Gebäude, während sie weiße Bänder trugen, ihre drei Finger zum symbolischen Trotz gegen die Diktatur hoben und Bildungsminister Nataphol dazu brachten, raus zu kommen und sich ihren Forderungen zu stellen.

Demonstration in Bangkok, auf einem weißen Schild steht auf Deutsch "Wir brauchen Redefreiheit"

Diese Schüler/innen stehen für eine Generation, die vor allem online mit Bürger- und Menschenrechtsthemen konfrontiert wird und viel schneller bereit ist, bestehende Traditionen und Autoritäten in Frage zu stellen. Viele Lehrer/innen wiederum, die selbst in einer Kultur von Obrigkeitsdenken, Unterwerfung und teils menschenunwürdigen Ritualen an Schulen groß geworden sind, reagieren nun mit Strafmaßnahmen in Form schlechter Benotungen, Druck auf Familien protestierender Schüler/innen und der Demütigung Einzelner vor der Gruppe. Aber die alten Strukturen scheinen in einem Ausmaß zu bröckeln, die weit über das Erziehungswesen und die gesellschaftspolitischen Strukturen hinausgehen und Thailands Identität als Nation berühren. Denn nun werden auf einmal Erzählungen und Definitionen thailändischer Geschichte, wie die Revolution von 1932, die Rolle der Kommunistischen Partei Thailands oder die Studierendenbewegung von 1976, wie sie über Jahrzehnte in Schulbüchern vermitteln wurden, offen in Frage gestellt. Ausgesprochene Gedanken die nur schwer wieder eingefangen werden können, da sie in sozialen Netzwerken breit diskutiert und sich über Online-Medien wie Prachatai, thisrupt, Isaan Record und The Motive im ganzen Land verbreiten.

Doch was brachte die jungen Menschen letztendlich auf die Straße, um ihre tiefsitzende Frustration gegenüber einer elitären und von Regeln und Strafmaßnahmen durchsetzen Gesellschaft Ausdruck zu verleihen? War es das Verbot der gerade bei dieser Generation so erfolgreichen ‚Future Forward‘-Partei? War es die von Überwachungskameras aufgenommen Entführung des Regimekritikers Wanchalearm Satsaksit im kambodschanischen Exil und eine thailändischen Regierung, die in ihrer Reaktion nicht mehr Gleichgültigkeit hätte zeigen können? Oder waren es die im Rahmen der Covid-19-Pandemie erlassenen Notstandsverordnungen, die viele Thais sehr stark an die Beschränkungen jener Grundfreiheiten erinnerte, die damals von der Militärjunta durchgesetzt wurden und laut Meinung vieler Aktivist/innen nur teilweise mit einer Virusbekämpfung zu erklären waren?

Es waren jedenfalls die wirtschaftlichen Folgen dieser Restriktionen, die das Ausmaß des gesellschaftlichen Ungleichgewichts in Thailand auf brutale Art haben sichtbar werden lassen. Es kam das Leid marginalisierter Gruppen zum Vorschein, die mit zunehmender Armut zu kämpfen haben. Es waren die über eine Millionen Wanderarbeiter/innen, die von heute auf morgen ihre Beschäftigung verloren. Es kam zu Verzögerungen bei der Unterstützung des informellen Arbeitssektors sowie die Ablehnung Sexarbeiter/innen im Land, die inoffiziell in die Hunderttausende gehen, in den Entschädigungsprozess mit einzubeziehen. Es stiegen die Selbstmorde und Fälle psychischer Erkrankungen, während die Arbeitslosenzahl offiziell auf vier Millionen Menschen anstieg und laut privaten Forschungsinstituten bis Ende des Jahres auf neun Millionen wachsen kann. Dies führte auch unter den Student/innen zu einer wirtschaftlichen Situation, die sich als dramatisch bezeichnen lässt, vor allem für die knapp 500.000 Absolvent/innen, die dieses Jahr den Arbeitsmarkt erreichen und sich wenig Hoffnung auf Beschäftigung machen können. Denn trotz der von der thailändischen Regierung erlassenen Konjunkturpakete in Höhe von nahezu 60 Milliarden USD, machten diese vor allem in ihrer Umsetzung Schlagzeilen, die sich durch mangelnde Rechenschaftspflicht und fehlende Transparenz auszeichnete.

Drei Forderungen, zwei Standpunkte, ein Traum

Mit der Auflösung des Parlaments, einer neuen Verfassung, sowie dem Ende staatlicher Repressionen wurden die Forderungen dieser neuen Bewegung nun klar zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus machte die „Free People“-Gruppierung ihren Standpunkt deutlich, als Alternative zur jetzigen Regierung weder eine Übernahme der Staatsgewalt durch das Militär, noch eine nicht-gewählte Übergangsregierung („national unity government“) zu akzeptieren und solch einen Schritt als illegitim und undemokratisch betrachten würde.

Ein weiterer öffentlich vorgetragener Reformprozess enthält wiederum 10 Forderungen und stellt den einen Traum dieser Bewegung ins Zentrum, den sie als wahrhaft konstitutionelle Monarchie beschreiben. Der Verfasser dieser Liste, der bekannte Menschenrechtsanwalt Anon Nampa, sieht sich auch aufgrund dieser Aussagen mehreren Haftbefehlen ausgesetzt, einschließlich einer Anklage wegen Volksverhetzung.

Die Forderung nach einer Verfassungsreform hat es dank des Zusammenschlusses einiger Oppositionsparteien bereits in den parlamentarischen Prozess geschafft. Darüber hinaus startete ein Netzwerk aus zivilgesellschaftlichen Gruppen, bestehend aus iLaw, dem People Go-Netzwerk und der Constitution Advocacy Alliance (CALL), eine verfassungskonforme Kampagne zur Sammlung von 50.000 Unterschriften, um diesen Prozess zu unterstützen. Allein während der Demonstration am 16. August kamen mehr als 10.000 Unterschriften zusammen.

In der Vergangenheit wurden junge Thais gerne als fügsam, unkritisch und fast schon apathisch dargestellt. Aber nicht so im Sommer 2020, als Schüler/innen und Student/innen begannen im ganzen Land zu demonstrieren und dabei eine Rhetorik nutzen, die den Jargon einer neuen Form der Online-Subkultur wiederspiegelt: #SaveAnon #SaveWanchalearm #SearchingForTruth #MakeItEndInOurTime; eine Kultur, in der soziale Medien eine entscheidende Funktion in der Übermittlung von Nachrichten und Informationen eingenommen haben. Denn bei aller Kritik an diesen Netzwerken, so sind es vor allem diese Kanäle, die die Möglichkeit haben, einem die sozialen Ungerechtigkeiten in der thailändischen Gesellschaft ungefiltert vor Augen zu führen, egal ob es sich dabei um geschlechterspezifische Diskriminierung handelt, Armut oder massive Umweltverschmutzung.

Dabei schaut diese Generation Thailands auch über ihre Grenzen hinaus und versucht von Protestbewegungen auf der ganzen Welt zu lernen, ob nun von den Demonstrationen in Hongkong, oder der BlackLivesMatter-Bewegung in den USA. Immer mit dem Ziel, die Werte und Ideale der Demokratie auch in ihrem eigenen Land zu verbreiten. Und so konnte man in dieser Nacht im August die thailändische Version von "Do you Hear the People Sing" aus dem Revolutionsmusical ‚Les Misérables‘ hören, dass in der Menschenmenge am Demokratie-Denkmal Bangkoks ihren Widerhall fand.


Der Artikel wurde von Mitarbeitenden unseres Südostasien-Büros in Bangkok verfassst.