Der „Platz des Wandels“ - erst ein Ort des Protests, dann ein Tatort, nun ein Ort des Gedenkens. Ein Augenzeugenbericht vom Gedenken an ein Todesopfer der Polizeigewalt in Belarus.
Ein Graffiti machte einen Minsker Hinterhof zu einem zentralen Ort der Protestbewegung für Demokratie in dem postsowjetischen Land. An diesem „Platz des Wandels“ entführten Schlägertruppen des Regimes den 31jährigen Anwohner Roman Bondarenko, der kurz darauf am 12. November 2020 nach schweren Misshandlungen in einem Krankenhaus verstarb.
Seitdem sind Tausende zum „Platz des Wandels“ gekommen. Sie legten Blumen nieder, Kerzen wurden aufgestellt - der „Platz des Wandels“, erst ein Ort des Protests, dann ein Tatort, nun ein Ort des Gedenkens.
Bereits kurz nach dem Tod Bondarenkos verbreitete die Pressestelle der Polizei trotz Widerspruchs der behandelnden Ärzte die Behauptung, das Opfer sei betrunken gewesen und hätte sich (bloß) mit „engagierten Bürgern“ gestritten - obwohl weitere Hinweise wie Videoaufnahmen dagegensprachen und klar auf Schläger des Regimes hinwiesen. Seit Monaten brechen sie eigene Gesetze und begehen schwere Verbrechen gegen ihre eigenen Bürger.
Am Sonntag, dem 15.11.2020, war der „Platz des Wandels“ voller Menschen. Sie wussten, der Gedenkort wird ohne Schutz nicht bestehen bleiben. Und dann wurden sie von massiven Polizei- und Militäreinheiten eingekesselt - Schüsse fielen, Blendgranaten wurden gezündet, Hunderte verhaftet, der Gedenkort vollständig zerstört. Hunderte Andere versteckten sich auf der Flucht vor der Polizei in den umliegenden Wohnhäusern bei bis dahin meist fremden Menschen. Etliche wurden festgenommen, andere harrten in ihren Verstecken die ganze Nacht aus. Wie es war, erzählt ein Augenzeuge, der anonym bleiben möchte. Alle Zwischenüberschriften folgen dem Original.
„Wie wir am Platz des Wandels gefangen gehalten wurden oder: Zeit für faszinierende Abenteuergeschichten.
Prolog.
Aus Sicherheitsgründen werden hier keine Namen und keine Adressen genannt, wir haben nicht mal Kontakte ausgetauscht, aber alle Protagonisten und Zahlen sind real.
Exposition
Wir sind zu Gast in einer der Wohnungen am Platz des Wandels. Wir, das sind 15 Personen, die sich nicht kennen. Von Draußen hören wir das Glas zerbrechen, die vernichten den Ort der Erinnerung an Roman. Wir sind alle leise, keiner guckt hinaus, weil die mit Taschenlampen in die Fenster leuchten, nach Schatten suchen, nach Anzeichen dafür, dass Menschen da sind. Der Platz selbst ist eingekesselt.
Leise sprechen wir miteinander, denken darüber nach, wie wir in ein paar Stunden nach Hause kommen sollen. In diesem Augenblick erreichen uns die Nachrichten, dass die Unmenschen in Schwarz die Wohnungen begehen, an die Tür klopfen, den Anwohnern damit drohen, die Türen aufzubrechen. Sie verlangen Pässe, prüfen wer gemeldet ist und führen widerrechtliche Hausdurchsuchungen durch. Wir schalten das Licht aus, sitzen leise. Rund um den Platz befinden sich nicht weniger als 6 Kleinbusse voller Polizisten in Zivil.
Dann klopft es an der Tür. Wir sind nicht da. Dann klopft es wieder, viel bestimmter. An der Türklinke wird gerüttelt. Dann klopft es ganz laut, vermutlich mit einem Schlagstock. Die in der anderen Wohnung waren nicht leise genug - sie müssen die Tür öffnen. Wir haben Glück, uns haben sie es abgenommen. Sie gehen wieder.
Kulmination
Unsere Quelle meldet, dass sie in Fahrstühlen unterwegs sind, nach ganz oben fahren und das ganze Haus über die Treppen durchsuchen. Wir denken darüber nach, wie wir hier rauskommen. In diesem Moment erfahren wir, dass an den Hauseingängen die Pässe kontrolliert werden. Ja, sie haben richtig gelesen. Passkontrolle bei Raus- und Reingehen. Die prüfen, wer gemeldet ist. Wenn die Angaben nicht mit der Hausadresse übereinstimmen, nehmen die einen fest und führen zu einem Bus ab. Die Leute aus der anderen Wohnung haben versucht, sich für Hauseinwohner auszugeben. Das ging nicht durch. Alle wurden verhaftet. Der Parkplatz ist umzingelt, Autos werden durchsucht, sogar der Kofferraum, damit keine Menschen darin entkommen. Die Unmenschen durchsuchen das Haus, klopfen mit den Knüppeln aufs Treppengeländer, damit alle wissen, dass sie da sind. Dann machen sie eine zweite Runde und klopfen an die Tür der Nachbarwohnung.
Das Memorial [für Roman Bondarenko] ist vollständig beseitigt. Irgendwann ist ein junger Mann mit einem Taxi gekommen und hat eine Blume niedergelegt. Eine Minute später wurde er verhaftet. Diese Geschichte wiederholte sich später, um 5 Uhr morgens, mit einem jungen Paar. Legten Blumen nieder, eine Minute, in den Bus.
Die Wohnungsbesitzer waren unglaublich cool, gaben uns zu essen, Nudeln, Tee, Kaffee, bereiteten uns ein Nachtlager, am Morgen dann leckerer Brei. Ich will denen fünf Sterne bei Airbnb geben, aber ihre Wohnung ist dort nicht zu finden :-). Wir machen Witze darüber, an welchen Tagen in der Woche uns die Verwandten wohl einen Gefangenpäckchen vorbeibringen könnten? Und sind uns schon sicher, dass das Ganze mit einem Tag nicht beendet sein wird. Die haben vorher schon eine Mauer rund um die Uhr bewacht und hier sind es ganze Wohnungen voller wunderbarer Menschen - für die ein Missstand, den man nicht durchgehen lassen darf. Dann machen wir wieder Witze, dass das Ganze hier eigentlich eine Party für Introvertierte ist: Alle schweigen und sitzen im Dunkeln.
Irgendwie haben wir etwas geschlafen, haben uns recht komfortabel in einem Zimmer eingerichtet. In dieser Wohnung ist es nicht mehr sicher, wir verabreden uns mit der Wohnung gegenüber. Da sind bereits 20 Leute und wir laufen barfuß, mit den Sachen unter dem Arm, um keinen Lärm zu machen, rüber. Nun sind wir 35 Leute. Wir versuchen, uns einen Plan auszudenken, haben endlich ein Ladegerät fürs Telefon gefunden! Für solche Fälle empfehle ich, immer ein Ladekabel bei sich zu haben. Ich rufe alle an, die helfen könnten: das Recht ist zusammengebrochen, Gesetze funktionieren nicht, niemand beachtet irgendwelche Rechte und alle sind ohnmächtig. Sitzt es aus.
Auflösung
Die Chats denken darüber nach, eine Menschenmenge zusammenzukriegen, damit man zum Platz des Wandels ziehen kann, Desinformationen werden rumgeschickt, dass es irgendwelche Konzerte und andere Dinge gäbe, damit man die Aufmerksamkeit von uns ablenkt. Wir warten, die Einwohner brechen zu einer Aufklärungsmission auf. Alles scheint sauber, die Passkontrolle ist aufgehoben, keine Patrouillen. Wir verabreden, dass alle gleichzeitig um 9:25 raus gehen (zur gleichen Zeit, damit die möglichst wenige erwischen).
Die Nachricht geht schnell in allen Häusern rum, nicht weniger als 200 Leute stürmen gleichzeitig auf die Straße. Habe kein Foto gemacht, keine Zeit für sowas. Draußen warten bereits ganz viele Autos von Menschen, denen nicht alles egal ist, aus einem ruft uns eine junge Frau zu, wir sollen reinspringen. Wir springen rein, sie tritt aufs Gas und wir sind weg. Dann erfahren wir, dass sich ganz in unserer Nähe, in irgendeinem Keller, 50 Leute versteckt hatten - ohne Licht, ohne eine Toilette. Mir wird klar, wir hatten noch Glück gehabt…
Epilog
Und drumherum geht das Leben weiter, Menschen fahren zur Arbeit, ist ja nichts geschehen, ihre Welt hat sich nicht verändert, für sie gibt es auch weiterhin keinen Krieg, keine Gräueltaten und keine Morde. In diesem Moment schreibe ich an alle meinen Verwandten, dass mit mir alles in Ordnung ist. Wir standen schon auf den Vermisstenlisten, weil wir nicht erreichbar waren.
Und Minsk lebt weiter und folgt seinem eigenen Rhythmus…“
Übersetzt aus dem Russischen von Wanja Müller für „Stimmen aus Belarus“ und die Heinrich-Böll-Stiftung
Quelle: https://www.facebook.com/AntonMotolko/posts/10158687996661308