Mexiko-USA: Wenn Mauern wackeln

Analyse

Gleich am ersten Tag seiner Amtszeit hat US-Präsident Biden eine Vielzahl von Änderungen in der Einwanderungs- und Grenzpolitik verfügt. Sie betreffen Migrant/innen in den USA, aber auch das Grenzregime mit Mexiko und das Verhältnis zu Mittelamerika. Mit Biden und seiner Regierung wird also alles ganz anders in der Migrationspolitik. Oder doch nicht? 

Verschiedenfarbige Särge mit Jahreszahl und Anzahl der an der Grenzen Gestorbenen hängen an einer Grenzmauer

Nicht eine, mindestens drei Mauern hat Donald Trump gebaut oder zu bauen versucht. Am wenigsten Erfolg hatte er mit seinem Propagandaprunkstück aus Beton und Stacheldraht: An der mehr als 3.000 Kilometer langen Grenze zwischen den USA und Mexiko sollte eine neue Mauer erstehen, und – so sein Wahlversprechen – Mexiko sollte sie bezahlen. Am Ende standen nach offiziellen Angaben 727 Kilometer. Davon sind aber wohl nur 129 Kilometer wirklich neu, der Rest wurde repariert und aufgerüstet. Und soweit man weiß, hat der mexikanische Staat dafür kein Geld entrichtet. Aber dennoch einen hohen Preis. Vor allem um das neue Handelsabkommen mit den USA und Kanada durchzubringen, akzeptierte die mexikanische Regierung eine „Sichere-Drittstaaten“-Regelung: Die Migrant/innen, die es schaffen, bei den US-Behörden einen Asylantrag zu stellen, müssen seit Januar 2019 den Ausgang des Verfahrens auf mexikanischem Boden abwarten. 

Das „Bleib in Mexiko“-Programm mauert Menschen effektiver aus als jede Grenze

Dieses sogenannte Migrant/innenschutzprotokoll (MPP) – besser bekannt als „Bleib-in-Mexiko-Programm“ – mauert Migrant/innen sehr viel effektiver aus als Beton, Stahl und Stacheldraht. Und für diese zweite Mauer Trumps zahlte der mexikanische Staat tatsächlich. Denn nun mussten sich die mexikanischen Behörden um die Abgewiesenen kümmern – wenn sie es denn taten. Die US-Grenzer setzten die Antragsteller, insgesamt etwa 70.000 Menschen, in Lagern in mexikanischen Grenzstädten aus. Es ist leider nicht zynisch zu sagen, dass sie sie ebenso gut direkt bei den Kartellen hätten abliefern können. Besonders berüchtigt ist das Lager in Matamoros im Bundesstaat Tamaulipas. Tamaulipas ist einer der gefährlichsten Bundestaaten Mexikos. Er wird größtenteils vom Organisierten Verbrechen kontrolliert. Migrant/innen werden entführt, um Lösegeld erpresst, oder zum Drogenschmuggel gezwungen. Funktioniert das nicht, verschwinden sie gewaltsam oder werden ermordet. Die Kartelle mussten zuletzt zusätzlich Personal rekrutieren, um die Erpressungen der Verwandten in den USA bewerkstelligen zu können. Noch läuft die Identifizierung der Migrant/innen, die vor wenigen Wochen verbrannt in einem Pickup unweit der Grenze aufgefunden wurden. Die meisten von ihnen kamen wohl aus Guatemala. Kurz: Das MMP-Programm hat mehr als 70.000 Menschen wissentlich in die Unsicherheit, unwürdige Lebensverhältnisse, Krankheit, Arbeitslosigkeit und regelmäßige Misshandlung durch Behörden geschickt, hat sie Entführungen, Erpressungen oder dem Tod ausgesetzt, wie Untersuchungen zeigen

Bidens Wende: Einwanderung regeln, Migration humanisieren

Der neue US-Präsident Joe Biden hat das MMP-Programm an seinem ersten Arbeitstag ausgesetzt. Noch im Februar sollen 25.000 Asylsuchende ihren Antrag in den USA stellen können. Allerdings werden neun von zehn bald doch wieder in Mexiko oder ihren Heimatländern landen, denn die US-Behörden geben weniger als 10 Prozent der Asylgesuche statt. Alle Abgelehnten werden umgehend abgeschoben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich daran substantiell etwas ändert.

Biden will vor allem die bestehende Einwanderung regeln und legalisieren. Wer schon in den USA lebt, soll eine Chance bekommen, Familien sollen nicht mehr brutal getrennt werden, die Asylpolitik wieder humaner gestaltet werden. In diese Richtung zielen die Kehrtwenden, die Biden gleich in den ersten Tagen seiner Amtszeit auf den Weg gebracht hat: 

  • Der Mauerbau an der Grenze zwischen den USA und Mexiko wird gestoppt.
  • Das DACA-Programm tritt wieder in Kraft. Es schützt Einwanderer/innen ohne Papiere, die als Kinder in die USA kamen – die „Dreamer“ – vor Abschiebung.
  • Das unter Obama erlassene CAM-Programm tritt wieder in Kraft. Es erlaubt minderjährigen Flüchtlingen aus Mittelamerika mit Verwandten in den USA, einen Flüchtlingsstatus zu beantragen.
  • Ein Abkommen mit Honduras, Guatemala und El Salvador, das den US-Behörden erlaubte, Migrant/innen aus diesen Ländern abzuschieben, ist zur Überprüfung ausgesetzt. 
  • Das Einreiseverbot für Bürger/innen aus überwiegend muslimisch geprägten Ländern wurde aufgehoben. 
  • Und schließlich verspricht Bidens Vorschlag für ein Einwanderungsgesetz bis zu acht Millionen Einwander/innen ohne Papiere eine Chance auf Legalisierung. Familienzusammenführung soll erheblich erleichtert werden und die „Dreamers“ sollen sofort die Staatsbürgerschaft beantragen dürfen und sie in drei Jahren erhalten können. Unter Trump Deportierte mit vorherigem mindestens dreijährigem Aufenthalt in den USA sollen zurückkehren können.

Diese Maßnahmen – Präsidialdekrete in der Mehrheit – setzen ein Signal, Einwanderung politisch neu zu diskutieren. Das Terrain dafür ist, um im Bild zu bleiben, von Stacheldraht durchzogen. Vor allem an den beiden Südgrenzen, denen der USA zu Mexiko und der Frontera Sur, der Südgrenze Mexikos zu Guatemala, werden sich weniger Dinge ändern als fortsetzen. Die Grenze bleibt natürlich scharf bewacht. Auch unter Biden werden Migrant/innen abgeschoben und die allermeisten Asylbewerber/innen abgelehnt werden. 

Mexiko: Migrationspolitik zwischen Extremen

Bidens Ankündigungen werden in Mexiko und südlich davon dennoch als Ermunterung gehört, sich wieder auf den Weg zu machen. Das bedeutet auch, dass Mexiko sich auf erheblichen Andrang einstellen muss. Langsam nur setzen sich beide Regierungen ins Benehmen. Erst sechs Wochen nach der Wahl erkannte der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador den Wahlsieg Bidens an. Mit Trump hatte AMLO ostentativ gute Beziehungen gepflegt, seine einzige Auslandsreise in mehr als zwei Jahren Amtszeit führte ihn nach Washington. Er folgte schlichtem Kalkül: Das Wohl der mexikanischen Wirtschaft steht über den Belangen mittelamerikanischer Migrant/innen.

AMLOs Migrationspolitik hat schon in mehrere Extreme ausgeschlagen: Schon bevor er Trump die De-facto-Mauer der Sicheren Drittstaaten-Regelung zugestand, hatte Mexiko seine Migrationspolitik um 180 Grad gedreht. Nichts blieb von den Ankündigungen, man werde eine humane und menschenrechtsorientierte Migrationspolitik einsetzen, den „Brüdern und Schwestern“ aus den südlichen Nachbarländern Arbeitsvisa geben und ihnen behilflich sein, ihren Weg bis zur Grenze zu gehen. Willkürliche Inhaftierungen und Polizeigewalt sollten der Vergangenheit angehören. Dann machten sich Ende 2018 in Mittelamerika die ersten Karawanen auf den Weg zur mehr als dreitausend Kilometer entfernten US-Grenze. Hunderte Menschen brachen in Honduras auf, zu Fuß. Entlang ihres Wegs reihten sich halbe Dörfer und ganze Familien kurzentschlossen in den Treck. 7.000 Migrant/innen erreichten schließlich den Süden Mexikos. In den Wochen danach folgte Karawane auf Karawane. Gleichzeitig gingen die Verhandlungen um das Handelsabkommen mit USA und Kanada in die Entscheidung.

Anfänglich unterstützten die mexikanischen Behörden und die Bevölkerung die Migrant/innen, doch das ließ immer mehr nach, auch in dem Maße, wie die US-Regierung Mexiko drohend daran erinnerte, dass sie die Menschen an der Südgrenze effektiv zu stoppen hätte. Bald deportierte Mexiko unter AMLO mehr Migrant/innen als unter seinem so heftig kritisierten Vorgänger Enrique Peña Nieto. Die neue Nationalgarde, eine verkappte Verlängerung des Militärs, ist entlang beider Grenzen, zu den USA und zu Guatemala, sowie im Landesinneren im Einsatz. Gleichzeitig erhielten die Migrationsbehörden immer weniger Mittel; es fehlt an Personal und Material, um die Migrations- und Asylpolitik umzusetzen – eine Politik, die, den Buchstaben nach, Asylgründe weiter fasst als die USA und auch verbreitete Gewalt (etwa durch die pandillas, die mittelamerikanischen Banden) und interne Konflikte als Fluchtgründe anerkennt. Als dann das MMP in Kraft trat und die Asylsuchenden aus den USA nach Mexiko zurückströmten, versprach ihnen die Regierung, sich um sie zu kümmern, ihnen Arbeit zu geben, eine Wohnung und eine Krankenversorgung, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Wenig ist passiert, die Menschen hausen zumeist in Lagern.

Das Konzept der vertikalen Grenze – eine Stafette von Checkpoints und mobilen Einsatztruppe, die gut 100 Kilometer ins Landesinnere reicht – soll all die noch einfangen, die es über die schlecht gesicherte Grenze mit Guatemala geschafft haben. Bei der jüngsten Karawane, die sich im Januar 2021 von Honduras auf den Weg machte, musste die Nationalgarde gar nicht eingreifen: Bereits das guatemaltekische Militär löste die Karawane auf. Schon scheint vergessen, was doch so offensichtlich ist: Ein repressiver Umgang mit den Migrant/innen führt zu Menschenrechtsverletzungen und treibt sie in die Fänge der coyotes, der Schlepper, und des organisierten Verbrechens. Wieviel Migrant/innen in Mexiko ermordet und verscharrt, verbrannt oder in Säure aufgelöst wurden, weiß niemand sicher, aber sicherlich sind es Tausende. Dennoch ist ein Wille, zu einer nichtrepressiven Politik zurückzukehren, derzeit nicht erkennbar. Letztlich hält sich so eine Regierung, die unter erheblichem Druck steht, ein weiteres Problem klein. 

Mexiko braucht die Kehrtwende von der Kehrtwende

Zu einer anderen Migrationspolitik sollte auch gehören, die Fluchtursachen in den mittelamerikanischen Ländern anzugehen. Ende 2018 hatte AMLO Trump eingeladen, mit ihm ein Fünf-Milliarden-Dollar-Programm für die Region aufzulegen. Es blieb bei der Idee. Nun hat Biden vier Milliarden für denselben Zweck angekündigt. Fluchtursachen mit Entwicklungspolitik anzugehen, ist der richtige Weg. Die Frage ist, ob dafür Zeit ist angesichts der erregten Debatten, ob die Mittel reichen, ob die Korruption in den Ländern nicht das Meiste abzweige und ob ein taugliches Konzept vorliegen wird.

Trumps Mittelamerikapolitik bestand vor allem darin, die dortigen Sicherheitsapparate und Grenzen aufzurüsten, um die Karawanen zu verhindern. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt ist die Grenze zwischen Mexiko und Guatemala mit finanzieller und logistischer Unterstützung der US-Regierungen zur vorgelagerten Südgrenze der USA ausgebaut worden. 2014 einigten sich die Regierungen Obama und Peña Nieto auf den „Plan Südgrenze“. Ziel war und ist, die Migrant/innen daran zu hindern, sich auf den Transit durch Mexiko bis zur Südgrenze der USA zu machen. Es gelten die „drei D“: Detection, Detention, Deportation – Entdecken, Festnehmen und Abschieben. Wie sich die militarisierten Grenzen zu Bidens Umorientierung und vor allem zu einer anderen Politik gegenüber den mittelamerikanischen Ländern verhalten werden, ist beiderseits des Rio Grande derzeit eine offene Frage. 

Trumps dritte Mauer wird noch lange stehen

Die neue US-Regierung will Trumps Mauer aus Beton, Stahl und Stacheldraht nicht weiter bauen und hat begonnen, die Mauer des „Migrant/innenschutzprotokolls“ abzutragen. Aber noch lange stehen bleiben wird wohl die dritte Mauer, die Mauer in den Köpfen: Über Jahre nannte Trump die Migrant/innen mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit „Kriminelle, Drogendealer und Vergewaltiger“, die die Sicherheit der USA und der US-Amerikaner/innen bedrohten – und zwar letztlich deswegen, weil sie aus Mexiko, Honduras oder Guatemala kommen. 70 Millionen US-Amerikaner/innen haben Trump ihre Stimme gegeben, und die meisten von ihnen werden ihrem Kandidaten auch in dieser Sicht auf die Dinge – und auf die Menschen – folgen. Und viele Mexikaner/innen, eine Nation von Migrant/innen, sind zuletzt den Migrant/innen der Karawanen aus Honduras oder Guatemala nicht mehr als „Brüder und Schwestern“, sondern offen feindselig begegnet. Die Zukunft der Asyl- und Einwanderungspolitik wird nicht zuletzt davon abhängen, wie öffentliche Meinung und Bevölkerung zwischen Nord- und Mittelamerika diese Menschen wahrnehmen und wahrzunehmen bereit sind.