Gutes Regieren – Maßstäbe und Erfahrungen

Veranstaltungsbericht

Gutes Regieren gehört zu den Versprechen liberaler Demokratien. Dennoch ist keineswegs ausgemacht, was jenseits des elektoralen Erfolgs die normativen und empirischen Beurteilungsmaßstäbe für gute Regierungen in Demokratien sein können. Im Rahmen ihrer Neujahrsakademie, die wegen der Covid-19-Pandemie online stattfand, diskutierte die Grüne Akademie am 19. Februar 2021 über Regierungserfahrungen und Kriterien guten Regierens. 

Grüne Akademie über Zoom

Was sind Kriterien für gutes Regieren?

Den Eröffnungsvortrag hielt der Historiker Paul Nolte (FU Berlin). Er setzte mit seinem Vortrag beim Konzept des guten Regierens an. Dieses sei jedoch schwer greifbar und bedürfe deshalb begrifflicher Klärung und einer historischen sowie kritischen Einordnung. Der Rückgriff auf dieses Konzept sei zunächst als eine erste Festlegung auf ein normatives Politikverständnis zu verstehen, in Abgrenzung etwa zu einem ausschließlich positivistischen Politikbegriff. Mit Blick auf den im anglophonen Raum geläufigen Begriff der Good Governance ließen sich des Weiteren zwei Tendenzen beobachten: Während mit dem Begriff in den entwickelten Demokratien westlicher Prägung der Anspruch auf eine Vertiefung und Verbesserung der demokratischer Institutionen und Praktiken verbunden werde, repräsentiere er im globalen Kontext eher einen demokratischen Minimalkonsens, dessen Einhaltung anhand von Checklisten der Weltbank oder anderer internationaler Institutionen festgestellt werde. 

In der Geschichte der Bundesrepublik sei die Vorstellung guten Regierens vorrangig mit Effizienz und Fähigkeit zur schnellen Problemlösung verbunden gewesen. Die Frage wiederum, ob über die Maßstäbe guten Regierens parteipolitischer Dissens herrschen könne oder ob diese überparteiliche Gültigkeit beanspruchten, sei im Laufe der Jahrzehnte unterschiedlich beantwortet worden. Sowohl die sozialliberale Koalition als auch Rot-Grün hätten das Versprechen auf gutes Regieren mit ambitionierten Reformversprechen verbunden. Der Rekurs auf Vorstellungen guten Regierens könne in diesem Sinne auch Ausdruck eines Grundvertrauens in die Regierungs- und Steuerungsfähigkeit der Politik sein. Demgegenüber habe man bereits in den 1970er-Jahren unter dem Stichwort der „Unregierbarkeit“ diskutiert, inwiefern die Komplexität einer modernen, pluralen Gesellschaft dem Gestaltungspotential des Regierens Grenzen setze. Hieran knüpfe auch der Regierungsstil der Ära Merkel an, wenn er gutes Regieren vornehmlich als möglichst geräuschlose Bewältigung immer neuer nationaler, europäischer und globaler Krisen verstehe. 

Die Praxis einer „auf Sicht“ fahrenden Krisenmoderation ließe bisweilen allerdings zu wenig Spielraum für produktiven Streit und demokratische Opposition im Sinne des Westminster Modells. Stattdessen bescheinigte Nolte der Bundesrepublik eine zunehmende Entwicklung hin zu einer Konkordanzdemokratie, in der auf Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsensens regiert werde. Der Rechtspopulismus verstärke diesen Trend, weil er die Entwicklung einer demokratischen Wagenburg-Mentalität befördere, die offenen Streit über die normativen Bewertungskriterien guten Regierens verhindere. 

Der Blick in die Zukunft mit ihren epochalen Herausforderungen von der Klimaveränderung und dem demographischen Wandel bis hin zur Migration zeige jedoch die Unzulänglichkeit eines bloß moderierenden Modus des Regierens. Auf der politischen Linken sei nicht zuletzt deshalb der Begriff der Reform von dem der Transformation abgelöst worden. Jenseits aller begrifflichen Unschärfe drücke dies einen insbesonders in der jüngeren Generation weit verbreiteten Wunsch nach weitreichenden Veränderungen aus, deren aktive Gestaltung von der Politik erwartet werde. Wie sich dieser transformative Anspruch in kurz- und mittelfristige Politik übersetzen lasse, bleibe dabei jedoch nicht selten unklar. Seines Erachtens, so Nolte, liege die Herausforderung etwa für die grüne politische Strömung darin, im Spannungsfeld zwischen dem Generationenprojekt der Transformation und dem kleinschrittigen Krisenmanagement der derzeitigen Politik mittelfristige Perspektiven für ein bis zwei Legislaturperioden zu entwickeln. 

Mit Blick auf die politische Kommunikation von Regierungshandeln in Bund und Ländern gab Nolte der Akademie einige kritische Überlegungen mit auf den Weg. Dem Diskurs über das gute Regieren könne auch in der Demokratie etwas Paternalistisches, ja Pastorales anhaften. Im Vergleich zum englischen Begriffspaar Governance und Government sei dies im Deutschen besonders evident, weil hier das Regieren vornehmlich im engeren Sinn, als Domäne der Exekutive verstanden werde. Wenn nun die demokratischen Eliten beanspruchen sollten, die Bevölkerung „gut“ zu regieren, ja womöglich zu leiten, sei dies nicht unproblematisch. Überspitzt ließe sich mit Verweis auf Michel Foucault von einer liberalisierten Disziplinarmacht sprechen. Die Reflexion über „gutes Regieren“, warnte Nolte, dürfe demnach nicht auf eine schiefe Ebene geraten, wenn sich gesellschaftliche Eliten gegenseitig die Qualität ihrer Herrschaftsausübung bescheinigten. Um dies zu vermeiden, müsse besonders die Input-Dimension demokratischen Regierens gestärkt werden, welche das Parlament, aber auch und gerade eine aktiv an den politischen Prozessen beteiligte Zivilgesellschaft umfasse. Ein solches, ganzheitliches Verständnis des Regierens, so schloss Nolte, sei nicht zuletzt wichtig, um die Unterscheidbarkeit demokratischer Regierung von Fürsorgediktaturen im Stile Chinas zu gewährleisten, deren Leistungsfähigkeit auf der Output-Seite in der Covid-19-Pandemie schwerlich bestritten werden könne.

In der anschließenden Diskussion traten die Mitglieder und Gäste der Akademie in intensiven Austausch mit Nolte. Ausgehend von ihren Erfahrungen in Politik, Verwaltung und Wissenschaft vertieften sie unter anderem die Fragen nach der Rolle wissenschaftlicher Politikberatung und wie sich neben normativen Bewertungsmaßstäben ebenso handwerkliche Kriterien guten Regierens, etwa der Gesetzgebung, feststellen ließen.

Arbeitsgruppen

Im Anschluss an die Plenardebatten vertieften die Mitglieder der Akademie gemeinsam mit Impulsgeber/innen in insgesamt sechs digitalen Arbeitsgruppen verschiedene Frage- und Problemstellungen des Regierens. 

Christian Stecker (TU Darmstadt) diskutierte mit Sandra Brunsbach (Christian-Albrechts-Universität Kiel/Grüne Akademie) über die Möglichkeiten lagerübergreifender Koalitionen in fragmentierten Gesellschaften, wie sie etwa im Falle der österreichischen Komplementärkoalition von ÖVP und Grünen zu beobachten sei. 

Den theoretischen Grundlagen guten Regierens in der Demokratie gingen Felix Heidenreich (Universität Stuttgart/Grüne Akademie) und Ole Meinefeld (Referent Grüne Akademie) nach. 
Erkenntnisse über praktische Erfahrungen grünen Regierens versprach die dritte Arbeitsgruppe, in der Arne Jungjohann (Publizist/Grüne Akademie) die grüne NRW-Landesvorsitzende und das Akademiemitglied Mona Neubaur nach den Höhen, Tiefen und Lektionen grüner Regierungsbeteiligungen in den Ländern befragte. 

Den Stellenwert von Partei- und Regierungsprogrammen für die Bilanz einer (guten) Regierung diskutierte Margret Hornsteiner (Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation) mit Stefanie John (Heinrich-Böll-Stiftung). Dabei fragten sie auch nach möglichen Spannungen zwischen der Erfüllung von Parteiprogrammen auf der einen und einer am Wohl und Interesse der Gesamtgesellschaft ausgerichteten Regierungsführung. 
In einer fünften Arbeitsgruppe lotete Sebastian Bukow (Heinrich-Böll-Stiftung) im Gespräch mit Carsten Neßhöver (Umweltbundesamt/Grüne Akademie) Chancen, aber auch Grenzen des evidenzbasierten Regierens, etwa durch empirisch-wissenschaftlicher Gesetzesfolgenabschätzungen, aus.

Thomas Biebricher (Copenhagen Business School/Grüne Akademie) und Claudia C. Gatzka, (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Progressives Zentrum) schlossen die zweite Phase mit einer sechsten und letzten Arbeitsgruppe, in der sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen konservativen und progressiven Ideen des guten Regierens im Kontext der deutschen Geschichte sowie im internationalen Vergleich herausarbeiteten.