Afghanistan zwingt uns zu einer Abrechnung mit unserer digitalen Ethik

Analyse

Nach der Machtübernahme der Taliban bringen Massen von persönlichen Daten, die in 20 Jahren gesammelt und geteilt wurden, afghanische Menschrechtsaktivist*innen, Journalist*innen, und Mitarbeiter*innen ausländischer Organisationen in Lebensgefahr. Ihre Situation zeigt, wie staatliche Datensammlungen, aber auch digitale Kommunikationsmittel wie soziale Medien, in Krisenzeiten zu einem Risiko werden.

Ein Fallschirmjäger scannt die Iris eines anderen Soldaten mit dem HIIDE-System (Handheld Interagency Identity Detection Equipment)ency Identity Detection Equipment, or HIIDE
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Das amerikanische Militär und die afghanische Regierung sammelten jahrelang biometrische Daten, um eine Datenbank aufzubauen, die sowohl zur Identifizierung potenzieller Terroristen als auch zur Bestätigung der Identität von Ortskräften verwendet wird.

„Wir sind dann erst mal nur noch per Telefon zu erreichen. Wir zerstören die IT. Schönen Sonntag noch, Ende.“ Dies war laut einem Bericht im Spiegel das letzte Telegramm von Jan Hendrik van Thiel, dem stellvertretenden Missionschef der deutschen Botschaft in Kabul, am 14. August an Berlin. Während die ultrakonservativen Taliban die Macht übernehmen und verzweifelte Afghan*innen versuchen, aus dem Land zu fliehen, zwingt uns das neue Regime, uns kritisch mit unserer digitalen Ethik auseinanderzusetzen, insbesondere dem Umgang mit sensiblen Daten sowie mit Nutzung und Missbrauch sozialer Medien.

In Afghanistan sind Unmengen von Daten gespeichert ‒ ein Überbleibsel der 20-jährigen Besatzung durch die USA und ihre NATO-Verbündeten. Zwar wurde wahrscheinlich der größte Teil der Verschlusssachen bereits ausgeflogen oder vernichtet, doch sind mit ziemlicher Sicherheit auch sensible Informationen sowohl auf Papier als auch in digitaler Form zurückgeblieben. In Kombination mit anderen Informationen können sie insbesondere für Afghan*innen, die mit den NATO-Verbündeten zusammenarbeiteten, eine existentielle Sicherheitsbedrohung darstellen. Doch wie Nema Milaninia für Just Security schrieb, ist die Existenz dieser Daten eine zweischneidige Angelegenheit: Denn ihre Zerstörung könnte zugleich öffentliche Rechenschaftspflichten untergraben und es internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder dem Internationalen Strafgerichtshof erschweren, Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten.

Biometrische Systeme bergen Datenschutzrisiken

Die durch Daten verursachten Menschenrechtsprobleme sind nicht nur auf Verwaltungsdaten oder Regierungsdokumente beschränkt. Seit Jahren sammeln das amerikanische Militär und die afghanische Regierung biometrische Daten mit mobilen Geräten namens HIIDE (Handheld Interagency Identity Detection Equipment). Die damit aufgebaute Datenbank dient sowohl der Identifizierung potenzieller Terroristen als auch zur Bestätigung der Identität örtlicher Zivilist*innen und von Auftragnehmer*innen, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Da den Taliban verschiedenen Berichten zufolge die Gesichtserkennungssysteme des US-Militärs in die Hände gefallen sind, befürchten nun viele, dass die militante islamistische Gruppe damit die Helfer*innen der USA leichter aufspüren und bestrafen kann.

So mancher sah dies kommen. Jahrelang warnten Datenschutzexpert*innen davor, dass die Erfassung biometrischer Daten und ähnliche Maßnahmen, wie die Einführung eines digitalen Personalausweises, Randgruppen oder Geflüchtete nur noch stärker gefährden könnte.

„Multilaterale Organisationen und Entwicklungshilfeorganisationen legen nicht genug Wert darauf, den lokalen Kontext zu verstehen - wer die Daten nutzen kann und ob sie dazu verwendet werden können, Ungerechtigkeiten und Diskriminierung aufrechtzuerhalten“, sagt Raman Jit Singh Chima von der Gruppe Access Now gegenüber Rappler. Derartige Bedenken wurden auch in Bezug auf das indische biometrische Erkennungssystem Aadhaar und das kenianische Programm Huduma Namba geäußert. Die Situation in Afghanistan sollte also anderen in der Entwicklung befindlichen Projekten in der ganzen Welt eine Warnung sein.

Selbst wenn es sich nicht um biometrische Daten handelt, kämpfen viele Afghan*innen nun mit der Entscheidung, ob sie die digitalen Spuren ihres Lebens auslöschen sollen. Trotz der Behauptungen der Taliban, sie würden ihren ehemaligen Gegner*innen vergeben und Frauenrechte respektieren, sind viele skeptisch (und glauben, dass insbesondere Frauen aufgrund der repressiven Ansichten der Taliban über Geschlechterrollen gefährdet sein könnten). Es wird befürchtet, dass selbst die kleinste digitale Spur - wie etwa ein Foto zusammen mit einem Vertreter einer westlichen NRO - Afghan*innen in Gefahr bringen kann. Wie Chris Stokel-Walker anmerkt, haben die Taliban in den 90er Jahren Popmusik in Afghanistan praktisch verboten, sodass sich „selbst ein Spotify-Logo auf dem Startbildschirm eines Handys als fatal erweisen könnte.“

Welche Verantwortung haben soziale Medien?

Während der Rest der Welt zusieht, wie sich die aktuelle Krise zuspitzt, fragen sich viele, welche Rolle die sozialen Medien darin gespielt haben. Dienste wie WhatsApp waren bei der Evakuierung von Afghan*innen hilfreich, können diese Personen aber auch zu identifizierbaren Zielen machen. Auch die eigene Präsenz der Taliban auf sozialen Medien wirft Fragen zu den Verpflichtungen der Plattformen auf. Die Taliban richteten 2011 eine Twitter-Präsenz ein und unterhalten seit 2015 WhatsApp- und Telegram-Konten. Seither führt die Gruppe einen Internet-Feldzug, teilt ihre Geschichten auf sozialen Medien und stützt sich dabei auf clevere Propaganda—sogar auf Clubhouse verbreitet sie ihre Botschaft und spricht damit rechtsextreme Gruppen in aller Welt an.

Theoretisch sind die Taliban auf diesen Plattformen nicht willkommen. Sie wurden schon vor längerer Zeit sowohl von Facebook als auch von YouTube als gefährliche Organisation eingestuft. Twitter hingegen hat kein generelles Verbot gegen die Gruppe verhängt. In der Praxis ist das Verbot von Taliban-Inhalten nicht so einfach.

„Aber selbst wenn ein Großteil der Taliban-Propaganda nicht auf diesen Plattformen zu finden ist, sind einzelne Taliban-Kämpfer dennoch präsent“, erklärt Emerson T. Brooking, Senior Fellow am Digital Forensic Research Lab des Atlantic Council. „Das liegt daran, dass die Taliban Aufständische sind. Es ist definitionsgemäß äußerst schwierig, Rebellenkämpfer von der breiten Bevölkerung zu unterscheiden.“

Auch wenn die Plattformen nicht unbedingt für den Erfolg der Taliban verantwortlich sind, so Brooking, tun sich Plattformenunternehmen jedoch schwer im Umgang mit den Taliban in ihrer neuen Rolle. So ist beispielsweise unklar, ob die Taliban die Kontrolle über die offiziellen Facebook- and Twitter-Konten der afghanischen Regierung erhalten werden. Dies könnte als Legitimierung der Gruppe und ihrer Machtübernahme gewertet werden.

Twitter hat angekündigt, gegen Konten vorzugehen, die gegen das Verbot gewalttätiger Inhalte verstoßen. YouTube wird aufgrund seiner Auslegung der US-Sanktionsgesetze Konten mit Taliban-Bezug sperren. Ein Sprecher von Facebook erklärte gegenüber The Verge, dass es „keine Entscheidungen über die anerkannte Regierung in einem bestimmten Land trifft, sondern die Autorität der internationalen Gemeinschaft bei diesen Entscheidungen respektiert.“