Belarus: Der Sommer der „Säuberung“

Kommentar

In einer systematischen Kampagne lösen belarusische Behörden seit dem Sommer 2021 bislang über 250 unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen auf.

Solidaritätsaktion in Warschau am 17.09.21 für die heute sieben in Belarus inhaftierten Mitglieder der Organisation Viasna.

Die letzte Menschenrechtsorganisation in Belarus, die „Legal Initiative, wurde vom Obersten Gerichtshof des Landes am 5. Oktober 2021 für „liquidiert“ erklärt. Diese Vokabel im Beamtenrussisch der belarusischen Behörden steht für Auflösung und Verbot jedweder weiteren Tätigkeit einer NGO, eines Vereins und jeder anderen Art von Non-Profit-Organisation in Belarus. Die jüngste Gerichtsentscheidung ist nur der letzte Schritt einer systematischen Repressionskampagne gegen die Zivilgesellschaft in Belarus.

Entscheidung gegen Legal Initiative

Als die obersten Richter am 5.Oktober in Minsk gegen die „Legal Initiative“ entscheiden, reichen ihnen vier Gründe aus. Im Protokoll einer Konferenz seien nicht alle Teilnehmer:innen namentlich aufgelistet. Auf der Webseite der Organisation werde sie falsch bezeichnet: Statt „ROO Legal Initiative, nenne sich die NGO bloß „Legal Initiative, wobei die Abkürzung ROO für Republikanische Gesellschaftliche Vereinigung steht. Der dritte Grund, den das Gericht für seine Entscheidung anführt: Auf der Webseite finde sich keine vollständige Adresse der Organisation. Und schließlich sei das Logo von „Legal Initiative“ von keiner staatlichen Behörde registriert. Die Gesamtheit dieser deutlich formalen Verstöße reiche für den Entzug staatliche Registrierung aus. Ein Vertreter des belarusischen Justizministeriums legte den Menschenrechtsaktivistinnen außerdem zu Last, sie hätten nach einer Mitteilung des Justizministeriums über die Eröffnung eines Liquidations-Verfahrens ihre Tätigkeit nicht sofort eingestellt.

Die Aktivistinnen von „Legal Initiative“ wenden sich noch im Juli mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit[1]. Das Justizministerium sei nicht an der Beseitigung von formalen Fehlern interessiert, sondern einzig an einem zügigen Verbotsverfahren. In einem Jahr beispielloser Menschenrechtsverletzungen in Belarus hätten die belarusischen Gerichte in hunderten Verfahren vielfach unter Beweis gestellt, dass sie weder fair noch unabhängig sind. Angesichts dessen könne man die Gerichte nicht als solche anerkennen. Die „Legal Initiative“ sieht nur einen möglichen Weg: Sie werde jeden Richterspruch, auch den des Obersten Gerichts ignorieren und ihre Arbeit fortsetzen.

Die „Säuberung der Zivilgesellschaft

Solche Liquidierungs-Verfahren, wie zuletzt gegen „Legal Initiative, finden in diesem Sommer und dem beginnenden Herbst besonderes häufig in Belarus statt. Bei einer Sitzung des Ministerrats erklärt Lukaschenko die NGOs ein weiteres Mal zu Feinden. Am 22. Juli nennt er sie „Banditen und ausländische Agenten“ und kündigt eine „Säuberung“ an. Zu diesem Zeitpunkt ist diese längst im Gange.

Noch im Winter diesen Jahres kommt es am 16.02 zu einer ersten landesweiten Aktion der Sicherheitsbehörden gegen Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen und unabhängige Gewerkschaften. In Minsk und anderen Städten werden Büros und Privatwohnungen durchsucht, Technik und Unterlagen beschlagnahmt, Aktivist:innen festgenommen. Eine der am stärksten betroffenen Organisationen ist „Viasna, eine international bekannte und eine der profiliertesten Menschenrechtsorganisation aus Belarus. Zeitgleich durchsuchen Sicherheitskräfte die Büros der unabhängigen Journalistenvereinigung BAJ und der unabhängigen Gewerkschaft REP.  Das Ermittlungskomitee, die höchste Behörde für Kriminalermittlungen in Belarus, erklärt dazu, diese ganze „Operation“ finde im Rahmen von Ermittlungen über die Finanzierung von Protesten statt. Kurze Zeit später erfährt Viasna, dass gegen das Menschenrechtszentrum und die Aktivist:innen ein Strafverfahren nach Art. 342 StGB RB (Organisation und aktive Beteiligung an gemeinschaftlichen Handlungen, die grob die öffentliche Ordnung verletzen) eröffnet wurde. 

Im Sommer kommt es zu einer zweiten zweiten koordinierten Repressionswelle gegen zivilgesellschaftliche Akteure. Wieder gehen die Sicherheitsbehörden systematisch und landesweit vor. Am 14. und 15. Juli stürmen Sicherheitskräfte die Büros von mehr als 20 NGOs. Durchsuchungen treffen Menschenrechtsorganisationen, unabhängige Medien, Gewerkschafter, kulturelle und ökologische Projekte. Unter den Betroffenen sind Viasna, das Belarusische Helsinki Komitee, die Partei Belarusische Volksfront, das wirtschaftswissenschaftliche Belarusian Economic Research and Outreach Center (BEROC), die Frauenrechtsorganisation „Gender Perspektive und andere mehr.

Diese zweite „Razzia“ gegen die Zivilgesellschaft und unabhängige Journalist:innen zieht sich über mehrere Tage. Am Ende sind drei weitere Mitglieder von Viasna in Haft: Ales Bjaljazki, Gründer und Vorsitzender der Organisation, Träger des alternativen Nobelpreises; Waljanzin Stefanowitsch, stellvertretender Vorsitzender und Vize-Präsident der International Federation of Human Rights (IFHR); sowie Uladsimir Labkowitsch, Jurist der Organisation und Koordinator der Kampagne „Menschenrechtler für freie Wahlen[2].

„Säuberung“ als Verwaltungsakt

Nur wenige Wochen nach den Sicherheitsbehörden treten die kommunalen Verwaltungsbehörden auf den Plan und beginnen kulturelle, soziale und ökologische Projekte per Beschluss zu „liquideren“. Der erste Tag der Verbotswelle ist der 22. Juli und bis zum 27. Juli entziehen Kommunalverwaltungen, allen voran das Minsker Exekutivkomitee, rund 50 Vereinen und Hilfsorganisationen die Zulassung. In Minsk und in den Regionen ist die Liquidierung ein reiner Verwaltungsakt ohne Gerichtsverfahren. Den meisten Betroffenen wird der Beschluss nicht mal mitgeteilt, sie erfahren es von Dritten.

Der juristische Status einer NGO entscheidet darüber ob eine Organisation per Beschluss aufgelöst werden kann oder ein Gerichtsbeschluss notwendig wird. „Einrichtungen“ (Russisch: utschreshdenija) kann die Exekutive direkt auflösen, für „gesellschaftliche Vereinigungen" braucht es einen Gerichtsbeschluss. So vergeht etwas mehr Zeit bis das Oberste Gericht das Belarusische PEN-Zentrum am 9. August für „liquidiert“ erklärt. Am 27. August folgen die Journalistenvereinigung BAJ, am 30. September das Belarusische Helsinki Komitee und schließlich am 5. Oktober die „Legal Initiative. Diese Aufzählung ist weder vollständig, noch kann sie derzeit als abgeschlossen gesehen werden. In einer aktuellen Liste führt Viasna insgesamt 275 Vereine, Projekte und Organisationen auf, die für geschlossen erklärt wurden oder ein Verbotsverfahren durchlaufen[3]

Verschwörungsmythen als Staatsideologie

Lukaschenko hat die Zivilgesellschaft zum Feind erklärt und der gesamte Apparat des Regimes folgt dieser Linie. Sicherheitsbehörden, Finanzbehörden, das Justizministerium, Regionalverwaltungen und der Oberste Gerichtshof beteiligen sich aktiv und systematisch an der erklärten „Säuberung. Während die Richter formale Gründe in ihren Entscheidungen vermerken, hetzen staatliche TV-Kanäle, Zeitungen und allen voran Lukaschenko persönlich gegen zivilgesellschaftliche Akteure. Sie werden beschuldigt, aus dem Ausland gesteuert zu sein und den Protest finanziert und organisiert zu haben. Es erfolgt eine Gleichsetzung mit Terrorismus. 

Die „große internationale Verschwörung“ hat das Regime und seine Medien von Anfang an in Stellung gebracht. Nicht die Wahlmanipulationen, Gewalt und Folter, sondern der friedliche Massenprotest seien das Verbrechen und Teil eines fingierten Umsturzplans. Diese Verschwörungserzählung ist kalkulierter Betrug und genießt mittlerweile den Status einer neuen Staatsideologie. Sie rechtfertigt jede Gewalt, die das Regime seit dem letzten Sommer für den Machterhalt aufwenden muss: 35.000 Personen, die seit dem Mai 2020 aus politischen Gründen verurteilt wurden, 4.600 eingeleitete Verfahren, 728 politische Gefangene, unzählige Fälle von Gewalt, Todesopfer und Tausende dokumentierte Fälle von Folter[4].

Verbrechen und Beweise

Die belarusischen Ermittlungsbehörden liegen ganz auf der Linie des Regimes und seiner Verschwörungsideologie und setzen das Verschwörungsnarrativ in die Tat um. Erst gaben sie vor die Todesfälle unter den Protestteilnehmer:innen, Folter und Gewalt der Sicherheitskräfte zu untersuchen, dann geben sie bekannt: alles rechtens, kein einziges Straf- oder Disziplinarverfahren wird eingeleitet. Angst müssen die Opfer haben. Die völlige Straffreiheit ist eine der wichtigsten Bedingungen für die Eskalation und vor allem die Kontinuität staatlicher Gewalt in Belarus. Genau dagegen arbeiten unabhängige Journalist:innen und Menschenrechtsorganisationen.

Die „Legal Initiative“ ist Teil des Internationalen Komitees zur Untersuchung von Folter in Belarus, ein Verbund von Menschenrechtsorganisationen der am  22. August 2021 bereits seinen fünften Bericht vorlegt[5]. Viasna dokumentiert Tag für Tag, Monat für Monat detailliert und umfassend das ganze Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen in Belarus[6], leistet juristische und andere Hilfe für Betroffene und ihre Angehörigen. Die Journalistenvereinigung BAJ[7] dokumentiert das ganze Ausmaß der Repressionen gegen die Journalist:innen und sorgt als Partnerorganisation von Reportern ohne Grenzen dafür, dass die internationale Gemeinschaft Notiz davon nimmt. Und genau darin liegt der Grund, warum das Regime diese NGOs ins Visier nimmt. Umso mehr sind Belarus:innen auf Öffentlichkeit, Solidarität und direkte Unterstützung angewiesen.

 

[1] Die Erklärung der NGO auf Russisch: https://www.legin.by/posts/333.

[2] Damit sind insgesamt 7 Aktivist:innen von Viasna derzeit in Haft, insgesamt werden 16 Aktivist:innen in mehreren Strafverfahren, die mit Viasna in Verbindung stehen, als Beschuldigte oder Verdächtige geführt. Die Webseite der internationlen Solidaritätskampagne #FreeViasna informiert über die verhafteten Mitglieder und die Hintergründe: https://freeviasna.org/en.

[3] Die Übersicht findet sich unter einer Meldung zu den Geschehnisse unter http://spring96.org/ru/news/104540

[4] Ein Überblick zu Entwicklung von Menschenrechtsverletzungen und Repressionen in Belarus findet sich z.B. in umfassenden Berichten von Viasna (http://spring96.org/en/editions) und in den Berichten des Internationalen Komitees zur Untersuchung von Folter in Belarus (http://www.torturesbelarus2020.org/), auch auf Englisch.

[6]  Die Webseite von Viasna ist neben Belarusisch, Russisch auch auf Englisch zugänglich: http://spring96.org/en.

[7] Die Webseite von BAJ ist weiterhin zugänglich, ebenfalls in drei Sprachen: https://baj.by/en. Hier finden sich auch alle Berichte zur Lage der Medien in Belarus: https://baj.by/en/analytics/45.