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Kunst als politische Intervention

Lesedauer: 5 Minuten

Als „Papst der Postdramatik“ bedarf Professor Hans Thies Lehmann keiner vertiefenden Vorstellung, schon gar nicht vor diesem Publikum. Es sei lediglich angemerkt, dass seine lebenslange Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht und Heiner Müller und mit der dramatischen Form der Tragödie auch als Grundstoff für den heutigen Vortrag dient. Schon die griechischen Tragödien waren Versuchsanordnungen, in denen die herrschende Machtordnung in Frage gestellt wurde.

Die diesjährige Berlin Biennale setzte auf ihre Programmzeitschrift in großen Buchstaben die Worte: Act for Art - Forget Fear. Es geht um Grenzüberschreitungen, Tabubrüche und Medienskandale – ein Ruf, der auch der künstlerischen Arbeit des Kurators Artur Zmijewski vorauseilt. Für Gaby Horn, Direktorin der Kunstwerke, ist „die vorbehaltlose Forderung nach der gesellschaftlichen Wirkung künstlerischer Arbeit (eine) Attacke auf das Konzept einer autonomen Kunst bei gleichzeitiger Inanspruchnahme ihres geschützten Raumes“.

Mit anderen Worten: Kunst als politische Intervention, die sich zugleich auf den Freiraum der Kunst beruft. Dazu weiter Frau Horn: „Avantgardistische und kritische künstlerische Praktiken sind in der Regel von Provokation und Polarisierung gekennzeichnet, jedoch unter dem Aspekt der Freiheit der Kunst für jede Institution austellbar. Dort sitzt man dann mit dem Champagnerglas in der Hand neben Jenny Holzers Schreckensbotschaften über die Vergewaltigungen in Bosnienkrieg. Und fragt sich zu Recht: Ist das vielleicht eine Seifenblase, in der wir uns da bewegen?“

Gute Frage, altes Thema. Wie denken wir das Politische in der Kunst? Als Vermittlung felsenfester Gewissheiten und klarer Feindbilder oder eher als Medium „zögernder Selbstreflexion“, um eine schöne Formulierung von Hans-Thies Lehmann aufzugreifen? Es gibt wie fast immer gute Gründe für Empörung und Protest, ob auf der Bühne oder auf der Straße. Aber angesichts der dramatischen Umbrüche, mit denen wir in der Welt konfrontiert sind, braucht es ebenso sehr Räume für eine tastende, reflexive Erforschung der Wirklichkeit. Wir machen uns selbst etwas vor, wenn wir glauben, die aktuellen Umbrüche mit der Sprache und den politischen Rezepten von gestern zu erfassen. Welchen Reim machen wir uns darauf, wenn die Athener Innenstadt für die längst überfällige Stippvisite der deutschen Kanzlerin in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt wird? Was sagen uns diese Bilder über den Stand der europäischen Dinge? Und welche Antwort fällt uns auf das politische, wirtschaftliche und mentale Auseinanderdriften Europas ein außer der immer richtigen, aber hilflosen Beschwörung europäischer Solidarität?

Ich will hier nicht die lange Reihe ineinander verschlungenen Krisen durchgehen, die gegenwärtig die alte Weltordnung erschüttern: von der anhaltenden Bedrohung, die von den labilen Finanzmärkten ausgeht bis zur Klima- und Ressourcenkrise, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit fast schon wieder verblasst ist. Andere, aktuelle Umwälzungen absorbieren das knappe Gut Aufmerksamkeit. Wir sind Beobachter/innen eines tektonischen Bebens in der arabisch-islamischen Welt, hingerissen zwischen Hoffnungen und Befürchtungen. Beobachter/innen, wie Syrien scheinbar unaufhaltsam in einem blutigen Bürgerkrieg versinkt – vielleicht nicht teilnahmslos, aber allemal hilflos.

In dieser Zone des Ungewissen  bewegen sich auch Aktivist/innen und Künstler/innen. Es ist schon viel, wenn es gelingt, die schleichende Abstumpfung zu durchbrechen, die eine Gleichzeitigkeit verwirrender Krisen erzeugt; scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen und einen Impuls zu setzen, der jenseits der Theater und Museen fortwirkt. Nicht nur in Kairo oder Tunis, auch in vielen Ländern Europas, in Spanien oder in Georgien arbeiten Künstler/innen und politische Aktivist/innen Hand in Hand, und manchmal verschmelzen beide Rollen in eins. Empörung und Engagement, lange verpönt im Zeitalter des Postheroischen, kehren zurück. Mit den Möglichkeiten digitaler Medien ist eine neue Gegenöffentlichkeit entstanden, die zum Ausgangspunkt für konkrete Aktionen wird. 

Während eines Kongresses im Juni diesen Jahres in der Heinrich-Böll-Stiftung sprachen wir mit einer jungen Ägyptischen Bloggerin, die täglich auf dem Tahrirplatz ihre Erlebnisse und die ihrer Freunde aufzeichnete, um sie wenige Tage später auf die Bühne zu bringen. So entstand eine eigene künstlerische Sprache, die erlebte Wirklichkeit reflektierte und damit auf sie zurückwirkte - immer mit dem Risiko verbunden, zensiert oder verhaftet zu werden, immer in der Spannung zwischen politischer und künstlerischer Praxis, die ausgehalten werden muss.

Die zurückgelehnte Zuschauerposition, der rein beobachtende Blick genügt vielen nicht mehr. Die neuen gesellschaftlichen Bewegungen suchen die Kunst als Mitdenker und Verstärker: von der Reflexion zur Aktion, von Stephane Hessels „Empört Euch!“ bis zu Pussy Riot in der Moskauer Erlöser-Kirche. Das wirft die alte Frage neu auf: „Kann Kunst die Wirklichkeit beeinflussen?“ Zumindest kann sie das Denken, die Empfindungen, die Sichtweise von Menschen beeinflussen – also den Denk- und Gefühlsraum, aus dem politisches Handeln entsteht.

Eine interessante Frage am Rande ist die Finanzierungsbasis solcher Art gesellschaftskritischer, auf Veränderung zielender Kunst: auch sie braucht das Geld des Kunstmarkts oder der öffentlichen Hand – also jener Institutionen, mit denen sie mehr oder weniger radikal ins Gericht geht. Das Paradox lautet, dass auch interventionistische Kunst auf private oder öffentliche Geldgeber angewiesen ist. Man kann das als Zeichen ihrer politischen Irrelevanz lesen; man kann es aber auch als Rückkopplungsschleife eines selbstreflexiven Systems deuten, das sich Freiräume radikaler Kritik leistet.

Der Kapitalismus hat den Sozialismus auch deshalb überlebt, weil er Opposition zugelassen und in Innovation verwandelt hat, während aufsässige Künstler im Osten mindestens mit einem Bein im Lager standen und immer noch stehen. Die chinesischen Dissidenten suchen Asyl im Westen, nicht umgekehrt. Wenn wir etwas von ihnen lernen können, dann ihren unbedingten Sinn für Freiheit. Das war auch der Geist, von dem sich unser Namenspatron Heinrich Böll leiten ließ, der ein Rückhalt für verfolgte Künstler/innen aus aller Welt war und leidenschaftlich für die Freiheit der Kunst stritt. Dieses Erbe versuchen wir nach Kräften fortzuführen. 

Dazu gehört auch der grenzüberschreitende Diskurs zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik, den auch dieses Festival pflegt. Wir sind deshalb froh, dass wir daran mitwirken können und wünschen „Foreign Affairs“ eine nachhaltige Resonanz.


Einleitung zum Vortrag von Prof. Hans-Thies Lehmann: „Ästhetik des Aufstands? Grenzgänge zwischen Politik und Kunst in den neuen sozialen Bewegungen“. Eine Veranstaltung im Rahmen der neuen Berliner Reihe „Foreign Affairs“.

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