Geschichte der Anderen: Chinas Blick auf deutsche Vergangenheitsbewältigung

Teilnehmer/innen der Diskussionsrunde "Die Geschichte der Anderen - Chinas Blick auf die deutsche Vergangenheit." Bild: Stephan Röhl

15. November 2011
Sven Hansen
Mit den Hungerfolgen des großen Sprungs nach vorn, der Hetze der Kulturrevolution sowie der Niederschlagung der Demokratiebewegung gibt es in China viel Unrecht aufzuarbeiten, um einige Beispiele zu nennen. Dies ist jedoch kaum möglich, weil die herrschende Kommunistische Partei ihre Urteile längst gefällt hat, nur ihre Version zulässt. Doch kann sie chinesische Intellektuelle kaum hindern, sich in anderen Ländern mit deren Vergangenheitsbewältigung auseinanderzusetzen. So war Die Geschichte der Anderen - Chinas Blick auf die deutsche Vergangenheit das Thema einer Diskussion mit chinesischen Intellektuellen am Vorabend des geschichtsträchtigen deutschen 9. November.

Doch die deutsche Vergangenheitsbewältigung, speziell mit dem realsozialistischen Erbe, dient den chinesischen Teilnehmern des Podiums in der Berliner Zentrale der Heinrich-Böll-Stiftung nur als Stichwort. Sehr schnell kommen sie auf die Probleme beim Umgang mit der eigenen Vergangenheit und ihre Deutungen zu sprechen. Das Bedürfnis, kritisch über die chinesische Situation zu sprechen, ist viel größer als sich am deutschen Beispiel aufzuhalten. An dem haben die Chinesen ohnehin nichts auszusetzen. Einer spricht gar überschwänglich davon, die deutsche Vergangenheitsbewältigung habe „die Menschheit auf eine neue Stufe gehoben“. Danach geht es wieder um China.

Kritik und Selbstkritik

So sagt der Strafverteidiger und Menschenrechtsanwalt Zhang Sizhi, selbst Jahrgang 1927: ,„Die alten Intellektuellen, die Teilnehmer der Revolution, sagen: Wir sind eine Nadel mit zwei Spitzen. Sie fragen: Waren wir Mitläufer, haben wir Fehler gemacht?“ Zhang, der 2008 mit dem Petra-Kelly-Preis der Böll-Stiftung ausgezeichnet wurde, erläutert: „Wenn wir damals etwas Schlechtes getan haben, müssen wir die Frage auch an das System stellen und an unsere Führer: Die Frage, was Mao gemacht hat, muss gestellt werden.“

Die KP hat ihr offizielles Urteil über Mao Zedong bekanntlich längst gefällt. Er sei zu 70 Prozent positiv gewesen. Mit dieser schnellen Bewertung ohne umfassende Diskussion soll jede weitere Debatte abgewürgt werden, auch über mögliche Rückschlüsse auf die Partei selbst. Doch Zhang will nicht locker lassen: „Wenn Mao dabei schmutzige Hände bekam, müssen wir das auch diskutieren.“

Leidenschaftlich dumm

Einer, der sich nach eigenen Angaben auch schmutzig machte, ist der Historiker Wu Si. Der heutige Chefredakteur der Monatszeitschrift Yanhuang Chunqiu war während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) Rotgardist. Während er damals wie viele aufs Land geschickt wurde, drangsalierte er dort nach eigenen Angaben „als Linksextremist“ die Bauern. „Ich war ganz überzeugt, ganz leidenschaftlich – ganz dumm“, sagt er heute. Die Rubrik „Bedauern“ in seiner Zeitschrift sei ein Forum der Vergangenheitsbewältigung. „Da gibt es Erinnerungen über tot geschlagene Lehrer und Kommilitonen“, sagt Wu, „und über jene, die in den Selbstmord getrieben wurden. Und natürlich haben wir auch Erinnerungen von Opfern.“

Doch solche Erinnerungen mag die Regierung nicht, berichtet Wu: „Das ist viel zu sensibel.“ Es gelinge aber immer wieder, trotzdem dazu etwas veröffentlichen zu können, teilweise nur mit Hilfe des Internets. Bei seiner eigenen Tochter stoße sein Umgang mit der Vergangenheit allerdings auf großes Desinteresse, berichtet der Historiker. „Sie interessiert sich nur für Aktienkäufe.“

Zwei Versionen der Vergangenheit

Die Professorin Jin Yan vom Institut für Humanismus der Universität für Politische Wissenschaften und Recht in Peking hat es mit den eigenen Kindern zunächst einfacher, wie sie berichtet. Die würden ihrer Version interessiert folgen, doch damit fingen die Probleme in der Schule an: „Es gibt einen offiziellen und einen inoffiziellen Umgang mit der Vergangenheit“, sagt die Osteuropawissenschaftlerin, die einen Bestseller über den Umbruch von der Sowjetunion bis zur DDR schrieb. „Es gibt Probleme, wenn die Kinder etwas zu Hause hören und das dann in der Schule erzählen, wo der Lehrer behauptet, das dürft ihr so nicht sagen. Denn wenn sie in der Schule weiterkommen wollen, müssen sie wissen, was dort gefordert wird. Doch sie müssen auch wissen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist.“

Nach Meinung des Journalisten Chang Ping würden viele Eltern den Kindern nur sagen, dass es damals in der Kulturrevolution „schwierige Zeiten“ gewesen seien. Sie wollten die Kinder nicht erschrecken und deshalb über vieles nicht sprechen. Manche würden es sich auch einfach machen und die Schuld nur auf die Viererbande schieben. Chang, der sich zur Zeit als Stipendiat der Stiftung im Heinrich-Böll-Haus Langenbroich in der Eifel aufhält, sieht auch ein Dilemma für seinen eigenen Berufsstand: „Als Journalisten müssen wir eigentlich alles wissen, dürfen aber nicht über alles schreiben.“

Sven Hansen ist Asienredakteur der taz (die tageszeitung) in Berlin.

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