Böll im Zeitalter der Ironie

19. November 2010
Ulrich Greiner

Von Ulrich Greiner

Sehr geehrter Herr Staatsminister,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde von Heinrich Böll,

anders als im Programm vermerkt will ich keine Laudatio auf die Kölner Ausgabe versuchen, sondern eine Laudatio auf Heinrich Böll. Zur Kölner Ausgabe kann ich nicht viel sagen, sondern in aller Kürze nur dies: Ich finde sie hervorragend. Als ich mich daran machte, die großen Romane Bölls noch einmal zu lesen, habe ich die Qualitäten dieser Edition schätzen gelernt: nicht allein den präzisen und hilfreichen Kommentar, sondern auch die ausführliche Dokumentation der Rezeptionsgeschichte, die ein helles Licht auf die geistige Verfassung der alten BRD wirft. Alles in allem hatte ich das Gefühl, dass wir froh sein können, dieser engstirnigen und dumpf meisterhaften Epoche entronnen zu sein.

Es ist aber leider eine Tatsache, dass Gesamtausgaben in Leinen und Schuber nicht selten prächtigen Särgen gleichen, wo berühmte Autoren ihre verdiente Ruhe finden. Feiern wir heute ein Begräbnis erster Klasse? Anders gefragt: Wie tot ist Heinrich Böll?

Ich käme nicht auf die Idee, so zu fragen, hätte nicht der geschätzte Kollege Burkhard Müller vor ein paar Monaten genau dies behauptet. Aus Anlass des 25. Todestages schrieb er in der „Süddeutschen“, Böll sei ziemlich tot, seine Romane seien einfach furchtbar, und selbst von den Erzählungen taugten die meisten nicht viel. Müller reagierte nicht anders als Marcel Reich-Ranicki, der aus demselben Anlass in einem Interview gesagt hatte, Böll sei weitgehend vergessen. Der Grund? Böll habe damals, auf dem Höhepunkt seines Ansehens, eine Nase für jene Themen gehabt, die den Deutschen auf den Fingern gebrannt hätten. Heute aber seien andere Themen aktuell. Fazit: Abgesehen von ein paar schönen Kurzgeschichten habe uns Böll nicht mehr viel zu sagen.

Ich muss sagen, ich war empört, als ich das las. Niemand lässt sich gerne die Helden seiner jungen Jahre so mir nichts dir nichts niedermachen. Und Böll war einer meiner Helden. Ich bin deshalb außerordentlich froh, dass Sie mir Anlass gegeben haben, Böll noch einmal zu lesen und seine Verächter in die Schranken zu weisen. Das will ich im Folgenden tun. Ich will erstens zeigen, dass Böll nicht nur ein guter Mensch war, sondern auch ein guter Schriftsteller; und zweitens, dass er keineswegs tot ist, sondern dass seine Bedeutung noch gar nicht vollständig erkannt ist. Und damit meine ich die literarische Bedeutung, nicht die politische; die ist ja unbestritten, und von ihr will ich auch nicht reden.

Wer heute Bölls Romane unvoreingenommen liest, der kann das in der literarischen Szene vorherrschende Urteil nur absurd finden – dieses Verdikt, Böll habe es zwar gut gemeint, sei aber formal und sprachlich eher minderbemittelt gewesen. Man muss sich nur vor Augen führen, was in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren an deutscher Literatur nicht nur gedruckt, sondern auch gelobt und ausgezeichnet worden ist, um festzustellen, dass dort ein rechtschaffen gradliniges Erzählen vorherrschend ist, ein wackerer, erfahrungsarmer Naturalismus. Verglichen damit ist Böll eine Riese an formalem und sprachlichem Können.

Nicht nur verglichen damit: Betrachten wir seine Altersgenossen, die ja zum Teil noch leben. Mit jedem von ihnen kann er es aufnehmen – was zu zeigen leicht wäre, aber ich verkneife mir Beispiele, denn es wäre sicherlich nicht im Sinne Bölls, andere zu tadeln, um ihn zu loben.

Betrachten wir zum Beispiel die „Ansichten eines Clowns“, jenen Roman, der ja bei nicht wenigen unter Kitschverdacht steht. Böll hat hier die konventionelle Form der Ich-Erzählung gewählt, aber er hat die ambivalenten Möglichkeiten dieser Konvention meisterhaft ausgeschöpft. Denn Hans Schnier ist nicht Böll. Natürlich denkt man an Bölls satirische Begabung, wenn Schnier von seiner Mutter, der Millionärsgattin, erzählt, dass sie einst glühende Nationalsozialistin und Antisemitin war. Und nach dem Krieg war sie „Präsidentin des Zentralkomitees zur Versöhnung rassischer Gegensätze“.

Solch typische Koinzidenzen hat Böll ja immer aufgespießt, aber das sollte uns nicht dazu verleiten, den Clown als alter Ego von Böll misszuverstehen. Denn Hans Schnier ist vor allem von Selbstmitleid und Solipsismus geprägt, und Böll treibt diesen Erzähler an den Rand des Erträglichen, um eben dies deutlich zu machen: das Selbstbezogen-Genießerische in seinem Leiden. Wenn dieser furchtbare Prälat zu Hans Schnier sagt: „Das Schreckliche an Ihnen ist, dass Sie ein unschuldiger, fast möchte ich sagen, reiner Mensch sind“, dann ist das vollkommen doppelbödig: Es entlarvt den Prälaten, aber es trifft auch zu. Denn Schniers Einfalt ist ja nicht nur rein, sondern auch ausgesprochen dumm. Wer derart selbstverliebt mit seiner geliebten Marie umgeht, der hat diese Liebe nicht verdient.

Vollends klar wird das in den nun wirklich larmoyanten Fantasien, wo der Clown sich lustvoll seine eigene Beerdigung vorstellt, was mich stark an ähnliche Fantasien von Tom Sawyer erinnert hat, und ich bin sicher, dass auch Böll daran gedacht hat. Hans Schnier hat etwas Kindliches in doppeltem Sinn: Er besitzt den anarchistisch gestimmten Zorn eines Kindes ebenso wie dessen selbstgerechten Mangel an Reflexivität.

Es gibt aber in diesem Roman eine bemerkenswerte philosophische Passage. Hans erinnert sich an eine Szene mit seinem jüngeren Bruder Leo, als dieser ihn darum bat, gemeinsam mit ihm ein Stück Holz durchzusägen, und auf die Frage warum, keinen Grund abgeben konnte. Es heißt: „Er wollte einfach nur sägen.“ Hans, der Ältere, aber hat keine Lust dazu, und Leo weint ganz schrecklich. Jahre später jedoch begreift Hans auf einmal, was der junge Bruder wollte, er erlebt die ganze Szene noch einmal: „Ich erlebte seine Freude, seine Spannung, seine Erregung so intensiv, dass ich mitten im Unterricht anfing, Sägebewegungen zu machen, bis Pater Wunibald mich an den Haaren zupfte und zur Besinnung brachte. Seitdem habe ich wirklich mit Leo das Holz durchgesägt.“ Und der Clown kommt zu dem Schluss, dass manches von dem, woran er sich mit Bestimmtheit erinnere, vielleicht gar nicht so gewesen sei, und umgekehrt: Dass ihm vieles, was er wirklich erlebt habe, als unwahr, als nicht real erscheine.

Hier haben wir ein Thema der Böllschen Poetik, auf das er immer wieder zurückkommt: Literatur ist nicht dann triftig und glaubhaft, wenn sie auf Faktizität beruht, also eine naturalistische Plausibilität beansprucht, sondern wenn sie einer inneren oder höheren, wenn sie einer anders gearteten Wahrheit entspricht. Natürlich muss diese Wahrheit gewissermaßen geerdet sein, und deshalb hat Böll ja immer sehr genau recherchiert – was sich den Kommentaren der Kölner Ausgabe präzise entnehmen lässt. Aber er ist nie so buchhalterisch gewesen, dass die Ergebnisse der Recherche seine poetische Fantasie, also die Suche nach Wahrheit eingeengt hätten. In diesem Sinn war Böll eben kein Realist.

Man sieht das am deutlichsten in dem Roman „Billard um halb zehn“. Mir scheint, von allen Romanen Bölls ist er der kühnste. Sie werden mir zustimmen, wenn Sie Ihren Blick auf die Bauform richten. Zunächst ist die Spannung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit gewaltig: Die erzählte Zeit umfasst drei Generationen und ein halbes Jahrhundert, die Erzählzeit eine einzigen Tag, den 6. September 1958. Um diesen Spannungsbogen errichten zu können, versichert sich Böll aller denkbaren Erzähltechniken, der Technik des allwissenden Erzählers ebenso wie des auf seine Wahrnehmung begrenzten Ich-Erzählers; des Dialogs eben wie des Monologs und des inneren Monologs. Meisterhaft arbeitet er mit Rückblenden und mit Überblendungen, so dass dieses grauenhafte Jahrhundert an einem Ort und in einem Bild zusammenrückt.

Böll überhöht dieses Bild durch die oft zitierte Metaphorik vom „Sakrament des Büffels“ und vom biblischen Diktum „Weide meine Lämmer“, eine Metaphorik, die nicht völlig übersetzbar ist in unsere Alltagssprache, weil sie aus der katholischen Bilderwelt gespeist ist und zugleich Böllsche Züge trägt, man könnte auch sagen, häretische Züge. Aber was Böll damit sagen will, ist völlig klar, er bezeichnet damit den Konflikt zwischen den Tüchtigen und den Versagern, zwischen den Zynikern und den Menschenfreunden, den Ordnungsfetischisten und den Privatanarchisten, und es ist keine Frage, auf welcher Seite Böll am Ende steht.

Seine Abneigung gegen einen simplen Realismus wird schlagend deutlich in dem grandiosen Bild der Abtei von St. Anton: Heinrich Fähmel, der Großvater, hat sie errichtet; Robert, der Sohn, hat sie gesprengt, damit der Nazi-General im Endkampf ein freies Schussfeld habe; und Joseph, der Enkel, wird die Abtei wieder aufbauen. Nein, realistisch ist das nicht, aber es ist ein überzeugendes Bild für die nie erlahmende Kraft des Teutonischen: Aufbauen, Sprengen, Aufbauen. Und inzwischen wird ja das wieder Aufgebaute schon wieder gesprengt, ganz friedlich. Nur manchmal gibt es Proteste, wie jetzt in Stuttgart. Ich weiß nicht, wie viele der Demonstranten dort Böll noch kennen.

Kann man mit dieser wahrhaft gespenstischen Energie – wir dürfen sie getrost Kapitalismus nennen – seinen Frieden schließen? Böll kann es nicht. Robert Fähmel, eingeladen zur Wiedereröffnung der Abtei, antwortet in Gedanken dem Abt: „Ich bin nicht versöhnt, nicht versöhnt mit mir und nicht mit dem Geist der Versöhnung, den Sie bei Ihrer Festansprache verkünden werden.“ Nicht versöhnt: das war der Titel eines Films des inzwischen fast vergessenen Jean-Marie Straub. Nicht versöhnt: das war auch Böll, den man sich allzu leicht immer als den Versöhnlichen denkt.

Alberto Manguel hat kürzlich in einem Gespräch auf den simplen Umstand hingewiesen, dass jede Fiktion auf einem versuchten Betrug beruht. Der Autor sagt zum Leser: Ich weiß, dass Du weißt, dass ich Dich jetzt betrügen werde, also lass uns ein Bündnis schließen. Du schenkst mir Glauben, und im Gegenzug schenke ich Dir dafür Spannung und Wahrheit. Böll hat diesen Kontrakt beherzigt und auf seine Weise interpretiert. Die Wahrheit, die er meint, ist nicht allein bezogen auf Dokumentarisches oder Aktenkundiges. Er benutzt dieses Material, um seine eigene Geschichte zu erzählen, wie etwa in „Gruppenbild mit Dame“. Auch hier wieder probiert Böll ein neues, ein anderes literarisches Verfahren, und es ist ja erstaunlich, wie Böll, wenn man genau hinsieht, für jede Geschichte eine besondere Form gefunden hat. Die Erzählfiktion in „Gruppenbild mit Dame“ hat eine geradezu spielerische Unbekümmertheit. Sie vertraut auf den Pakt mit dem Leser, und sie steht in einem spannungsreichen Gegensatz zu der Rekonstruktion deutscher Vergangenheit und Befindlichkeit, die sich der Roman zum Ziel setzt.

Der Autor, der sich hier schlicht „Verfasser“ nennt und zugleich damit tarnt, erzählt eigentlich etwas ganz Einfaches und zugleich sehr Monströses, er erzählt von der Entstehung und vom Fortleben jener Mentalität, die Adorno den autoritären Charakter genannt und die ihre Kulmination in den Nazis und ihren Mitläufern gefunden hat. Dass diese Mentalität auch nach dem Krieg nicht ausgestorben ist, muss Leni, die Heldin, am eigenen Leib erfahren. Sie wird von den Alltagsfaschisten gedemütigt und von den Vorteilssammlern über den Tisch gezogen. Auf geheimnisvolle Weise aber scheint sie unberührbar. „Reuelos“ wird sie einmal genannt, was so viel heißt wie: Sie ist dem Zusammenhang von Schuld und Sühne entzogen, weil sie unmittelbar aus sich selbst lebt.

Wer eigentlich ist diese Leni, auf deren Spuren sich der sogenannte Verfasser viele hundert Seiten lang bewegt? Die Hauptfigur taucht ja in der Erzählzeit nie direkt auf, immer nur im Spiegel der Zeugnisse anderer. Das ist ein effektvoller Kunstgriff. Er macht die Geschichte genauso vieldeutig, wie sie es wäre, wenn ein sorgfältiger Historiker zu Werk ginge. Leni ist sozusagen Bölls Helena, eine Inkarnation seiner Utopie des Weiblichen, eine Verbindung von Sinnlichkeit und naiver Vitalität, von Mut und schöner Einfalt.

Einmal heißt es: „Sie wusste immer erst, was sie tat, wenn sie es tat.“ Das ist die denkbar knappste Definition von Naivität, und dass Naivität eine große Tugend sein kann, zeigt dieser Roman. Leni ist die Gegenfigur zu all den Opportunisten und Schlaumeiern, die den Roman bevölkern, und sie erlaubt es ihrem Autor, wie beiläufig ein ganzes Panorama selbstverständlicher Niedertracht auszubreiten. Das gelingt so gut, dass der Leser in die eingestreuten dokumentarischen Passagen – Heeresberichte, Propagandaschriften, Protokolle der Nürnberger Prozesse – unvorbereitet hineinstolpert und erschrickt, als hätte er davon nichts gewusst.

Die Unbekümmertheit Bölls besteht aber darin, dass er auf die Haltbarkeit der Erzählfiktion nicht sonderlich achtet. Zwar wird angedeutet, der Verfasser habe sich in Leni verliebt, aber das ist eine blinde Spur, denn an anderer Stelle wird erzählt, wie sich der Verfasser in eine Ordensschwester verguckt und wie daraus eine offenbar längere Affäre entsteht. Sollen wir derlei als erzählerische Schlamperei betrachten, wie es manche Kritiker getan haben? Ich neige im Gegenteil dazu, darin eine poetische Freiheit zu erblicken, die Böll sich aus jenen Gründen nimmt, die ich erwähnt habe: die Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion ist ebenso fragwürdig wie die zwischen Plausiblem und Nicht-Plausiblem.

Es werden zum Beispiel im „Gruppenbild“ Protokolle der Nürnberger Prozesse eingeblendet, wo es heißt: „Die Kommandanten der Konzentrationslager führen Klage darüber, dass etwa fünf bis zehn Prozent der zur Exekution bestimmten Sowjetrussen tot oder halbtot in den Lagern umkommen.“ Soweit das wörtliche Zitat. Und der Verfasser in Bölls Roman bemerkt dazu: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Eroberung von Weltteilen oder Welten keineswegs so einfach ist und dass auch diese Leute ihre Probleme hatten und sie mit deutscher Gründlichkeit zu regeln versuchten. Es geht nun einmal nicht, dass man Menschen, die man hinrichten soll, schon als Tote geliefert bekommt.“

Um mit Hans Schnier zu reden: Das alles ist zwar passiert, aber es kommt einem ganz unwahrscheinlich vor. Umgekehrt gesagt: Alles, was der Erzähler plausibel und wahrscheinlich machen könnte, unterliegt dem Verdacht der puren Erfindung. Ich glaube, es war eine der großen Leistungen des Schriftstellers Heinrich Böll, dieses moralisch-ästhetische Problem – und es ist das Problem des 20. Jahrhunderts – immer wieder dargestellt und es anschaulich gemacht zu haben, anschaulich auch in seiner ganzen Unlösbarkeit.

Aber wenn ich mich hier ins Zeug lege, um Bölls schriftstellerische Größe zu belegen, die immerhin von der Schwedischen Akademie in einer ihrer klugen Entscheidungen anerkannt worden ist, so kann ich doch um die Tatsache nicht herum, dass Böll trotz allem leider nicht im Zentrum der literarischen Aufmerksamkeit steht. Auch wenn ich auf die Tatsache hinwiese, dass Bölls Thematik keineswegs erschöpft ist, dass seine Kritik des herrschenden Katholizismus aktueller ist denn je, dass sein Zorn gegen die Reichen und Selbstgerechten alles andere als passé ist, dass sich seine Vorwürfe gegen die Medien keineswegs erschöpft haben, schließlich, dass die Ressentiments gegen Andersgläubige und Andersfarbige neuerdings wieder Auftrieb erhalten – wenn ich all dies ins Feld führen wollte (und ich führe es ins Feld), so müsste ich doch zugeben, dass Böll und sein in Wahrheit bedeutendes Werk nicht mehr die literarische Agenda bestimmen.

Woran liegt das? Als ich über diese Frage nachdachte, kam mir das glanzvolle neue Buch von Henning Ritter in die Hände. Es trägt den Titel „Notizhefte“, es enthält aphoristische Betrachtungen und kleine Essays, geschrieben zumeist als Kommentar zu philosophischen Texten. Ritter findet eine überraschende Tagebuchnotiz von Ernst Jünger, der 1945 schreibt, eine der Aufgaben des Schriftstellers sei „die ergreifende Schilderung der Armut“. Ritter bemerkt dazu:

Dass dies kein Thema mehr ist, sagt mehr über den Zustand der Kultur als manches andere. Das 19. Jahrhundert hat ergreifende Schilderungen der Armut hervorgebracht, bei den Russen oder bei Balzac, Zola oder Dickens. Das hing mit dem Glauben an die Macht der Literatur zusammen, der heute erloschen ist. Das große Beispiel für diese Macht der Literatur war „Onkel Toms Hütte“, nicht große Literatur, aber Literatur der großen Wirkung. Die Literatur hat sich vom Mitleid emanzipiert, deswegen kennt sie die Gegenstände nicht mehr, die sich nur durchs Mitleid erkennen lassen. Die Literatur, die wirken will, will nicht mehr den Umweg über das Mitleid gehen, sie will nicht rühren, sondern Taten sehen. Dadurch macht sie sich zum Instrument der Täter.

Soweit Henning Ritter. Mir scheint, er hat hier einen wunden Punkt getroffen: Die Verstrickung der Intellektuellen und Schriftsteller in die Mechanismen der Macht. Das 20. Jahrhundert kennt viele Beispiele dafür, und noch die Schriftsteller der DDR hatten damit ebenso zu tun wie nicht wenige der alten BRD. Es ging ihnen um politische Wirkung, um politischen Einfluss, sie wollten, wie Ritter sagt, „Taten sehen“. Es gibt aber Themen, die sich dem ideologisch motivierten Zugriff entziehen, es gibt Themen – in Wahrheit sind es die genuinen Themen der Literatur –, die nur der wahrhaft naive Autor erkennen und begreifen kann, ein Schriftsteller also, der mit der Gabe des Mitleidens gesegnet ist. Dieser Schriftsteller war Heinrich Böll.

Was aber heißt Mitleid genauer? In einem Gespräch sagt der alte Fähmel zu seinem Sohn: „Ich hoffe, du hast nicht in den Eisschränken der Ironie das Gefühl der Überlegenheit frisch erhalten, wie ich es immer tat.“ Das ist Böll. Auch er wollte nicht das Gefühl der Überlegenheit, wollte es nicht in den Eisschränken der Ironie frisch erhalten. Der Ironiker hält sich aus allem heraus, er stellt sich über oder neben den ironisierten Gegenstand, als hätte er mit ihm nichts zu tun. In Bölls Humor hingegen erkennen wir eine Haltung, die sich als Teil des Zusammenhangs betrachtet, den sie belächelt. Wir können diese Haltung als christliche Caritas beschreiben, als samariterhafte Aufmerksamkeit, als absichtslose, vom eigenen Nutzen absehende Zuwendung. Das ist die Bedingung von Mitleid. Und dieses Mitleid ist nicht nur eine moralische Kategorie, sondern auch eine ästhetische. Ästhetik bedeutet zuallererst Wahrnehmung, und aus dem Ästhetischen folgt zwingend das Literarische, weshalb Böll sich immer geweigert hat, Moral und Ästhetik voneinander zu trennen. In den „Frankfurter Vorlesungen“ hat er den Zusammenhang näher begründet.

Wer zum Mitleid imstande ist, der kennt auch den Zorn und die Empörung. Der Ironiker weiß davon nichts. Warum sollte er sich empören? Er hat ja seine Ironie. Böll allerdings war zornig bis zuletzt, und auch dieser Zorn ist eine ästhetische Kategorie, eine Kategorie der Wahrnehmung. Wir aber, wir Zeitgenossen sind abgebrüht, wir leben in ironischen Zeiten. Wir sind bestens informiert, und wir lächeln ironisch über das, was die Informationen an Skandal enthalten. In Italien gibt es den Begriff des Menefregismo. „Me ne frego“ heißt: Das geht mich nichts an, lass mich in Ruhe. Bölls Werk ist ein Einspruch gegen den Menefregismo, und deshalb hat er es nicht leicht mit uns. Oder: Wir haben es nicht leicht mit ihm.

Lassen Sie mich aber mit einer persönlichen Bemerkung enden, die vielleicht Anlass zum Optimismus gibt. Meine jüngere Tochter hat vor zwei Jahren Abitur gemacht, und zu den Deutsch-Themen gehörte auch Böll. Die Kinder haben die „Ansichten eines Clowns“ und „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ gelesen, und es war nicht so, wie Sie vielleicht vermuten, dass sie unter Böll gestöhnt hätten. Gestöhnt haben sie – und zwar heftig – unter den „Wahlverwandtschaften“. Böll haben sie gerne gelesen. Generell kann man ja beobachten, dass der postmoderne Zynismus unter den Jugendlichen keine Rolle mehr spielt. Sie neigen zu einem wertkonservativ grundierten Pragmatismus. Es könnte also sein, dass sich das Zeitalter der Ironie seinem Ende nähert, es könnte sein, dass wir bald wieder auf Heinrich Böll zurückkommen.

Galerie: Feierliche Präsentation der Böll-Gesamtausgabe

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