Von Ralf Fücks
Vor neun Jahren, im November 2002, versprach uns der Zeitplan für eines der umfangreichsten Editionsprojekte der deutschen Literaturgeschichte bereits indirekt diesen Abschlussabend für das Jahr 2010. Das konnte man damals für äußert ambitioniert oder für blanke Utopie und heiße Luft halten. Aber: Das Versprechen wurde gegen alle Erfahrungen mit vergleichbaren Unternehmungen gehalten. So möchte ich Sie also sehr herzlich am heutigen Abend begrüßen: Wir feiern heute gemeinsam den Abschluss der Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls.
Sie ermöglicht eine Neu-Lektüre Bölls, die in vieler Hinsicht einer Neuentdeckung gleichkommt: zeitgeschichtliche Entwicklungen und persönliche Wandlungen werden sichtbar, Themen und Motive lassen sich über die einzelnen Stücke hinweg lesen und deuten, wie das bisher noch nicht möglich war. Dazu tragen insbesondere die Kommentierungen bei.
Sichtbar wird ein Weg vom pathetisch-expressiven Wortrausch erster Schreibanfänge zu den nüchtern-prägnanten Formulierungen der späten Jahre wie etwa diese: »Keine Täuschung ist ja größer als die, zu glauben, man spräche die gleiche Sprache.« (1).
Hinter dieser gewachsenen Skepsis gegenüber der scheinbaren Eindeutigkeit von Sprache steht jedoch ein lebenslanges und eigensinnig gelebtes Vertrauen: Dass die Literatur eine Erkenntnisform sui generis sei, die es ermöglicht, nicht nur anders zu sehen, sondern auch das Andere, das Ausgeblendete und Übersehene, sichtbar zu machen.
Dieses Verständnis von Literatur war Bölls Grundüberzeugung und die grundlegende Operation seines Schreibens überhaupt. Anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerrechte der Stadt Köln im Jahre 1982 verwahrte er sich gegen die Trennung zwischen dem Romanautor Böll und dem gelegentlichen Verfasser von Aufsätzen, Kritiken und Reden. Für ihn war das „ärgerliche und gefährliche“ seiner Schriften „gerade das Literarische an ihnen, sagen wir meinetwegen das Poetische daran, eben weil es aus der routinepolitischen Sprache sich abhebt.“
Mit anderen Worten: Das Poetische entzieht der ›routinepolitischen Sprache‹ die Eindeutigkeit, es öffnet den Blick für die Vieldeutigkeit der Dinge und pflanzt den Zweifel ins scheinbar Eindeutige. Das Literarische stört den Gleichschritt reibungslosen Einverständnisses – und wird eben deshalb von den Verteidigern des Status quo als „ärgerlich und gefährlich“ empfunden. Wenn das schon für demokratisch verfasste Gesellschaften gilt, so gilt es erst recht für autoritäre Regimes, die nicht ohne Grund in der Literatur eine Bedrohung ihres Deutungsmonopols sehen.
Poesie und Literatur durchbrechen die routinierte Wahrnehmung der Verhältnisse und stellen das Einverständnis mit den Dingen, wie sie sind, in Frage. Den für Böll so charakteristischen Gestus der Nachdenklichkeit hat Hans Blumenberg einmal so definiert: »Nachdenklichkeit heißt: es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war« (2).
Bölls praktizierte Nachdenklichkeit war kein Rückzug in die Innerlichkeit, sondern ein öffentliches Gegen-den-Strich-bürsten affirmativer Sprachroutinen von Politik, Kirche und Medien. Die Erträge dieses Nachdenkens liegen nun in 27 Bänden vor: ein Fundbuch zur Conditio Humana. Selbstverständlich war Böll, wie wir alle, ein Kind seiner Zeit, und als literarischer Chronist der Nachkriegs- und Aufbaujahre der Bundesrepublik ist er unübertroffen. Aber die Einsichten, die er aus seiner Zeit gewinnt, reichen weit über sie hinaus. Böll schreibt eben keine Geschichte der Bundesrepublik, sondern Geschichten über Menschen und ihre Beziehungen. Eben deshalb spricht der Autor Heinrich Böll auch heute zu Leserinnen und Lesern vieler Länder und aller Generationen. Sie finden die Menschlichkeit, die Empfindsamkeit, die Wahrhaftigkeit und Zivilcourage des öffentlichen Intellektuellen Heinrich Böll in seinen Geschichten wieder.
Dieses Böllsche ›Laboratorium der Nachdenklichkeit‹ der Nachwelt zu erschließen, war ein gewaltiges Stück Arbeit, vor allem auch: Zusammenarbeit. Und das heißt, es ist auch viel zu danken. Dies soll an diesem Abend auch ausdrücklich geschehen. Bevor ich anderen das Wort gebe, möchte ich, da er ja nicht selbst kann, dem Verlag Kiepenheuer & Witsch für das Engagement danken, das er in diese Edition gesteckt hat. Ich richte diesen Dank an den Verleger Reinhold Neven Du Mont, der das Projekt mit auf den Weg gebracht hat, und an seinen Nachfolger Helge Malchow, der die Kölner Ausgabe über die Jahre hinweg begleitet und gefördert hat.
Die Arbeit des internationalen Herausgeberkreises wird heute Abend noch gebührend gewürdigt werden. Es war eine herausragende Leistung, so viele exzellente Kenner ihres Fachs um ein Projekt zu versammeln und dabei auch noch den Zeitplan einzuhalten. Gestatten Sie mir, hier stellvertretend Dr. Jochen Schubert zu gratulieren, der sich als Mitarbeiter der Heinrich Böll Stiftung und des Kölner Böll Archivs, intimer Kenner des Böllschen Oeuvres und Ansprechpartner der Erbengemeinschaft, als Mitherausgeber und Projektkoordinator mit Leib und Seele, Herz und Verstand dieser Werkausgabe gewidmet hat. Lieber Jochen, das war ein Meisterstück!
Fußnoten:
(1) Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum. Gespräch mit Werner Koch, in: KA 25, S. 626; vgl. auch Mein Lesebuch. Gespräch mit Ulrich Gembardt, KA 25, S. 488: »[…] die Mißverständnisse entstehen dadurch, daß wir Sprache für ein vertrautes Material halten« und Eure Ruinen waren unsere Spielplätze. Gespräch mit Wolfgang Niedecken, KA 26: »Das schlimmste Mißverständnis, dem man erliegen kann, ist, daß man die gleiche Sprache spräche.«
(2) Hans Blumenberg: Nachdenklichkeit, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch. Heidelberg, 1980, S. 57-61. Hier S. 61
Galerie: Feierliche Präsentation der Böll-Gesamtausgabe
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