Heinrich Böll über die schleichenden Zerstörung der Landschaft

Sie befinden sich in "Kapitel 8: Einmischung erwünscht (1980 - 1985)".

Im Folgenden lesen Sie einen Auszug eines Textes von Heinrich Böll zur schleichenden Zerstörung der Landschaft.

Ab Mitte der siebziger Jahre beschäftigt sich Heinrich Böll intensiv mit Umweltthemen. Seine Kritik zielt auf die ungeklärte Problematik der Endlagerung des Atommülls. Seine Sorge gilt der schleichenden Zerstörung der Landschaft durch eine stetig expandierende Industrie.

Brokdorf und Wyhl, 1976

"Die Blut-und-Boden-Ideologie des Nazismus hat in ihrer Nichtigkeit verspätete Wirkungen erzielt; nach 1945 wagte kaum jemand, etwa die Erde als Wert zu erkennen, gar zu preisen. In einem oberflächlichen Reflex auf die Nazi-Ideologie, der man so glühend angehangen hatte, wurde alles verhöhnt, was auch nur andeutungsweise auf den Wert Erde verwies, und doch wußten und wissen wir, daß Kultur mit der Bebauung der Erde angefangen hat. Das „Macht euch die Erde untertan“ bedeutet ja nicht: zerstört und verhöhnt eure Erde.

Inzwischen stehen, wie mir scheint, zwei Werte gegeneinander: Erde und Wachstum. Hinter dem schönen, aus dem Bereich des Organischen entliehenen Begriff Wachstum steht eine unerbittliche Ideologie, die mit Wert materiellen Wert meint (siehe den Begriff: Wertpapiere). Was wächst da, was wächst da heran? Wachstum, das klingt nach Baum, nach Mensch, nach Tier und Pflanze. Was wächst da alles in Lateinamerika: kostbare Hölzer, Tabak, Kaffee, Kakao, Kautschuk, Baumwolle, Zuckerrohr, Bananen - was liegt und lag da alles in der Erde Lateinamerikas: Gold, Silber, Kupfer, Zinn, Blei, Eisen, Erdöl, Salpeter, und vor seinen Westküsten ist das Guano „gewachsen“, einer der reichsten Kontinente, der immer ärmer wird. In seinem Buch Die offenen Adern Lateinamerikas gibt Eduardo Galeano eine detaillierte Bilanz der Werte, die wir nach Lateinamerika gebracht haben - und die Werte (Wertpapiere), die herausgeholt worden sind. Offene Adern eines Kontinents, das bedeutet: er blutet aus.

Welche Wirtschaftschirurgen werden die Klammern und Tupfer erfinden, um das Verbluten zu stoppen? Welchen Profit hat die freie Marktwirtschaft denen zu bieten, auf deren Kosten sie betrieben wird? Wem gehört die Erde, wem gehören die Meere, wessen sind die Gewinne? Das „Metanoite!“ gehört zu unseren beliebtesten Bildungssprüchen. Wer muß hier umdenken? Natürlich nicht nur die Unternehmer, auch die organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmerschaft. Nun gehen sie gemeinsam daran, dieses winzige Stück Erde, das Bundesrepublik Deutschland heißt, ich drücke es kraß aus, „auf den Strich zu schicken“, als wäre die Erde nur zum „Anschaffen“ da. Kurz gesagt: in Brokdorf werden und in Wyhl wurden Werte verteidigt, und es soll sich doch keiner auf Kommunisten herausreden, die ja außerdem auch ein Recht auf ihre Erde haben.

Dieses Umdenken gilt keineswegs allein der ohnehin verachteten „Moral“, es gilt auch der Schönheit: man kann soviel Industrie-Design-Ästhetik investieren, wie man will und aufbringen kann: die Erde wird nicht schöner durch Atom- und andere Kraftwerke. Es gibt Werte genug, sie liegen auf der Straße, werden zertrampelt, nicht von Demonstranten. Schon ist jene Ader, die man Rhein nennt, vergiftet. Wird man eines Tages von den vergifteten Adern der Bundesrepublik und Westeuropas sprechen? Die Blindheit „rein“ profitorientierter Ideologen ist aktenkundig. Die Politiker aller Parteien haben das Thema Atomkraft umgangen, sie haben die Hintertür gewählt. Die Werte Erde, Luft, Wasser werden mißachtet. Vielleicht wird man eines Tages auch von vergifteten Arbeitsplätzen sprechen. Es gibt solche schon."

aus:
Heinrich Böll. Werke. Essayische Schriften und Reden 3.
Hrsg. von Bernd Balzer
© 1977 by Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln

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