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Historische Dokumente sind unwiderruflich verloren

Lesedauer: 10 Minuten

Ein Gespräch mit René Böll, Sohn und Vertreter der Erbengemeinschaft Heinrich Böll

3. April 2009

Die Beschäftigung mit dem Werk Heinrich Bölls konnte auf reichhaltig bewahrtes Quellenmaterial zurückgreifen - an erster Stelle natürlich die Typoskripte, einschließlich der Notizen, die bei der Niederschrift eines Romans entstanden. Darüber hinaus Briefe, die über Jahrzehnte gesammelt wurden, aber auch Kinderzeichnungen, eine umfassende Zeitungsausschnittsammlung, Photos, Dokumente etc. etc. Natürlich ein Glücksfall der Überlieferung für jeden, der sich mit dem Werk Heinrich Bölls beschäftigt. War dies Ausdruck einer besonderen Philosophie?

René Böll: Da gab es eigentlich keine besondere Philosophie, es war wohl eher das Zusammenspiel mehrerer Motive – ja zunächst auch ganz einfach die Frage, was wirft man weg, was hebt man auf?, wenn eine Arbeit abgeschlossen ist. Es gibt selbstverständlich die unterschiedlichsten Weisen, wie Künstler mit ihrer Arbeit umgehen: Mancher vernichtet alle Vorstufen, Skizzen und Entwürfe seiner Werke, ein ande-rer hebt alles oder vieles auf. Und für wiederum einen anderen ist alles dies so sehr mit der eigenen Lebensgeschichte, auch mit der seiner Familie verbunden, überhaupt mit seinem Lebensumkreis verzahnt, dass aus diesem Grund alles im Arbeitsprozess Entstandene als etwas Erhaltenswertes und Erinnerungswertes erscheint. In diesem Sinne ist bei uns überhaupt viel aufgehoben worden, auch kleine, gänzlich unscheinbare Dinge wie z.B. ein rostiger Nagel, besonders geformte Steine, die Schraube eines Rettungsbootes, das zu einem deutschen U-Boot gehörte, das in Irland am Strand verrostete, und viele andere Dinge, die wir als Kinder in Irland bei unseren ersten Aufenthalte auf Achill Island in den 1950er Jahre, am Strand gefunden hatten. Mit solchen "Funden" waren immer kleine Geschichten verbunden. Und für meinen Vater bildeten diese "Fundstücke" so eine Art Spur, die, wenn er sie sah, die kleinen Geschichten wachriefen. Das hing sicherlich damit zusammen, dass er überhaupt ein sehr über die Augen, über das Sehen erlebender und arbeitender Mensch war, oft auch eine sehr bildhafte Sprache nutzte, und überhaupt über ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis verfügte. Selbstverständlich gab es auch ganz handfeste Grün-de. Zum Beispiel wurden die Zeitungsausschnitte auch deshalb gesammelt bzw. deren Sammlung in Auftrag gegeben, um kontrollieren zu können, wer wo welchen Text, welche Kurzgeschichte abgedruckt hatte - natürlich oftmals ohne vorab eine Abdruckgenehmigung eingeholt zu haben. - Alles in allem ging es also nicht darum, der Archivar seiner selbst zu sein. Entweder waren es ganz praktische Gründe, wie im Fall der Zeitungsausschnitte, oder es ging darum, eine Lebensgeschichte in den Spuren, die sie hinterlässt, für uns als Familie festzuhalten. Deshalb sind von meinem Vater auch beispielsweise zahlreiche Zeichnungen, die wir als Kinder gemacht hatten, bewahrt, sozusagen "archiviert" worden.

Zu den kürzlich dem Historischen Archiv der Stadt Köln übergebenen privaten Nachlassteilen, die den dort bereits vorhandenen Bestand ergänzen sollten, befanden sich u.a. die 2001 ja nur in Auszügen  veröffentlichten "Briefe aus dem Krieg" sowie die gesamten frühen Texte aus den 1930er Jahren, die sog. "Jugendarbeiten", von denen eine Auswahl im ersten Band der Kölner Ausgabe aufgenommen wurde. Gab es darüber hinaus noch Materialien oder Unterlagen, die der Böll-Forschung bislang noch gänzlich unbekannt waren?

René Böll: Die Kriegsbriefe und die zum Frühwerk zählenden Texte, darunter viele Gedichte, bildeten den Kern des Nachlasses, den wir jetzt übergeben haben. Ich habe zwar immer noch die Hoffnung, dass aus dem Trümmern etwas geborgen werden kann, sollte dies aber nicht der Fall sein, wären die Materialen unwiederbringlich verloren, die nicht in die entsprechenden Editionen eingegangen sind. Darüber hinaus gehörten zu den übergebenen Stücken unterschiedlichste Dokumente, die im einzelnen noch nicht abschließend ausgewertet werden konnten: Verlagsunterlagen etwa, also alle Verträge, die mein Vater seit 1949 mit Verlagen, hauptsächlich mit dem Middel-hauve-Verlag und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch, geschlossen hat, einschließlich der dazu gehörenden Korrespondenz. Auch die Übersetzer-Verträge meiner Mutter befanden sich unter diesen Dokumenten; gleichfalls die Verträge, die im Einzelnen über die Verwertung der Nutzungsrechte geschlossen worden sind. Hinzu kommen Dokumente wie das Abiturzeugnis, Dokumente aus der Kriegszeit, etwa verschiedene Kriegsurlaubsscheine oder das Soldbuch - aber auch Landkarten aus der Kriegszeit. Vieles weitere noch: Bürokalender, die in den 1970er Jahren eingeführt worden sind, um die eingehenden Telefonate zu notieren; Reisedokumente u.a. zu den Reisen nach Israel bzw. in die USA; des weiteren Geschäftsunterlagen – insgesamt Schriftstücke, die eben auf ihre Art die Lebensspuren ausmachen, über die wir vorhin gesprochen haben. Insgesamt waren es 22 Kartons, randgefüllt. Dazu zählte auch eine umfangreiche Photosammlung, ca. 2000 Photos umfassend - eine Sammlung, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte und u.a. auch Photos der Familie vor der Geburt meines Vaters beinhaltete. Meine Mutter hatte diese Fotos noch beschriftet, da ich einige Personen nicht identifizieren konnte. Aber natürlich auch Photos von unseren Irlandaufenthalten 1955 und 1956. In dieser Sammlung befanden sich jedoch nicht ausschließlich nur Familienphotos, sondern auch Aufnahmen bzw. handgefertigte Schwarz-Weiß-Abzüge so bekannter Fotografen wie etwa Josef Darchinger. Zudem beinhaltete die Übergabe auch einen großen Teil der Originale der von meinem Vater hergestellten Romanschemata, also der farbig angelegten Tabellen, über die er sich jeweils während der Niederschrift eines Romans dessen Erzählstruktur vergegenwärtigte.

Worin lag der ausschlaggebende Beweggrund, diese zum Teil über Jahrzehnte von der Erbengemeinschaft bewahrten privaten und familiären Nachlassteile der Stadt Köln zu überlassen?

René Böll: Ein entscheidender Gesichtspunkt war, dass uns das Historische Archiv der sicherste Aufbewahrungsort schien, allein schon aus konservatorischen Gründen. Das Papier, das beispielsweise für die frühen Texte verwendet wurde, war natürlich nicht gut. Auf längere Sicht gesehen, waren hier konservatorische Maßnahmen erforderlich, um die Texte zu erhalten; Tausende von Blättern hätten einzeln entsäuert werden müssen, um sie auf Dauer zu erhalten - eine Arbeit, die bei weitem die Möglichkeiten der Erbengemeinschaft übersteigt. Ein weiterer Grund war, den Nachlass an einem Ort zusammen zu halten, d.h. mit den bereits 1984 überlassenen Materialien zusammenzuführen, um damit die Basis für eine möglichst geschlossene, vollständige Auswertung des Lebens und Werks zu ermöglichen.

Was bleibt der Familie an persönlichen Erinnerungsstücken, die nicht in das Konvolut eingegangen sind, die dem Historischen Archiv übergeben worden waren? Und: welche persönlichen Erlebnisse verbinden Sie mit den Materialien?

René Böll: Wir haben nur ganz wenige Stücke behalten: einige wenige Texte aus dem Jugendnachlass, einige wenige Briefe aus dem Krieg sowie einige der Romanschemata - insgesamt nicht mehr als in einen Ordner passt. Was uns dazu bewog, war das Bedürfnis, etwas von dem innerhalb der Familie zu bewahren, womit wir teilweise ja auch ganz persönlich verknüpft waren. Vieles von dem, was als Text existiert, war für uns ja miterlebte Geschichte. Ich will da als Beispiel nur Prag 1968 nennen, die Niederschlagung des "Prager Frühlings", den ich direkt miterlebt habe. Mein Vater hat darüber berichtet, und dieser Bericht wurde seinerzeit im Spiegel unter der Überschrift "Der Panzer zielte auf Kafka" veröffentlicht, dazu Photos, die ich während der Ereignisse gemacht hatte. Ganz versteckt gibt der Text Hinweise auf diese von uns als Familie insgesamt miterlebten Ereignisse, auf die Sorgen, die meine Eltern hatten, als ich mich auch allein in Prag umsah - ich war damals 20 Jahre alt. Also es gibt viel Persönliches, was uns die Texte so wichtig macht und uns dazu veranlasste, einen ganz kleinen Teil in der Familie zu halten. Diesen Nachlass wollten wir auch unseren Nachkommen, unseren Kindern und Kindeskindern und deren Familien erhalten, und er sollte an einem Ort verwahrt werden. Sie werden nun zumindest einen sehr großen Teil der Geschichte ihrer Vorfahren nicht mehr wahrnehmen können. Dies finden wir sehr traurig.

Nach Abschluss der Kölner Ausgabe im Jahr 2010 stellt sich die Frage: Welche Perspektiven für die Böll-Forschung existieren noch? Sehen Sie angesichts des durch den Einsturz der Historischen Archivs zu beklagenden Verlusts an Materialien noch Möglichkeiten, die Beschäftigung mit dem Werk weiterhin zu verfolgen - so etwa, dass die gerade einsetzende Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen fortgeführt werden kann?

René Böll: Wie ich bereits erwähnt habe, konnten nicht alle Arbeiten des Jugendnachlasses in die Kölner Ausgabe aufgenommen werden, zum einen aus Gründen des Bandumfangs, zum anderen aber auch, weil die Texte teilweise zu fragmentarisch waren. Sicherlich hätten diese unediert gebliebenen Arbeiten zu den Materialien gehört, die für eine noch immer ausstehende Biographie, die auf der Grundlage einer wirklichen Auswertung der Quellen verfasst ist, von großem Interesse gewesen wären, um sie im Original zu sichten. Da ist ein großer Verlust zu beklagen. Aber ich sehe durchaus auch Möglichkeiten. Vieles wurde ja auch im Rahmen der Kölner Ausgabe im Anhang berücksichtig und aufgenommen; Vorstufen bei den Romanen beispielsweise. Die Edition von Gruppenbild mit Dame zeigt im Anhang z.B. auch das Romanschema. Außerdem ist ein von der Heinrich-Böll-Stiftung geplanter Band zu den Romanschemata in Arbeit, der weiteres Material bietet und damit wenigstens als Reproduktion rettet, was im Original vielleicht unwiederbringlich verloren ist.

Wie beurteilen Sie den Umgang der Stadt Köln mit den Ereignissen? Haben sich Vertreter der Stadt Köln mit Ihnen in Verbindung gesetzt?

René Böll: Nein. Ich bin, wie alle, die als Nachlassgeber betroffen sind und mit denen ich sprechen konnte - wir sind dabei, uns zusammenzuschließen - der Meinung, dass hier die Verantwortlichkeit nicht nur lückenlos aufgeklärt und festgestellt werden muss, sondern auch die Übernahme der Verantwortung geschehen muss und daraus Konsequenzen folgen müssen. Die Stadt Köln hat ja mit Übernahme der Materialien gleichzeitig die vertragliche Verpflichtung übernommen, die Materialien sorgfältig aufzubewahren, zu restaurieren – soweit nötig – und uns jederzeit zur Auswertung verfügbar zu halten. Dieser Verantwortung muss die Stadt Köln sich stellen! Es ist ja uns und vielen anderen der "modernen" Nachlassgeber ein in Geldbeträgen gar nicht abschätzbarer Verlust geschehen. Die Materialien sollten ja auch unseren Nachkommen zur Verfügung stehen. Bisher ist niemand in Sicht, der sich verantwortlich fühlt, einer schiebt die Verantwortung auf den anderen. Es wird immer deutlicher, dass eine bodenlose Schlamperei, Ignoranz und wohl auch finanzielle Gründe der Grund waren, eine "Lösung" für den U-Bahnbau  zu wählen, die nicht die sicherste war. Die Katastrophe hat sich mehrfach angekündigt, zuerst durch einen vom Einsturz bedrohten Kirchturm, der nur wenige hundert Meter vom Gebäude des Historischen Archivs entfernt steht, dann immer wieder Risse in den Wänden, Gebäudeabsenkungen. Getreu dem idiotischen Kölner Spruch "Et is noch immer jot jejange" ("Es ist noch immer gut gegangen") wurden diese Hinweise einfach ignoriert. Dafür gilt es auch die politische Verantwortung zu übernehmen!
Die historischen Dokumente aus früheren Jahrhunderten sind unschätzbar. Man kann im einzelnen gar nicht aufzählen, wie reich die Überlieferung war: Unterlagen von Köln als bedeutende Hanse-Stadt sind in Gefahr ebenso verloren zu sein wie z.B. viele, noch nicht durch Verfilmung oder ähnliches gesicherte Nach- oder Vorlässe wie der von Hans Bender, Hans Mayer oder auch der von Dieter Wellershoff, oder die Photosammlung und die Dokumente von L. Fritz Gruber, dem Gründer der Photokina in Köln, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen.

Um die kulturelle Erinnerung der Stadt Köln für die Zukunft zu sichern, haben Wissenschaftler das "Digitale Historische Archiv" gegründet. Wie beurteilen Sie diese Initiative?

René Böll: Die "Aura" eines Originals ist durch nichts, auch nicht durch die beste Reproduktion, zu ersetzen. Aber zu retten, was zu retten ist, ist natürlich auch selbstverständlich. Ich würde es allerdings dem Historischen Archiv überlassen, wie es mit den Rücklauf der Kopien umgeht und diese nicht sofort ins Netz stellen. Das Internet ist ja keine urheberrechtsfreie Zone - das wird ja gerade auch problematisiert. Ich meinerseits würde keine Kopien einstellen.

Die Stadtbibliothek Köln beabsichtigt, das Arbeitszimmer von Heinrich Böll in ihren Räumen auszustellen. Wäre die Bibliothek der Stadt damit der einzige Ort, an dem Böll-Exponate zu sehen wären?

René Böll: Ja vermutlich, aber man wird noch abwarten müssen, ob nicht doch noch einiges aus den Trümmern des Historischen Archiv geborgen und damit gerettet werden kann.


Das Interview führten Jochen Schubert und Markus Schäfer vom Heinrich-Böll-Archiv Köln

Der Nachlass Heinrich Bölls: Nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln

Historisches Archiv und Heinrich-Böll-Archiv sind zwei verschiedene Einrichtungen
Das Heinrich-Böll-Archiv hat seinen Sitz am Josef-Haubrich-Hof in Köln und arbeitet intensiv mit dem Historischen Archiv zusammen. Die aktuellen und die für die nahe Zukunft geplanten Projekte sind nicht gefährdet. » mehr