Jahrestagung 2013 (Tag 1): Nach der Krise ist in der Krise

6. Februar 2013

Zum Auftakt der Jahrestagung analysierte Professor Wolfgang Streeck die Schuldenkrise in Europa. Im anschließenden Podiumsgespräch diskutierte er mit den Finanzpolitikern Sven Giegold und Anja Hajduk.

 
 
Audio-Dokumentation von Hilke Grabow – Manuskript:
Die Europäische Währungsunion als „Monster, das Europa spaltet“ – so provokant formuliert es der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck. Mit dem Euro geht der Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschafts-forschung hart ins Gericht. Dessen Einführung sei ein „riesen Fehler“ gewesen. Zur Begründung verweist Streeck darauf, was aus seiner Sicht der problematische Kern der Währungsunion ist: dass sie Staaten, die wirtschaftlich im Wettbewerb nicht mithalten können, die Möglichkeit einer Abwertung ihrer Währung nimmt:
 
„Weniger leistungsfähige Länder, die nicht noch weiter zurückfallen wollen, werden unter diesen Umständen auf eine so genannte „innere Abwertung“ verwiesen, also auf eine Senkung ihrer Löhne und Kürzung ihrer Sozialausgaben, was im neoliberalen Eurospeak von heute Strukturreformen heißt. In Europa wird die Währungsunion damit zur Krönung zwar nicht einer politischen Union, aber des Binnenmarktes. Indem sie ihre Mitgliedstaaten daran hindert, durch Änderungen der Währungsparitäten korrigierend in das freie Spiel dieses Binnenmarktes einzugreifen und sie zwingt, statt gelegentlich die Marktpreise an ihre Volkswirtschaft, diese, nämlich die Volkswirtschaft, laufend an die Marktpreise anzupassen.“
 
Das Ergebnis sei eine Entmachtung der Politik gegenüber dem Markt – auf Kosten der Bevölkerung. Die Währungsunion gefährde die politische Stabilität der schwächeren Länder, die Streeck als Peripheriestaaten bezeichnet. Dabei hat er vor allem die notleidenden Mittelmeerländer Griechenland, Spanien, Portugal und Italien im Blick. Ihnen gegenüber stellt er das reiche Zentrum der Europäischen Währungsunion, bestehend aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Allein diese drei Staaten seien durch ihre Wirtschaftskraft und Größe in der Lage, relevante Finanzhilfen zu leisten und bildeten damit das ökonomische und politische Machtzentrum. Dieses Zentrum hat laut Streeck ein starkes Eigeninteresse daran, dass die Peripheriestaaten ihre Finanzsysteme stabilisieren – vor allem durch fiskalische Austerität, also strenge Sparpolitik. Dies in den betroffenen Ländern durchzusetzen, sei aber ein schwieriger politischer Balanceakt.
„Deshalb sucht die Europäische Union nach Wegen, die Regierungen der Peripheriestaaten wenigstens zeitweilig von demokratischer Legitimation unabhängig zu machen. Siehe die Entsendung der Kommissare Papademos und Monti nach Griechenland und Italien und die anschließende Durchsetzung des Fiskalpakts. Allerdings erwies sich die Entdemokratisierung der Peripherie-staaten als schwieriger als gedacht. Das Scheitern von Papademos und Monti hat gezeigt, dass die EU nicht hoffen kann, den neoliberalen Umbau ihrer Peripherie von Brüssel aus diktieren zu können.“
Stattdessen, so Streeck, muss die EU damit rechnen, dass sich die Regierungen der Krisenländer künftig stärker an den Interessen ihrer Wählerschaft orientieren und ihre Forderungen mehr Gewicht bekommen. Zumal sie damit drohen könnten, dass andernfalls die politische Ordnung in ihren Ländern gefährdet würde. Er konstatiert:
„Die absehbare Folge einer Beibehaltung der Währungsunion ist deshalb ein fließender Übergang der gegenwärtigen Rettungspolitik in eine mehr oder weniger dauerhafte Transferunion, u.a. in Form einer verschleierten Staats- und Bankenfinanzierung in den Peripherieländern durch die Europäische Zentralbank.“
Geld gegen Reformen – und zwar so lange, bis die „Reformen greifen“, wie der deutsche Finanzminister sagt. Was aber, fragt Streeck, wenn das zu lange dauert? Als Beispiele führt er die Transferzahlungen innerhalb Deutschlands und Italiens an: von West- nach Ostdeutschland und von Nord- nach Süditalien. In beiden Ländern sei es auch nach Jahrzehnten nicht gelungen, die Unterschiede zwischen den starken und schwachen Regionen zu beheben; sie seien höchstens abgemildert worden. Das belegt der Sozialwissenschaftler mit Zahlen. Selbst im deutschen Fall des kompletten Austauschs der Eliten und Institutionen nach dem Ende der DDR habe die Transferpolitik nur begrenzten Erfolg, und in Italien sei sogar eine Spaltung möglich.
Übersetzt auf Europa sieht Streeck drei Arten von Konflikten voraus:
„Innerhalb der Geberländer wird den Wählern erklärt werden müssen, warum zwischenstaatliche Transfers von beträchtlichem Ausmaß möglich und nötig sein sollen, wenn zugleich staatliche Ausgaben im Inland gekürzt werden. Zwischen den Geberländern wird es zweitens darum gehen, wer welchen Anteil an den Kosten der Währungsunion übernehmen soll. Schließlich drittens wird zwischen Geber- und Empfängerländern darüber gestritten werden, welche zwischenstaatlichen Ausgleichszahlungen angezeigt und mit welchen Eingriffsrechten sie, wenn überhaupt, zu entgelten sind.“
Aus all dem zieht Wolfgang Streeck das deprimierende Fazit: „Wenn es das Ziel der europäischen Währungsunion war, die europäische Einigung zu befördern, dann hat sie dieses Ziel gründlich verfehlt.“
Für den grünen Europa-Abgeordneten Sven Giegold ist diese Analyse bitter. Er nennt seinen früheren Professor einen „zornigen weisen Mann“ und widerspricht ihm in mehreren Punkten. Etwa in der Bewertung, nur eine interne Abwertung sei sozial bösartig:
„Die Rente ist gesichert bei der externen Abwertung, aber gerät in Gefahr bei der internen Abwertung. Das halte ich ökonomisch für falsch, weil die Rente wird genauso gekürzt bei der externen Abwertung, denn wir haben überall hohe Importquoten und diese Importgüter werden teurer nach der Abwertung, und der einzige Unterschied zwischen der externen Abwertung und der internen besteht im Wesentlichen aus meiner Sicht darin, dass das eine wesentlich leichter und man könnte sagen demokratiefreundlicher zu handhaben ist. Dem würde ich zustimmen, aber nicht im Sinne auf die soziale Verteilungswirkung.“
Giegold gibt außerdem zu bedenken, dass bisher bei Wahlen in den Krisenländern praktisch überall Euro-Befürworter gewonnen haben – also Parteien, die gesagt haben: Wir halten diese Zumutungen aus. Deshalb teile er das Argument nicht, es werde bald keine Legitimation mehr für die Währungsunion geben und das Ganze wäre zum Scheitern verurteilt. Der Politiker und Attac-Mitbegründer glaubt, dass es durchaus möglich ist, dass sich Europa mit Hilfe der Europäischen Zentralbank stabilisieren kann – darauf deuteten die jüngsten Leistungsbilanzen der Defizitländer hin.
Für Anja Hajduk von der Hamburger GAL sind viele Fragen offen geblieben; sie sitzt als Vertreterin der finanzpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung auf dem Podium. Sie fragt zum Beispiel, ob nicht die Gründe für Europas Probleme vor allem in Prozessen liegen, die weit über Europa hinausgehen:
„Wir müssen doch ansetzen an der Entwicklung gerade des Finanzmarkt-Kapitalismus, und brauchen wir da nicht integrierte, über nationalstaatliche Regierungsverantwortung hinaus verbindliche Regularien? Und da ist doch Europa auch ein bisschen ein Beispiel. Wir sind da vielleicht gerade nicht so richtig erfolgreich, aber wir stecken in dieser Aufgabe!“
Er sei zum Glück kein Politiker, antwortet Wolfgang Streeck und entzieht sich der Frage nach Lösungsansätzen – was im Publikum heftige Kritik auslöst. Der Sozialwissenschaftler sieht die Politik in einem tiefen Dilemma und plädiert für Nüchternheit: „Ich kann nur sagen: Lasst uns entschlossen darüber nachdenken, aber lasst uns keine schönen Reden halten. Die Sache ist schwieriger.“