Grüne Neuwählerinnen und Neuwähler - Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel?

Foto: Grüne Ba-Wü, Lizenz: CC-BY-SA 2.0 Quelle: Flickr 

20. Juni 2012
Michael Lühmann, Christian von Eichborn, Katharina Rahlf

Der grüne (Umfragen-)Höhenflug scheint, auf noch immer hohem Niveau, vorerst vorbei zu sein. Krönte noch im Frühjahr 2011 der Sieg Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg den grünen Aufschwung, der seit 2010 zu spüren war, verschlechterten sich spätestens seit der Berlin-Wahl im November 2011 die Machtperspektiven der Partei in den Ländern wieder. Parallel hierzu stieg erst langsam, in den vergangenen Monaten dann schlagartig, die Zustimmung zur Piratenpartei. Erstmals verloren die Bündnisgrünen bei den Wahlen zum nordrhein-westfälischen Landtag an Zustimmung, wenngleich auf hohem Niveau. Schließlich bildeten die Wahlen in Nordrhein-Westfalen1 2010 den Auftakt zum Höhenflug der Jahre 2010 und 2011, der vor allem im Bereich der Demoskopie bisweilen überdrehte.

Um den hektischen demoskopischen Befunden eine längerfristige Tiefenanalyse an die Seite zu stellen, hat im Frühjahr 2011 eine Forschungsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung begonnen, diesen Prozess über ein Jahr mit einer qualitativen Studie zu begleiten. Ziel dieser Studie war es, in drei Bundesländern – Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsen – Einstellungsmuster und Werthaltungen grüner Neu- und zum Vergleich auch grüner Stammwähler/innen zu explorieren. Die drei Teilstudien dienten dazu, die kurzfristigen Modeerscheinungen von möglichen langfristigen gesellschaftlichen Verschiebungen unterscheiden zu können.

Handelt es sich beim grünen Aufschwung also lediglich um einen vorübergehenden Zeitgeisteffekt oder ist er darüber hinaus Ausdruck eines grünen Wertewandels – im Sinne einer Verschiebung bzw. Umdeutung spezifischer gesellschaftlicher Werte? Und wenn letzteres der Fall ist: Hält dieser grüne Wertewandel auch im demoskopischen Abschwung der Partei noch an?

Die baden-württembergischen Erhebungen zeigten: Beides – temporäre wie dauerhafte Gründe erklär(t)en das grüne Hoch. So stand einem kurzfristig erhofften Wechsel des Politikstils mithilfe der Grünen und einer starken Frontstellung gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Mappus zugleich der Befund einer deutlich spürbaren Werteverschiebung gegenüber. Hinweise auf eine solche Verschiebung bei den neuen Grün-Wähler/innen fanden sich etwa in der Kritik der Leistungs(druck)gesellschaft, zudem in der Abwendung von der bundesrepublikanischen Leiterzählung des gesellschaftlichen Fortschritts durch ewiges (Wirtschafts-)Wachstum.

Nicht zuletzt drückte sich auch in einer veränderten Wahrnehmung der Generationengerechtigkeit, die weniger als soziale Frage verhandelt wurde, sondern vielmehr in die Formel „Wir müssen die Erde für unsere Kinder und Enkel erhalten“ mündete, eine Verschiebung im Wertehaushalt aus. Gleichwohl handelte es sich eher um Indizien denn um handfeste Belege. Dies führte zum Schluss, dass ein Wertewandel, der den Grünen dauerhaft nutzen könnte, allenfalls vor der Tür steht. Überdies zeigte die erste Untersuchungswelle, dass (noch) kein solides Wertefundament existiert, über das sich alte und neue Wähler verständigen können.

Die Ergebnisse aus Schleswig-Holstein bestätigten diese Ergebnisse auf der Ebene der Werte in weiten Teilen. Insbesondere die Skepsis gegenüber Leistung, Fortschritt und Wachstum fand deutliche Bestätigung, wohingegen die vielfach über die Nachhaltigkeit diskutierte Generationengerechtigkeit schwächer ausgeprägt war. Was sich indes in Schleswig-Holstein bereits andeutete, ist eine zunehmend geringere Hoffnung in politische Regelungskompetenz. In Baden-Württemberg hatte sich die Hoffnung auf die Veränderung der Politik noch sehr viel stärker mit den Grünen verbunden, als dies in Schleswig-Holstein der Fall war. Zwar galten auch im Norden die Grünen weitgehend als die einzige Partei, die der Glaubwürdigkeitskrise der Politik etwas entgegenzusetzen vermochte, allerdings war das Vertrauen auf tatsächliche tiefgreifende Veränderungen – auch aus landesspezifischen Gründen – geringer.

Deutlich wurde dort auch, dass das Thema Umweltpolitik, mit größerem zeitlichen Abstand zu Fukushima, an Relevanz verloren hatte. Dennoch wurden die Grünen auch hier bei den potentiellen Neuwähler/innen als hoffnungsvoller Akteur eines möglichen Wechsels wahrgenommen, wenn auch weit weniger euphorisch als in Baden-Württemberg. Gleichwohl schien auf dem Fundament einer Wertverschiebung hin zu grün anmutenden Werthaushalten und auf der Basis eines Vertrauensvorsprungs vor den anderen Parteien eine deutlich verbreiterte Wählerschaft entstanden, die zwar nicht als Vorreiterin, wohl aber als Unterstützerin grüner Politik gelten konnte. 

Die Antwort auf die Ausgangsfrage, ob das grüne Meinungshoch eher von einem der Partei zugeneigten, nurmehr temporären Zeitgeist getragen (worden) ist oder ob sich unterhalb dessen eine langfristige Verschiebung von Werten, Orientierungsmustern und Einstellungen finden lässt, ist in Bezug auf Sachsen ambivalent zu beantworten: Der Zeitgeist hat zwar seinen grünen Anstrich verloren, aber der (potentiell den Grünen zugewandte) Wertewandel hält, wenn auch verhaltener, weiter an – allein die Partei kann nicht davon profitieren.

Zu den Teilstudien:

Weiterführende Links:

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Der einleitende Text ist eine leicht modifizierte Fassung des Kapitels "Anmerkungen zur Gesamtstudie" aus der Teilstidue zu Sachsen.