„Wenn man bei Null anfängt wirkt jeder Fortschritt groß!“: Reflektionen zur Zivilgesellschaft in Afghanistan

1. März 2012
Marion Müller
Zwei Monate nach Rückkehr der Delegation von 34 Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft von der internationalen Außenministerkonferenz in Bonn haben sich ein Teil der großen zivilgesellschaftlichen Dachverbände Afghanistans zu einem Aktionskomitee zusammengeschlossen. Mit der Unterzeichnung einer gemeinsamen Vereinbarung besiegelten die Dachverbände die Absicht, die Stimme der Zivilgesellschaft bei zukünftigen für die Entwicklung des Landes wichtigen Entscheidungsprozessen gemeinsam einzubringen. Nach langjährigen Versuchen, sich auf eine gemeinsame Form der Meinungsbildung und –äußerung zu einigen, kann dieser Schritt als großer Erfolg gewertet werden.

Das Engagement von Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft hatte im Juni 2011 durch einen offenen Brief an Abgeordnete des Deutschen Bundestages begonnen. Im Vorfeld der internationalen Außenministerkonferenz, die am 5. Dezember 2011 in Bonn stattfand, forderten Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft eine stärkere Beteiligung an nationalen Entscheidungsprozessen und mehr Transparenz in den Verhandlungen mit den Taliban. Dieser in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Kabul begonnenen Initiative folgte ein intensiver sechsmonatiger Beratungs-, Konsultations- und Meinungsbildungsprozess.

Unter Federführung der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC) fanden sich ab Juli 2011 die Vertreter/innen von 15 Dachverbänden und Organisationen zusammen, um gemeinsam an einem Positionspapier der Zivilgesellschaft zu arbeiten. In einem intensiven, landesweiten Konsultationsprozess wurden politische Vorschläge zur Zukunft Afghanistans erarbeitet und diskutiert. In zwei Konferenzen im September und Oktober 2011 wurden die Politikempfehlungen als gemeinsames Papier verabschiedet. Ebenso wurden 34 Delegierte aus allen Teilen des Landes gewählt, welche die Position der Zivilgesellschaft auf einem zivilgesellschaftlichen Forum am 2. und 3. Dezember 2011 und auf der offiziellen Außenministerkonferenz in Bonn einer internationalen Öffentlichkeit präsentierten.

Begleitet und unterstützt wurden die Vertreter/innen der Zivilgesellschaft durch vier deutsche politische Stiftungen, die deutsche Botschaft sowie die Sondermission der Vereinten Nationen in Afghanistan . Die Berater/innen leisteten organisatorische und logistische Unterstützung und sorgten für Informationsaustausch mit weiteren interessierten Akteuren auf nationaler und internationaler Ebene. Die Vertreter/innen der Zivilgesellschaft waren jedoch selbst verantwortlich für die Organisation, das Management und eine transparente Dokumentation des Prozesses.

Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen vorantreiben

Die Forderungen der Zivilgesellschaft an die internationale Konferenz umfassten wichtige Empfehlungen und Forderungen wie etwa einen Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan auf verantwortungsvoller Basis. Vor einem Abzug im Jahr 2014 müsse der afghanische Sicherheitssektor - vertreten durch Militär und Polizei - noch deutlich weiter ausgebaut werden. Die Aussöhnung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Land müsse vorangetrieben werden. Dies dürfe jedoch nicht ohne die gleichzeitige Aufarbeitung der Erfahrungen aus der Vergangenheit geschehen und es dürften keine Kompromisse im Bereich der Frauen- und Menschenrechte gemacht werden. Ebenfalls müsse die Wirtschaft so aufgebaut werden, dass das Land finanziell unabhängiger agieren könne. Nach Meinung der Zivilgesellschaft gebe es vor allem im landwirtschaftlichen Bereich großen Bedarf. Die größten Probleme des Landes lägen jedoch in der landesweiten Armut, im Analphabetismus eines Großteils der Bevölkerung sowie in der weitverbreiteten Korruption und im Drogenhandel. Blieben diese Probleme langfristig ungelöst, seien weitere Gewalt und ein Erstarken des Terrorismus nicht aufzuhalten.

Die aktive Beteiligung der Repräsentanten/innen der Zivilgesellschaft im Vorfeld der Bonner Konferenz und zur Konferenz selbst führte dazu, dass die im Anschluss an die Konferenz unterzeichnete offizielle Vereinbarung zumindest teilweise auf die oben genannten Forderungen Bezug nahm. Unter Punkt 7 der Vereinbarung bestätigten die Vertreter/innen der internationalen Gemeinschaft, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft sowie die durch die Verfassung garantierten Frauen- und Menschenrechte der Schlüssel für die Zukunft Afghanistans seien. Gleichzeitig weist die Vereinbarung darauf hin, dass Zivilgesellschaft sowohl moderne als auch traditionelle Strukturen beinhalte und ein besonderer Augenmerk auf die Einbindung der Jugend gerichtet werden müsse.

„Wie weiter am Hindukusch?“

Wenige Tage nach der Bonner Außenministerkonferenz zog eine Podiumsdiskussion zum Thema „Wie weiter am Hindukusch?“, die gemeinsam von der Heinrich-Böll-Stiftung und RBB Inforadio veranstaltet wurde, eine kritische Bilanz der Zukunft Afghanistans. Parallel bot ein Afghanistan-Dossier Raum für Information und Austausch, Kommentare, Analysen und Debatten rund um die Bonner Konferenz, das Zivilgesellschaftsforum sowie die Aktivitäten in Afghanistan.

Inhalt aller Debatten und Diskussionen war vor allem die Frage, ob sich die Forderungen der Repräsentanten/innen der Zivilgesellschaft tatsächlich erfüllen lassen würden. Im Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre wird deutlich, wie sich die Hoffnungen und Erwartungen in den Demokratisierungsprozess und die Entwicklung des Landes bei einem Großteil der afghanischen Bevölkerung deutlich verringert haben. Viele der Ziele, die auf der ersten internationalen Konferenz zu Afghanistan entworfen wurden, sind bis heute nicht umgesetzt. Und seit der Bekanntmachung des Abzugs der internationalen Schutztruppen drängt auch die internationale Gemeinschaft, das Land zu verlassen. Im Gespräch ist bereits das Jahr 2013.

Was also ist notwendig, damit die erneut beschlossene Kooperationsvereinbarung tatsächlich und nachhaltig umgesetzt wird? Bemerkenswert ist sicherlich, dass sich die Liste der Forderungen der Zivilgesellschaft zur Außenministerkonferenz kaum von den Verhandlungsgrundlagen der afghanischen Regierung unterscheidet. Bedeutet dies eine erste Grundlage für die Aushandlung gemeinsamer Strategien zur Umsetzung der Forderungen? Neben konkreten Debatten darüber, wie diese Umsetzung aussehen soll und welcher Unterstützung sie bedarf, ist es nun wichtig, dass sich die Vertreter/innen von Zivilgesellschaft und Regierung in ihrer Pluralität der Meinungen und Ansichten begreifen und akzeptieren. Nur so können sie die Rahmenbedingungen für eine gemeinsame Realisierung ihrer Forderungen schaffen.
 
Für die Regierung bedeutet dies, oppositionelle Meinungen und Kritik zuzulassen und sich einem gerechten Prozess der Aussöhnung zu stellen. Außerdem muss die afghanische Regierung die Zivilgesellschaft als unabhängiges, pluralistisches und politisches Mittelfeld akzeptieren. Grundbedingung ist ebenfalls eine grundlegende Überarbeitung des NRO-Gesetzes, welches die Spielräume der Aktivitäten einer Nichtregierungsorganisation derzeit sehr weit begrenzt und beispielsweise jegliche politische Lobbyarbeit verbietet. Darüber hinaus müssen Rahmenbedingungen für die Beteiligung der Zivilgesellschaft an offiziellen Entscheidungsprozessen geschaffen und anerkannt werden. Dies wäre beispielsweise möglich bei internationalen Konferenzen etwa in Chicago oder Tokyo und ebenso auf nationaler Ebene im Rahmen des gemeinsamen Koordinations- und Managementausschusses  oder durch regelmäßige öffentliche Anhörungen. Auf diese Weise könnte Schritt für Schritt eine Grundlage geschaffen werden für einen gegenseitigen Austausch von Informationen. So entstünde die Möglichkeit für die Bürger/innen, sich über die - ihr Leben beeinflussenden -  Entscheidungsprozessen zu informieren und sich entsprechend daran zu beteiligen.

Zivilgesellschaft als mobilisierende Kraft

Die Zivilgesellschaft muss sich selbst als mobilisierende Kraft erkennen, deren Forderungen und Empfehlungen sich durch eine aktive und koordinierte Selbstbeteiligung der einzelnen Bürger/innen realisieren lassen. Durch gemeinschaftliches Handeln müssen die Vertreter/innen der Zivilgesellschaft gemeinschaftlich Verantwortung und damit einen Teil demokratischen Handelns selbst übernehmen. Auf diese Weise können sie neue politische Räume schaffen und ihre Rechte auf die Beteiligung an nationalen Entscheidungsprozessen einfordern. Die Formierung des Zivilgesellschaftskomitees ist ein erster Schritt in diese Richtung. Ein weiterer Schritt wäre eine offene Auseinandersetzung mit den nach wie vor existierenden, traditionellen und konservativen Kräften in vielen Teilen des Landes, um an inklusiveren Formen der Meinungsbildung zu arbeiten.

Währenddessen ist die internationale Gebergemeinschaft in regelmäßig einberufenen Runden dabei, sich im Bereich Zivilgesellschaft selbst zu koordinieren. Man spricht über die Kapazität der Zivilgesellschaft, über deren Repräsentationsvermögen und die Transparenz der Dachverbände und immer wieder darüber, ob die Organisationen, die in Kabul sitzen, überhaupt Möglichkeiten haben, in die entlegenen Landesteile zu gelangen. Die Diskussion macht deutlich, dass bei allem Willen zur Koordination und bei allem Anspruch, der hinter jedem einzelnen Engagement steckt, es die selbstgesetzten Entwicklungsziele und Indikatoren der Geber sind, die letztlich entscheiden, ob ein Projekt mit einer zivilgesellschaftlichen Organisation zustande kommt oder nicht. In der letzten Koordinationsrunde ist die Kritik am sich neu gründenden Zivilgesellschaftskomitee und an den Inhalten der Vereinbarung groß. Die Akzeptanz und Unterstützung eines Komitees ohne eine institutionalisierte und formalisierte Struktur, die für die Transparenz und Rechenschaftspflicht der Mitglieder sorgt, kann sich niemand in der Runde so recht vorstellen. Es scheint, als sei es der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen zehn Jahren nicht gelungen, sich selbst für die notwendige Vertrauensbasis gegenüber den Bürger/innen Afghanistans zu motivieren.

Beinahe ebenso wichtig wie der Zusammenschluss des Aktionskomitees ist die Entscheidung des Komitees, auf finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft zu verzichten. Damit, so scheint es, wird vielleicht der wichtigste, während des Bonner Vorbereitungsprozess entstandene Gedanke des freiwilligen Engagements für eine gemeinsame Vision weiter getragen.
 
Der Prozess hat gezeigt, dass es möglich ist, einen Raum zu schaffen für eine partizipative Beteiligung der Zivilgesellschaft an politischen Prozessen. Die Vertreter/innen der Zivilgesellschaft haben dadurch erkannt, dass sie nicht nur das Recht und die Möglichkeiten haben, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, sondern diese Prozesse auch nachhaltig beeinflussen können. Nun sollte es auch im Interesse der internationalen Gebergemeinschaft sein, eine Form von ziviler Verantwortung zu akzeptieren und zu fördern, die alleine durch die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Afghanistans zustande gekommen ist.

Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Weitere Infos zur Arbeit der Stiftung sind zu finden auf: www.boell-afghanistan.org

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Die Autorin Marion Müller war von 2005 bis 2008 und ist sei August 2011 die Vertreterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Afghanistan.

Dossier

Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement

Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.