Dissidenz in Europa - Ein Abend zu Ehren von Wolfgang Eichwede

24. September 2012
Ralf Fücks
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, lieber Wolfgang Eichwede,

ich freue mich sehr über diese Veranstaltung, die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde stattfindet. Wir erweisen damit Wolfgang Eichwede unsere Referenz, der in diesem Jahr seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert hat. Du warst schon oft hier zu Gast; das gilt auch für viele andere, die hier versammelt sind. Insofern ist das auch ein Familientreffen. Aber wie es sich für Intellektuelle gehört, wird zuerst über Politik und Geschichte diskutiert, bevor wir zum Wein bitten.  Den Wein schon zur Diskussion zu reichen, ist in diesem Haus nicht üblich.

Ich möchte zwei Personen erwähnen, die zu dieser west-östlichen Großfamilie gehören und heute aus gutem Grund verhindert sind: Marieluise Beck und Mascha Sannikowa sind gerade unterwegs in den Weiten Russlands, um Michail Chodorkowski im Straflager zu besuchen. Sie lassen herzlich grüßen. Ich hoffe, im Namen aller Versammelten zu sprechen, wenn ich der Erwartung Ausdruck gebe, dass Chodorkowski endlich freigelassen wird.

Dissidenz und Repression in Osteuropa sind nicht nur historische Reminiszenzen. Sie sind in neuer Form und mit neuen Akteuren zurückgekehrt. Es gibt wieder politische Prozesse und politische Gefangene in Russland, Weißrussland, in der Ukraine oder in Aserbaidschan. Es braucht wieder persönlichen Mut, sich gegen die Staatsmacht aufzulehnen und für politische Freiheit und kulturelle Vielfalt einzutreten. Und es braucht wieder die politische und moralische Unterstützung aus dem Westen, um den demokratischen Kräften in Osteuropa den Rücken zu stärken. Auch innerhalb der EU sind wir keineswegs vor einem Rückfall in autoritär-nationalistische Tendenzen geschützt, wie das Beispiel Ungarn zeigt. Es geht heute Abend also nicht um eine bloße Rückschau, sondern um ein höchst aktuelles Thema, wenn wir über Dissidenz in Europa sprechen.

Meine persönliche Bekanntschaft mit Wolfgang Eichwede reicht weit in die 70er Jahre zurück. Ich hatte damals mein Studium an der Bremer Universität mit einer Diplomarbeit über KPD und Komintern in den dreißiger Jahren abgeschlossen, ein großer Bogen von der Sozialfaschismus-Theorie bis zum Hitler-Stalin-Pakt. Dabei war ich auf die sogenannte "Dissidentenliteratur" dieser Zeit gestoßen: Politische Intellektuelle wie Arthur Koestler, Manés Sperber, Gustav Regler, die sich vom Kommunismus lossagten und zwischen die Mühlsteine von Stalinismus und Faschismus gerieten. Mich faszinierte diese Lektüre. Sie brachte mich auf die Idee, mich gründlicher mit der Geschichte der Sowjetunion auseinanderzusetzen: wo lagen die Wurzeln des Stalininismus? Wie weit war die Verwandlung in ein menschenfressendes System bereits in der Theorie und Praxis des Kommunismus angelegt?  Ich schrieb ein Exposé für eine Dissertation, und Wolfgang Eichwede war bereit, mich unter seine Fittiche zu nehmen.

Das Projekt blieb in den Anfängen stecken, weil der Sog der aktiven Politik stärker war als mein akademisches Interesse. Aber seither blieben wir über das große Thema Diktatur und Dissidenz in Osteuropa miteinander verbunden. Die Charta 77 in der Tschechoslowakei, Solidarnosc in Polen, die ostdeutschen und russischen Bürgerrechtsgruppen und schließlich die große Wende von 1989/90 brachten uns immer wieder zusammen. Seither ist v.a. die Arbeit von Memorial in Russland ein gemeinsamer Bezugspunkt. Wenn man diese Stationen aufzählt, wird noch einmal bewusst, welche atemberaubende Entwicklung sich in diesen 40 Jahren abgespielt hat. Wolfgang Eichwede hat diese Geschichte nicht nur als Chronist begleitet: er war an ihr beteiligt.

Welche Stellung ihm zukommt, kann man anhand eines Preises aufzeigen, der ihm 2011 in Moskau verliehen wurde. Es handelt sich um den Aleksandre Men-Preis für besondere Verdienste um den deutsch-russischen Austausch. Das Preisgeld ist bescheiden, aber die Liste der bisherigen Preisträger umso beeindruckender. Zu ihnen gehören Lew Kopelew, Tschingis Aitmatow, Gerd Ruge, Michail Gorbatschow und die Komponistin Sofia Gubaidulina. In dieser Reihe steht jetzt auch der Name Wolfgang Eichwede: Ehre wem Ehre gebührt. Wie viele spätere Men-Preisträger zählt auch der russisch-orthodoxe Erzpriester Aleksandre Men zu jenen Sowjet-Dissidenten, die mit ihren Schriften Zivilcourage bewiesen haben. Men wurde 1990 von einem Attentäter getötet.

Ich muss vor diesem Auditorium nicht betonen, welche überragende Bedeutung die Bremer Forschungsstelle Osteuropa für die Wahrnehmung der oppositionellen Strömungen im Reich des Realen Sozialismus hatte und noch immer hat. Ihr Kern besteht in einem umfassenden Archiv der Samizdat-Kultur, der Zeugnisse des politischen und intellektuellen Untergrunds in Osteuropa. In dieser Schatzkammer manifestiert sich das unabhängige künstlerische und intellektuelle Schaffen einer ganzen Periode.
Eichwede hat dieses Projekt begonnen, als der innere Widerstand gegen die sowjetische Gewaltherrschaft im Westen noch kaum beachtet wurde. Es hat wesentlich dazu beigetragen, die Menschen in der Sowjetunion, Polen oder der DDR als Subjekte des Widerstands wahrzunehmen und nicht nur als Objekte der Repression. Das "andere Osteuropa" manifestierte sich in Gesichtern, Stimmen, Zeugnissen, die nicht einfach ignoriert werden konnten.

Insofern war das Bremer Archiv auch ein wichtiger Widerhaken gegen ein Verständnis von Entspannungspolitik, das auf bloße Konservierung des Status Quo hinauslief. Die Älteren im Saal werden sich daran erinnern, dass oppositionelle Bewegungen wie Solidarnosc oder die Charta 77 von vielen im Westen als Störenfriede empfunden wurden, als Gefahr für die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu den herrschenden Politbürokraten im Osten.

Es gibt viele Verbindungen zwischen der Arbeit von Wolfgang Eichwede und unserer Stiftung. Heinrich Böll war selbst ein wichtiger Bezugspunkt für die künstlerische und politische Dissidenz in Osteuropa. Er reiste nach Moskau, Warschau, Prag, traf sich mit oppositionellen Schriftstellern und Intellektuellen, führte eine weitverzweigte Korrespondenz und setzte sich für verfolgte Kolleginnen und Kollegen ein. Sein langjähriger Briefwechsel mit Lew Kopelew wurde von meiner Kollegin Elsbeth Zylla mit Unterstützung der Stiftung publiziert. Diese Tradition versuchen wir heute mit unseren Partnerinnen und Freunden in Mittel-Osteuropa fortzusetzen.

Wolfgang Eichwede hat auch nach dem Fall der Mauer eine wichtige Rolle als Brückenbauer gespielt. Er ist ein großer Netzwerker vor dem Herrn und eine der wichtigsten Stimmen in Deutschland, wenn es darum geht, politische und gesellschaftliche Ereignisse in Osteuropa zu interpretieren. Auch davon wird heute Abend sicherlich die Rede sein. Seine Gesprächspartner sind allesamt selbst Personen der Zeitgeschichte und langjährige Weggefährten. Ich freue mich sehr auf diesen Abend.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.