Analyse: Wahlen in Griechenland

Das griechische Parlament in Athen. Bild: Kokotron Lizenz: CC BY 2.0 Original: Wikimedia Commons.

14. Mai 2012
Olga Drossou und Michalis Goudis

Mit besonderer Spannung wurden im In- und Ausland die ersten Parlamentswahlen in Griechenland erwartet - nach zwei Jahren einer von den internationalen Geldgebern oktroyierten drakonischen Sparpolitik, begleitet von einer beispiellosen politischen Krise mit fortschreitendem Verfall des Vertrauens in die öffentlichen Institutionen und die bis dato herrschenden beiden großen Parteien. Während in der Nacht des 6. Mai in Frankreich ein neuer Bewohner in den Élysée Palast einzog, der, auf ein überzeugendes Wählervotum gestützt, selbstbewusst neue Fragen auf die europäische Agenda setzen will, hinterlassen die am selben Abend abgehaltenen Wahlen in Griechenland eine bedrückende Ungewissheit und eine Menge Fragen bei Griechen wie Europäern. Eine neue Regierung ist in Griechenland nicht Sicht.

Zum ersten Mal in der neueren politischen Geschichte Griechenlands konnten die beiden großen traditionsreichen Parteien, die konservative Nea Dimokratia (ND) und die sozialistische PASOK, nicht einmal zusammen die Stimmen auf sich vereinen, die jede für sich alleine in den vergangenen Jahrzehnten seit dem Ende der Diktatur für ihren jeweiligen Regierungsauftrag erhalten hatte. Auch für eine Koalitionsregierung fehlt ihnen die erforderliche Mehrheit der Parlamentssitze.

Der eklatante Verlust an Glaubwürdigkeit und Zustimmung zu den beiden bislang dominierenden Parteien Griechenlands kann nicht überraschen. ND und PASOK wurden von der Mehrheit des griechischen Volkes als die Hauptverursacher für Klientelismus und Misswirtschaft abgestraft, die das Land in den heutigen Abgrund geführt haben.

Gewinner und Verlierer

Während die Nea Dimokratia seit Ausbruch der Krise penetrant auf Neuwahlen gedrängt hatte, weil sie alle Schuld bei der regierenden PASOK abzuladen hoffte, erreichte sie mit 18,85 Prozent ihr historisches Tief und verlor 15 Prozentpunkte gegenüber ihrem letzten Wahlergebnis. Die opportunistische Politik des ND-Vorsitzenden Antonis Samaras in den beiden Krisenjahren, die immerzu schwankte zwischen rhetorischer Ablehnung und gequälter Zustimmung zu den Abmachungen der griechischen Regierung mit ihren Gläubigern, hat seine Partei zwar noch knapp an die erste Stelle geführt. Zu einem überzeugenden und mehrheitsfähigen Regierungsauftrag hat es aber nicht mehr gereicht. Und das, obwohl der ND als relativ stärkster Partei aufgrund des Wahlgesetzes noch ein Bonus von 50 Sitzen im 300 Sitze umfassenden griechischen Parlament zusteht.

Die PASOK wiederum unter der Führung des bisherigen Finanzministers und eigentlichen Krisenmanagers Evangelos Venizelos ist der große Wahlverlierer. Sie schrumpfte von 44 Prozent auf 13,18 Prozent und erntete damit vor allen anderen Wut, Ärger und Verzweiflung ihrer Stammwähler/innen für ihre Verantwortung bei der Entstehung der Krise und für das schlechte Krisenmanagement der Regierungen von Giorgos Papandreou und Loukas Papademos, denen es zu keinem Zeitpunkt gelang, die durchgesetzten beispiellosen Sparmaßnahmen mit einer glaubwürdigen Perspektive auf ein stabileres politisches System und mehr Gerechtigkeit zu verbinden. Mit nur noch 41 Parlamentssitzen verliert die PASOK zudem mehrere ihrer Spitzenpolitiker/innen, die in der letzten Regierung teilweise Ministerämter innehatten, aber jetzt keinen Platz mehr erringen konnten.

Einen historischen Sieg hat das linke Parteienspektrum insgesamt erzielt. Erstmalig ist es ihm gelungen, rund ein Drittel der Wählerstimmen zu gewinnen. Doch innerhalb dieses Spektrums hat es gravierende Verschiebungen gegeben. Dem ehemals immer nur knapp über die Drei-Prozent-Hürde kommenden linken Parteienbündnis SYRIZA gelang mit 16,8 Prozent der höchste Sprung. Alexis Tsipras, der jüngste Chef einer griechischen Partei, hat mit seiner Anti-Memorandum-Rhetorik einen großen Teil der Unzufriedenheit von Wählern und Wählerinnen aus allen politischen Lagern (darunter 20 Prozent der früheren PASOK und 7 Prozent der ND-Wähler) in Stimmen für seine Partei ummünzen können. Er fühlt sich als der eigentliche Wahlsieger.

Auch die als gemäßigt geltende „Demokratische Linke“ hat mit 6,1 Prozent ein für sie sehr gutes Ergebnis erreicht, konnte aber nicht die Hoffnungen einlösen, die der sehr viel höhere Zuspruch in den Wahlprognosen geweckt hatte. Obwohl ihr Vorsitzender Kostas Kouvelis als pro-europäisch und aus Sicht von ND und PASOK als koalitionsfähig gilt, irritierten die Aussagen in diesem Wahlkampf, die getroffenen Vereinbarungen mit Griechenlands internationalen Gläubigern und Griechenlands Verpflichtungen nicht einhalten zu wollen.

Im Vergleich mit dem spektakulären Zugewinn von SYRIZA und der „Demokratischen Linken“ hat die dogmatische Kommunistische Partei Griechenlands KKE kaum von ihrer konsequent antieuropäischen und fundamentalen Opposition gegen das „Diktat des internationalen Finanzkapitals“ profitiert. Sie stagnierte bei 8,5 Prozent - zusammen mit ihren treuen Anhängern sozusagen seit 1919 ein Fels in der Brandung der Geschichte. Die KKE, namentlich seit 20 Jahren an ihrer Spitze die Generalsekretärin Aleka Papariga, gehört mit den aus diesen Wahlen hervorgegangenen rechtspopulistischen nationalistischen, ausländerfeindlichen und antisemitischen Kräften zu den erklärten Gegnern der europäischen Orientierung der griechischen Politik und des Verbleibs des Landes in der Eurozone.

Zuwächse für rechtsextreme und populistische Parteien

Der beachtliche Zuwachs des rechtsextremen und rechtspopulistischen Lagers ist ebenfalls eine schockierende Erfahrung des Wahlabends. Über eine Million Wählerstimmen haben die beiden neu entstandenen Formationen, die rechtspopulistische Partei “Unabhängige Griechen” und die rechtsradikale neonazistische „Chrysi Avgi“ (Goldene Morgendämmerung) von Nikos Michaloliakos erhalten und würden zusammen mit 21 Sitzen im Parlament sitzen – wenn das Parlament denn zusammentreten würde. Ihr extrem rassistisches Getöse richtet sich vor allem gegen die „Flut“ der Flüchtlinge, die täglich über die griechischen Grenzen einbreche und sich tatsächlich in bestimmten Stadtteilen Athens, darunter auch ehemalige Touristenattraktionen, als Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und Gefühl großer Unsicherheit manifestiert.

Tatsächlich erlebt Griechenland seit einigen Jahren eine vollkommen ungesteuerte Zuwanderung, mit der es in keinster Weise fertig wird – weder humanitär und rechtstaatlich, noch sozial. Bei der Zuwanderung nach Europa ist Griechenland heute das schwächste Glied der Absicherung der Außengrenzen – von der Europäischen Union im Stich gelassen und erpresst von der Türkei, die ihren Teil der Sicherung der Grenze zu Griechenland erst wahrnehmen will, wenn sie in den Schengenraum aufgenommen wird, der ihren Staatsbürger/innen Bewegungsfreiheit innerhalb der EU gewähren würde. Die grölenden Feierlichkeiten der mehrheitlich jungen und männlichen Parteifanatiker der Chrysi Avgi und ihre Drohgebärden gegenüber Journalisten in der Wahlnacht haben der internationalen Öffentlichkeit erschreckende Bilder über die politischen Folgen von Staatsversagen und verweigerter Verantwortung und Hilfe der europäischen Partner geliefert.

Schließlich sind noch zwei Zahlen bei der Analyse des Wahlergebnisses interessant: Zum einen ist es die unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung: über ein Drittel der Wähler/innen hat sich an den Wahlen nicht beteiligt. Viele von ihnen konnten schlicht aus finanziellen Gründen nicht zu ihrer Wahlstätte reisen, da diese oft an einem entfernten Ort liegt.

Zum anderen: 19 Prozent der Wähler bleiben ohne Repräsentation im Parlament. Denn von den insgesamt 32 Parteien haben nur sieben die Drei-Prozent-Hürde übersprungen. Unter den „sonstigen“ 25 angetretenen Parteien befinden sich die beiden liberalen Parteien „Demokratische Allianz“ mit der aus einer der traditionsreichen Politikerfamilien stammenden Vorsitzenden Dora Bakoyannil, wie auch die Partei „Drasi“ des kritischen liberalen Politikers Stefanos Manos.

Auch die griechischen Grünen haben trotz eines engagierten, auch von den europäischen Grünen unterstützten Wahlkampfs den Einzug ins Parlament mit 2,93 Prozent äußerst knapp verfehlt. Trotz steigender Sympathiewerte ist es ihnen dieses Mal noch nicht gelungen, von der tiefen Glaubwürdigkeitskrise der etablierten Parteien zu profitieren und mit ihren Ideen von einem Green New Deal durch nachhaltigen Tourismus, erneuerbare Energien, Ausbau der ökologischen Landwirtschaft und effiziente Vermarktung ihrer Produkte als unverbrauchte politische Alternative zu überzeugen.

Neuwahlen bereits im Juni?

Doch: Nach den Wahlen ist vor der nächsten Wahl. Die Sondierungsrunden der drei stärksten Parteien haben offenbart, was viele befürchtet haben: Eine Koalitionsregierung ist unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Angesichts der verfahrenen politischen Lage in Athen scheinen Neuwahlen einen Ausweg zu bieten. Kann das Land bis zu Neuwahlen, die für Juni erwartet werden, von einer geschäftsführenden Regierung nach innen regiert und nach außen gegenüber den nervösen europäischen und internationalen Partnern vertreten werden? Wie werden diese Partner und Gläubiger reagieren, wenn noch in diesem Monat neue Kredite freigegeben werden müssen? Werden sie die Exit-Option, die durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vorbereitet wird, schon jetzt wählen? Können Neuwahlen neue Perspektiven eröffnen? War der 6. Mai eine „Denkzettelwahl“, der im Juni die Rückkehr zu den ehemals großen Parteien folgen könnte?

Klar ist jedenfalls, dass die absolute Mehrzahl der griechischen Wählerinnen und Wähler an der Mitgliedschaft in EU und Euroraum festhalten will. Auch wenn viel für einen Austritt aus dem Euro und eine zweite Umschuldung spricht: die Mehrheit der Griechen weiß sehr wohl, dass der Austritt aus dem Euro die ohnehin schon große Ungleichheit zwischen ihnen und den Besitzern von Vermögenswerten im Ausland vervielfachen würde. Das ist eine an Gerechtigkeit und rationalem Kalkül orientierte Haltung, die europäisch ist. Klar ist aber auch, dass Griechenland sozial, wirtschaftlich und politisch-institutionell eine Perspektive braucht, sonst halten die Menschen, die jetzt schon in wachsendem Maße an Demokratie und Europa zweifeln, nicht länger durch. Und dafür braucht Griechenland eine Regierung, deren sie tragende Parteien nicht nur ihr Überleben im Sinne haben, sondern das Gemeinwohl. Dafür müssen sie den in Griechenland grassierenden Opportunismus überwinden, der sich für den kleinsten kurzfristigen Vorteil die Möglichkeit langfristiger Kooperationen verbaut. Und dafür brauchen sie Zeit – Zeit, die Geld kostet und erst später Früchte eintragen kann. Beides ist sehr ungewiss. Der angebrochene Sommer in Griechenland verspricht noch heißer zu werden.

 

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Autor/innen:
Olga Drossou
, Leiterin der Vertretung der Heinrich-Böll-Stiftung in Griechenland.
Michalis Goudis, Journalist, Chefredakteur des online Magazins parallaxi