Analyse: Die politischen Eliten in Belarus

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3. Dezember 2012
Maxim Rust
Nach der Präsidentschaftswahl 2010 schien es, als würden die demokratischen Kräfte in Belarus die Konsequenzen aus ihrer Niederlage ziehen, um die bis dahin begangenen Fehler bei den Parlamentswahlen 2012 zu vermeiden. Doch nicht jeder ist imstande aus seinen Erfahrungen zu lernen. Die Oppositionsparteien in Belarus verbleiben in ihrem virtuellen Ghetto, die gesamte Opposition ist zunehmend gesellschaftlich marginalisiert – zum Vorteil der Führung des Landes, in der konservative Tendenzen an Einfluss gewinnen.

Die belarussische Opposition: eine lange Geschichte von Auseinandersetzungen und Einigungsversuchen.

Infolge der Präsidentschaftswahl von 2010 wurde die politische Gegenelite in Belarus geschwächt wie nie zuvor. Einige ihrer Anführer wurden zu Haftstrafen verurteilt, während das Justizministerium erneut formaljuristische Mechanismen aufgriff, um die Tätigkeit von Parteien und politischen Organisationen einzuschränken. Unter dem Druck des Auslands wurden ein paar der politischen Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen, allerdings verbot man ihnen, das Land zu verlassen oder stellte sie unter Hausarrest (so z.B. Uladzimir Nekljajeu). Nur einem der einstigen Präsidentschaftskandidaten – Ales Michalewitsch – gelang die Flucht in die Tschechische Republik, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde. Einige Oppositionelle befinden sich nach wie vor in Haft. Versuche innerhalb der politischen Opposition, zu einer Verständigung zu gelangen und die eigenen Kräfte zu einen, wurden stets im Vorfeld von Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen unternommen. Als Beispiele können hier die Koalition „V+“ vor den Wahlen im Jahre 2004 oder die Entstehung der Vereinigten Demokratischen Kräfte (ADS) vor der Präsidentschaftswahl 2006 genannt werden. Die letztgenannte Initiative war wohl der spektakulärste Einigungsversuch unter den oppositionellen Eliten in der neuesten Geschichte von Belarus. In den Reihen der ADS fanden sich beinahe alle nennenswerten Oppositionskräfte wieder. An ihrer Spitze stand Aljaksandr Milinkewitsch, der einzige Kandidat der Opposition bei der Wahl 2006. Aber auch diese Koalition zerbrach praktisch innerhalb eines Jahres nach der Wahl. Die Unfähigkeit, beständige Bündnisse einzugehen, ist ein Wesensmerkmal der oppositionellen Eliten: beinahe keine der bisherigen Koalitionen hatte länger Bestand als nur ein paar Monate nach der jeweiligen Wahl. Unter diesem Gesichtspunkt erwies sich die Präsidentschaftswahl von 2010 als bemerkenswert. Damals kam eine Einigung oppositioneller Kräfte überhaupt nicht zustande, so dass letztlich zehn Präsidentschaftskandidaten aufgestellt wurden. Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Jahre 2012 kam es zur Bildung der so genannten „Koalition 6+“, in deren Reihen die größten Oppositionsparteien zu finden waren.

Man kann die schwierige Situation der demokratischen Kräfte in Belarus sicherlich durch die Rahmenbedingungen, wie beständige Repressionen seitens des Regimes und die kaum vorhandenen Möglichkeiten, den Kontakt zur Wählerschaft aufrechtzuerhalten, erklären. Es gibt aber auch interne Gründe – von westlichen Expert/innen bis vor kurzem lieber unerwähnt belassen – warum die Opposition in diese Lage geraten ist. Das Versagen der Opposition kann man an der zwanzigjährigen Geschichte der Auseinandersetzungen und des Mangels an Kompromissfähigkeit unter den Gegeneliten ablesen. Deren Anführer haben nicht selten ihre politischen Ambitionen über die Erfordernisse der politischen Lage des Landes gestellt. Nicht nur ein Mal kam es zu Auseinandersetzungen „beim Verteilen des Fells, noch ehe der Bär geschossen war“, das heißt beim Verteilen von Ministerposten in einer nichtexistenten Regierung. Auch vor den letzten Wahlen war eine Konsolidierung des Oppositionslagers nicht in Sicht. Die Zersplitterung manifestierte sich darin, dass die Gegeneliten drei verschiedene Strategien der Wahlbeteiligung verfolgten: den vollständigen Boykott, der Teilnahme am Wahlkampf und den Rückzug der Kandidaten am Vorabend der Wahl sowie die vollständige Teilnahme. Diese Herangehensweise verdeutlicht zu Genüge den Zustand der belarussischen Opposition.

Das Who-is-who der politischen Szene in Belarus

Die meisten der in Belarus registrierten Parteien werden zur Opposition gezählt. Sie verfügen über nur wenige Mitglieder und schwache Organisationsstrukturen, ein Umstand, der sich negativ auf ihre Erfolgschancen bei Wahlen auswirkt. Zurzeit sind offiziell 15 politische Parteien registriert. Darüber hinaus gibt es ein paar gesellschaftliche Organisationen, die de facto als Parteien zu bezeichnen sind, entweder weil sie es sind, aber seit Jahren keine Zulassung mehr erhalten, oder weil sie die Aufgaben einer politischen Partei wahrnehmen.

Die Gegenelite

In der politischen Szene Belarus gibt es zahlreiche Organisationen, die man der Gegenelite zurechnen kann. Die Qualität kann jedoch nicht mit der Quantität Schritthalten, denn der Handlungsspielraum der Gegenelite ist gering. Abgesehen von den Parteien, spielen gesellschaftliche Organisationen und diverse Kampagnen – die de facto als Parteien fungieren – eine gewichtige Rolle innerhalb der Gegenelite. Die demokratischen Kräfte lassen sich nach Größe und Einflussmöglichkeiten in vier „Ligen“ einteilen.

Zur Ersten Liga zählen die drei ältesten und bis vor kurzem mitgliederstärksten belarussischen Parteien. Als erstes muss die nationalkonservative (auch als zentristisch bezeichnete) Belarussische Volksfront (BNF) erwähnt werden. Ihre Anfänge reichen bis in die 1980er Jahre zurück. Sie spielte eine wichtige Rolle in der politischen Geschichte des Landes zu Beginn der 1990er Jahre. Des Weiteren gibt es die Vereinigte Bürgerpartei (AGP). Sie ist die einzige liberale Partei von Bedeutung. In ihren Reihen sind einige hervorragende Wirtschaftsexperten zu finden. Die dritte und zahlenmäßig stärkste Kraft ist die ehemalige Belarussische Partei der Kommunisten, die sich heute Vereinigte Linke „Gerechte Welt“ (SM) nennt. Aus diesen drei Parteien – BNF, AGP und SM – besteht im Kern die parteipolitisch organisierte Gegenelite in Belarus. Ihre Strukturen sind erkennbar und ihre Mitgliederzahlen nach wie vor hoch. Ohne ihre Berücksichtigung sind Wahlkampagnen in Belarus kaum vorstellbar.

Die Zweite Liga umfasst die quantitativ zahlreichste Gruppe an politischen Organisationen der Gegenelite. Dazu zählt die Belarussische Christdemokratische Partei (BChD), die von Jahr zu Jahr an Bedeutung und Mitgliederzahlen zunimmt, obwohl sie immer noch nicht offiziell registriert ist. Sie geht organisationsgeschichtlich auf die Jugendorganisation „Junge Front“ zurück, mit der sie nach wie vor stark verbunden ist. Eine weitere wichtige Organisation in dieser Liga ist die Bewegung „Für die Freiheit“, deren Entstehung auf die Unterstützungsbewegung für ihren Vorsitzenden Aljaksandr Milinkewitsch bei der Präsidentschaftswahl von 2006 zurückgeht. Um ein neues politisches Phänomen handelt es sich bei der Kampagne „Sag die Wahrheit!“ mit dem Dichter Uladzimir Nekljajeu an der Spitze. „Sag die Wahrheit!“ entstand vor der Präsidentschaftswahl 2010. Zahlreiche Beobachter gingen davon aus, dass diese Bewegung ausschließlich dem damaligen Wahlkampf dienen sollte, sie besteht jedoch nach wie vor und spielt eine sehr aktive Rolle im politisch-gesellschaftlichen Leben des Landes. Der ursächliche Grund für die Stärke und die Popularität dieser zwei Bewegungen liegt – abgesehen von der Autorität ihrer Anführer – in ihrer Fähigkeit, Wählerschaft an sich zu binden, die sowohl dem Regime als auch der bisherigen Opposition kritisch gegenüber steht. In der Zweiten Liga sollten die zwei sozialdemokratischen Parteien nicht unerwähnt bleiben: „Hramada“ („Gemeinschaft“) und „Narodnaja-Hramada“ (wörtlich übersetzt: „Volksgemeinschaft“). Beide spielten noch vor nicht allzu langer Zeit eine bedeutende Rolle innerhalb der politischen Szene Belarus’ – hauptsächlich wegen ihrer Anführer: Stanislau Schuschkewitsch und des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Kasulin.

In der Dritten Liga finden sich Parteien, deren Bedeutung als marginal zu betrachten ist. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um Randerscheinungen und radikale Gruppierungen. Dazu zählt die ehemals führende oppositionelle Kraft des Landes, die Konservativ-Christliche Partei BNF. Dazu zählen ebenfalls die restlichen sozialdemokratischen Parteien, die größtenteils lediglich auf dem Papier existieren und nicht imstande sind, eigenständig zu funktionieren oder gar politisch Einfluss zu nehmen.

Innerhalb der belarussischen Gegenelite gibt es eine Gruppe von Organisationen, die man gesondert betrachten sollte, da sich diese einerseits zur Opposition bekennen, es sich dabei andererseits um ausgesprochene One-issue-Parteien beziehungsweise Bewegungen handelt. Zu dieser Gruppe, oder anders der Vierten Liga, zählen die Belarussische Partei „Die Grünen“ und die Belarussische Frauenpartei „Nadseja“ („Hoffnung“). Die Grünen lassen sich schlecht als eine herkömmliche politische Partei einordnen, denn die „grüne Ideologie“ beschränkt sich vor allem auf Fragen der Ökologie und des Umweltschutzes. „Nadseja“ wiederum hat eine ausgeprägte Genderorientierung und vertritt hauptsächlich Frauenrechte. Außerdem ist sie seit ein paar Jahren nicht mehr offiziell registriert.

Die herrschende Elite

Eine gute Methode zur Beschreibung herrschender Eliten ist die Untersuchung von Parteiprogrammen und Statuten. Das Problem mit belarussischen Parteien, die der herrschenden Elite zuzurechen sind, besteht jedoch darin, dass sie, gleichwohl seit längerem existent und mitgliederstark, der Wählerschaft unbekannt sind und ihr Einfluss auf die maßgeblichen politischen Entscheidungen marginal ist. Vertreter der Parteien, die dem Präsidenten gegenüber loyal verblieben sind, sucht man auch vergeblich im Parlament. Wesentliche Bedeutung kommt im Regierungslager lediglich dem Präsidenten und seiner nächsten Umgebung zu.

Innerhalb der herrschenden Elite lassen sich Parteien oder vielmehr Interessensgruppen mit „schwammiger“ oder nichtexistenter Programmatik ausmachen, die nicht um die Macht wetteifern, sondern ihre Partikularinteressen mit Hilfe der Regierung verfolgen. Dazu zählt die Republikanische Partei (RP), die im Jahre 1994 entstand. Die RP unterstützte von Anfang an die Politik des Präsidenten, hat jedoch nie Wahlerfolge für sich verbuchen können, obwohl sie an allen bisherigen Wahlen teilgenommen hat. Als Interessensgruppen lassen sich auch die Belarussische Sozial-Sportliche Partei (BS-SP) sowie die Republikanische Partei für Arbeit und Gerechtigkeit (RPTS) einordnen. Charakteristisch für all diese Organisationen ist ihr ideologischer Eklektizismus mit einer bunten Ideenmischung „von links nach rechts“. Dem linken Parteienspektrum ist vor allem die Kommunistische Partei von Belarus (KPB) zuzuordnen, die sich als Nachfolgerin und Erbin der KPdSU versteht. Die KPB hat an allen Wahlen teilgenommen und stets ihre Vertreter im Parlament gehabt (sechs nach der Wahl von 2008). Dieser Gruppe sind auch die Belarussische Patriotische Partei (BPP) – entstanden im Jahre 1994 aus einer Gruppe von Lukaschenka-Unterstützern – sowie die Agrarpartei (AP) zuzuordnen.

Eine interessante Erscheinung der politischen Szene in Belarus ist die Liberaldemokratische Partei (LDP). Sie betrachtet sich als „konstruktive Opposition“. Sie ist nach eigenem Bekunden mit der jetzigen Konzentration der Macht in der Hand eines Mannes nicht einverstanden, gleichzeitig geht sie auf Distanz zur demokratischen Opposition, die sie als radikal erachtet. Es handelt sich hierbei um eine paraoppositionelle Partei (wie die Liberaldemokratische Partei in Russland), die von der herrschenden Elite im Kampf gegen die wahre Opposition benutzt wird. Die LDP hatte bei den diesjährigen Wahlen als eine der wenigen Parteien in den meisten der Wahlkreise ihre Kandidaten aufstellen können. Ein weiteres interessantes Phänomen ist die Organisation „Belaja Rus“ (BR), die sich nach Meinung vieler Forscher zu der Partei der Macht wandeln könnte. Die gesellschaftliche Organisation „Belaja Rus“ wurde Ende des Jahres 2007 registriert. An ihrer Spitze stand der damalige Bildungsminister Aljaksandr Radskou. Im Vorstand fanden sich weitere Personen aus der näheren Umgebung Lukaschenkas, beispielsweise Nadeschda Jermakowa (jetzige Chefin der Nationalbank). Das erklärte Ziel dieser Organisation ist eine umfassende Unterstützung der Politik des Präsidenten. Sowohl vor den Wahlen im Jahre 2008 als auch vor der Präsidentschaftswahl 2010 gab es Spekulationen darüber, ob die BR zu einer Partei werden würde, doch dazu kam es nicht, so dass sie an den bisherigen Wahlen als gesellschaftliche Organisation teilgenommen hat. Sie ist mit 130.000 Mitgliedern die stärkste unter den gegenüber dem Präsidenten loyalen Organisationen.

Die Wahlen von 2012 - eine Niederlage aller


Die sich seit ein paar Jahren vertiefende Spaltung und der Mangel an gegenseitigem Vertrauen innerhalb des Oppositionslagers verhießen auch für die diesjährige Wahl nichts Gutes. Die Zersplitterung führte dazu, dass jede der vorgeschlagenen Strategien fehlschlug. Der vieldiskutierte Wahlboykott konnte nur dann funktionieren, wenn sich alle demokratischen Kräfte daran beteiligt hätten, stattdessen wurde er von der Mehrheit der Wähler kaum wahrgenommen. Strategien, die auf eine Wahlbeteiligung abzielten, erwiesen sich ebenfalls als ein Fiasko. Im Übrigen hatte das Regime während der gesamten Wahlkampagne ohnehin zu verstehen gegeben, dass keiner der Oppositionskandidaten ins Parlament einziehen werde.

Die offiziellen Wahlergebnisse waren vorauszusehen. Das Zentrale Wahlkomitee gab bekannt, dass die Wahl in allen 110 Wahlkreisen stattgefunden und die Wahlbeteiligung bei 74 Prozent der Wahlberechtigten gelegen hatte (mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in Minsk). Nach der Verkündung der Wahlergebnisse kam es diesmal weder zu Massenkundgebungen noch sonst zu irgendwelchen Protesten. Vertreter der sechs größten Oppositionsorganisationen hatten lediglich eine Pressekonferenz für den 24. September einberufen, auf der sie erklärten, sie betrachteten die Wahl als ungültig und ihre Ergebnisse für gefälscht.

Nach Meinung einiger unabhängiger und der meisten Beobachter der Opposition betrug die Wahlbeteiligung in zahlreichen Wahlkreisen weniger als 50 Prozent, was bedeutete, dass die Wahl für ungültig erklärt werden müsste. Ferner war den Beobachtern eine neue Taktik der lokalen Verantwortlichen bei der „Stimmenauszählung“ aufgefallen. Sofern bei früheren Wahlen vorab vorbereitete Wahlscheine den Urnen beigefügt worden waren, schrieb man diesmal die gewünschten Ergebnisse gleich in die Wahlprotokolle. Kurz vor dem Wahltag erstellten einige unabhängige Forschungseinrichtungen anhand der vorliegenden Kandidatenlisten ihre Prognose über die Zusammensetzung des zukünftigen Parlaments. In den meisten Fällen wurden diese Prognosen später zu 100 Prozent von den offiziellen Ergebnissen bestätigt. Dessen ungeachtet zeigte sich ein Teil der Opposition mit einem solchen Ergebnis zufrieden, erklärte sich ein weiteres Mal zum „moralischen Sieger“ und behauptete, die belarussische Gesellschaft hätte die Parlamentswahlen de facto boykottiert.

Nur hat dies keinerlei Wirkung, weder auf das offizielle Wahlergebnis noch auf die zukünftige Politik der Machthaber. Nach Meinung sowohl belarussischer als auch internationaler Experten hatten die Aktivitäten der Opposition (und manchmal ihr Fehlen) einen marginalen Einfluss auf die Wahlbeteiligung sowie auf die Entscheidungen der Wähler. Die Ergebnisse der zuletzt von NISEPI (eines der wenigen tatsächlich unabhängigen Meinungsforschungsinstitute) durchgeführten Studie widerlegten die oppositionelle Legende vom „gesellschaftlichen Boykott der Wahlen“ und sorgten damit für Verwirrung in ihren Reihen. Die Studie ergab eine Wahlbeteiligung von 66 Prozent. Damit lag diese niedriger als in der offiziellen Statistik, aber wesentlich höher als von den Beobachtern der Oppositionsparteien errechnet. Nur in Minsk fiel sie, nach den Ergebnissen der Studie, mit 44 Prozent deutlich niedriger aus. Die Untersuchung widerlegte ebenfalls die Version vom Zwang zur vorzeitigen Stimmabgabe: nur 2 Prozent der Befragten bestätigten, dass man sie unter Druck gesetzt hatte, während über 15 Prozent diese Form der Stimmabgabe aus freien Stücken gewählt hatten. Den Boykott unterstützten lediglich etwas mehr als 9 Prozent der Befragten, während 25 Prozent aus anderen Gründen den Wahlurnen fernblieben.

Auch die Reaktionen der ausländischen Wahlbeobachtungsmissionen fielen den Erwartungen entsprechend aus. Den vorläufigen Berichten der OSCE war zu entnehmen, dass 37 Prozent ihrer Beobachter Zweifel am demokratischen Prozedere der Wahl geäußert haben. Aufgrund dieser Erkenntnisse wird die OSCE die Wahlen als „nicht internationalen Normen entsprechend“ einstufen – die Belarus verpflichtet ist, einzuhalten – und deren Ergebnisse nicht anerkennen. Ähnliches war von der Europäischen Union zu vernehmen. Das Ergebnis wird sein, dass auch das neue belarussische Parlament keine Anerkennung seitens der EU findet. Andererseits kam die Wahlbeobachtermission der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu ganz anderen Ergebnissen. Diese sprach von einer demokratisch und transparent durchgeführten Wahl und empfahl: „Viele Länder können von Belarus lernen, wie man Wahlen zu organisieren hat“.

Betrachtet man nicht so sehr die Wahlen, sondern die Handlungsweise beider politischen Lager, lassen sich in Bezug auf die politische Entwicklung Belarus in naher Zukunft folgende Schlüsse ziehen:

Keine Veränderungen der internationalen Beziehungen des Landes


Es gibt keine Hinweise, dass es zu wesentlichen Veränderungen im Kontext der internationalen Beziehungen kommen könnte. Die EU und die USA werden gegenüber Belarus Sanktionen unterschiedlicher Art aufrechterhalten, deren fehlende Wirkung allerdings kaum zu übersehen ist. Belarus bleibt das einzige europäische Land, das nicht Mitglied des Europarates ist, und wird dadurch in seiner Teilhabe an Projekten und Gremien innerhalb europäischer Strukturen (wie Euronest, Östliche Partnerschaft etc.) eingeschränkt. Andererseits werden das stille Einvernehmen und die finanzielle Unterstützung Russlands der belarussischen Führung erlauben, weiterhin eine Schaukelpolitik „zwischen Ost und West“ zu betreiben. Die Situation wird sich möglicherweise in dem Moment ändern, wenn die Kredite des Landes zurückgezahlt werden müssen. Die Lage kann ebenfalls durch den Beitritt Russlands zur WTO verkompliziert werden. Präsident Lukaschenka versuchte das Image des Landes zu bessern, indem er einige Tage nach der letzten Wahl zwei politische Gefangene begnadigte, doch brachte dies nicht den gewünschten Effekt. Auf der Sitzung der EU-Außenminister wurde eine Verlängerung der Sanktionen gegen Belarus bis Oktober 2013 beschlossen. Von diesen Sanktionen bleibt auch der belarussische Außenminister Uladzimir Makej betroffen (der bisherige Außenminister Siarhej Martynau befand sich nicht auf der „Schwarzen Liste“ der EU und war somit der letzte offizielle Kontakt zwischen Minsk und Brüssel).

Keine Reformfraktion in der herrschenden Elite

Innerhalb der herrschenden Elite ist mit einer Zunahme konservativer Tendenzen zu rechnen. Hinweise darauf geben Personalwechsel in Spitzenpositionen der Staatsbürokratie, die in den letzten Monaten vollzogen worden sind. Das Parlament bleibt ein vom Staatspräsidenten vollkommen abhängiges Organ, das die Funktion einer schmückenden Fassade erfüllt. Auf einer seiner letzten Sitzungen beschloss das bisherige Unterhaus als „Abschiedsgeschenk“ an die Opposition ein Gesetz, dass die Bestimmungen bezüglich staatlicher Maßnahmen gegen Terrorismus und Extremismus weiter ausweitet. Zukünftig dürfte es der Regierung nicht schwer fallen, gegen die Aktivitäten der Opposition mit Hilfe genau dieses Paragraphen vorzugehen. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine mögliche Entstehung einer „Demokraten-„ beziehungsweise „Reformfraktion“ innerhalb der herrschenden Elite (Hoffnungen dieser Art verband man im Westen mit dem pro-europäischen Leiter der Präsidialverwaltung Uladzimir Makej). Kürzlich wurde auch ein Rätsel der Establishment-Ränkespiele gelöst – Präsident Lukaschenka räumte ein, dass er sich vorstellen könne, die Organisation „Belaja Rus“ auf dem Weg zu ihrer Parteiwerdung zu unterstützen. Somit kann die Gründung einer Partei der Macht als beschlossene Sache gelten.

Keine Konsolidierung des Oppositionslagers

Die Zukunftsaussichten der Opposition in ihrer bisherigen Zusammensetzung sind düster. Dazu tragen externe Faktoren bei, die den Aktivitätsradius demokratischer Kräfte weiter einschränken (wie das oben erwähnte Gesetz gegen Terrorismus und Extremismus). Sollte es zur Gründung einer politischen Partei „Belaja Rus“ kommen, so wird diese an Mitgliedern um ein vielfaches stärker sein als alle Oppositionsparteien zusammengenommen. Eine wichtigere Rolle werden jedoch interne Faktoren spielen. Die seit Jahren fehlende Konsolidierung des Oppositionslagers wird sich für seine Parteien in Form von voranschreitender Marginalisierung negativ niederschlagen. Die diesjährige Wahlkampagne machte deutlich, dass die ohnehin schwache Unterstützung für die Oppositionsparteien tendenziell weiter abnehmen wird. Die Wahlen auf lokaler Ebene, geplant für das Jahr 2014, werden wohl nicht zu einem besonderen Ereignis im politischen Leben des Landes zählen. Anders verhält es sich mit den Präsidentschaftswahlen, die entweder 2015 oder 2016 stattfinden werden. Solange die Opposition weiterhin so agieren wird, wie sie es die letzten Jahre über getan hat, werden die Bezeichnungen „Partei“ und „Opposition“ in Belarus zu hohlen Phrasen verkommen.

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Der Autor Maxim Rust wurde 1988 in der Ukraine geboren. In Minsk besuchte er das Jakub-Kolas-Lyzeum, das als das einzige belarussischsprachige Lyzeum im Jahre 2003 aus politischen Gründen geschlossen wurde. Im Jahre 2006 legte er extern seine Abiturprüfung ab und ging anschließend zum Studium nach Polen. Dort absolvierte er sein Studium der Politischen Wissenschaften an der Universität Warschau. In seiner Abschlussarbeit widmete er sich dem Thema politische Eliten in Belarus. Zurzeit arbeitet Maxim Rust als Doktorand an der Universität Warschau und als Assistent im Warschauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. / Aus dem Polnischen von Arkadius Jurewicz.