Heinrich-Böll-Stiftung: Wie hat sich die Verbreitung des Internets und der „sozialen Netzwerke“ auf den öffentlichen politischen Diskurs in Russland ausgewirkt?
Oleg Kaschin: Es gehört in Russland mittlerweile zum guten Ton, einen negativen Einfluss des Internets, besonders von Blogs und Live Journals festzustellen. Sie schaffen einen elektronischen Raum, in dem freie Meinungsäußerung möglich ist. Hier lassen die Leute ihren „Dampf“ ab. Gäbe es im Internet diese Möglichkeit nicht, dann wäre in Russland schon millionenfach der „Arabische Frühling“ ausgebrochen. Aber so verbreiten die Unzufriedenen ihren Unmut im Netz, lassen also ihren Dampf ab, klicken noch den „Like“-Button bei Beiträgen, die ihnen gefallen. Und dann hört es auf. Ein Artikel mit der klaren Message „es reicht“ erreicht 100.000 „Likes“ – das macht zwar einerseits einen Eindruck von Stärke und Masse – aber es ist andererseits klar, dass es in der Wirklichkeit nichts verändert.
Das Phänomen unserer Bloggerszene geht zurück auf Februar 2001. Damals entstand das russische Live Journal und kurz darauf im April wurde der Fernsehsender „NTV“ in seiner damaligen Erscheinung aufgelöst. Die Eröffnung der neuen Möglichkeiten im Netz und die zeitgleiche Abwicklung des freien Fernsehens und der freien Massenpresse führte von Anfang an zu einer starken Politisierung der Blogs wie in keinem anderen Land der Welt. Aleksei Navalny, einer der bekanntesten Blogger Russlands, ist mittlerweile ein erfahrener Politiker, den sogar Putin zur Kenntnis nehmen muss. Navalny ist aber wahrscheinlich das einzige positive Beispiel für die Entwicklung der Bloggerszene, sonst geht es im Wesentlichen um das Dampf ablassen.
boell.de: Wie reagieren die Behörden auf das Blog-Geschehen? Wie viel Diskussion muss erzeugt werden, bis eine Reaktion folgt?
Kaschin: Die Praxis zeigt, dass die Behörden nur auf die altmodischen Erscheinungen sozialen Protests in Form von Kundgebungen oder Demonstrationen reagieren. Dank der Erscheinung des 31. Tag des Monats, wenn regelmäßig zum 31. eines Monats Menschen für die im Artikel 31 der Verfassung garantierte Versammlungsfreiheit auf die Straße gehen und jedes Mal von „Sicherheitskräften“ daran gehindert werden, gelangt man zu der Auffassung, dass der Staat Straßenproteste gleichsam fürchtet, ignoriert und unterdrückt. Aber das gilt nur für politische Proteste. Wenn Proteste mit persönlichen materiellen Bedürfnissen der Menschen zusammen hängen, geht der Staat auf die jeweiligen Anliegen ein.
So war es 2005, als viele Rentner gegen die flächendeckende Abschaffung von Ermäßigungen protestierten und die Pläne weitgehend aufgegeben wurden. Und so war es auch nach Protesten in Kaliningrad gegen die Transportsteuer. Hier wurde sogar der Gouverneur abgesetzt. Auf die Kampagnen der Blogger reagiert der Staat meistens überhaupt nicht – obwohl viel Geld ausgegeben wird, um Leute anzuheuern, die zu Tausenden die gleichen Kommentare auf den Blogs hinterlassen, so z.B. bei Navalny.
boell.de: Wer ist der typische Blogger heute, wie alt ist er, wie kommt jemand dazu?
Kaschin: Den „typischen Blogger“ gibt es nicht, zumindest gab es so etwas früher nicht. Die ersten Blogger, das waren die mit den ersten Computern mit Internet, insgesamt nur wenige hundert. Jetzt ist der typische Blogger wahrscheinlich jemand, der sich selbst als Blogger versteht. Womit beschäftigt sich so jemand? Er postet für wenig Geld Reklame in seinem Blog, geht auf Präsentationen und trifft sich mit anderen Bloggern. Oftmals ist ein Blogger einfach ein schlechter Journalist.
boell.de: Was treibt Blogger an? Glauben sie, sie können mit ihrer Tätigkeit etwas verändern?
Kaschin: Zunächst mal ist Bloggen eine neue Form der Sozialisierung, ein Mittel neue Leute und Gleichgesinnte kennen zu lernen und Geschäfte zu machen. Das erleichtert einem tatsächlich das Leben. Von mir selbst kann ich sagen, dass es mir das Bloggen einfacher gemacht hat nach meinem Umzug nach Moskau, weil ich praktisch schon alle kannte.
boell.de: Gibt es aus Ihrer Sicht eine bestimmte politische Grundtendenz oder Zugehörigkeit der Blogger?
Kaschin: Ich denke, wenn es eine Wahl des Präsidenten nur unter Bloggern geben würde, würde ebenso Putin gewinnen. Früher, in den ersten Jahren, war das noch anders. Die Blogosphäre war die Avantgarde des fortschrittlichen Teils der Gesellschaft. Aber heute ist sie durch die massenhafte Verbreitung des Internets einfach ein Schnitt der Gesellschaft. In den Blogs gibt es einen aktiven liberalen Kern wie den von Navalny, aber die Mehrzahl sind sicher die freimütigen, nicht gekauften kremlnahen Blogger.
boell.de: Gehen die Blogger am 4. Dezember zur Parlamentswahl?
Kaschin: Das ist das Gleiche: die Blogs verschaffen nur die Illusion von Partizipation am politischen Leben. Sicher empören sich viele, dass wir Putin für 12 Jahre „wählen“. Aber diese ganze Empörung bleibt in den Blogs, mehr passiert nicht damit.
boell.de: Wie frei ist das russische Internet?
Kaschin: Das Internet ist mehr oder weniger frei. Was es früher allerdings nicht gab ist die inzwischen vielfach praktizierte juristische Verfolgung einzelner Posts in den Blogs. Erster Präzedenzfall war 2004 die Aussage des bekannten Bloggers Anton Nosik über den Journalisten Lev Sigal, dieser würde bestellte Artikel schreiben. Sigal klagte erfolgreich dagegen. Seitdem kam es immer wieder zu Verurteilungen gegen Blogger, so z.B. im Falle von Erik Murtasin aus Tatarstan, der ein Jahr hinter Gitter musste, weil er angeblich die Privatsphäre des tatarischen Präsidenten Schamijev verletzte. Murtasin hatte auf seinem Blog verbreitetet, der Präsident sei kurz vor seinem Tod noch bei bester Gesundheit gewesen. Alle verstehen mittlerweile, dass für die Blogosphäre genau die gleichen Gesetze gelten wie für alle anderen Medien. Deshalb greift auch hier mehr und mehr die Selbstzensur um sich.
Auch mich betraf ein Fall in diesem Jahr. Ein föderaler Beamter verklagte mich wegen einer Notiz in meinem Blog über seine Beteiligung an dem Überfall auf mich. Ich gewann das Verfahren, aber dennoch habe ich verstanden, dass ich in Zukunft vorsichtiger sein muss.
boell.de: Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke Facebook und „vkontakte“ im russischen Netz?
Kaschin: Eigentlich sind im Wesentlichen die Live Journals als „Gedankenlabore“ zu betrachten. Facebook ist in Russland eine kleine klubartige Plattform hauptsächlich für Moskauer Medienleute. In Russland gibt es „vkontakte“, wo es kostenlos die schwarz kopierte Musik und Filme gibt – und deshalb sind die Massen dort. Bei „vkontakte“ sind hauptsächlich Schüler und Studenten, die selbst kaum Ideen generieren. Die Revolution werden sie dort nicht organisieren, es sei denn der Gründer Pavel Durow schlägt dies vor.
Interview: Anton Barbashin, Heinrich-Böll-Stiftung, Moskau
Übersetzung: Robert Sperfeld, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Oleg Kaschin, Journalist der russischen Tageszeitung "Kommersant", ist Teilnehmer der 16. Deutsch-Russischen Herbstgespräche am 4. und 5. November 2011 in Berlin zum Thema: „Bürger, Blogger, Wähler – Der Einfluss neuer zivilgesellschaftlicher Initiativen auf die Politik“ des Deutsch-Russischen Austauschs mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung.