Die Entkernung der Demokratie. Ungarn als Trendsetter in Europa?

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Gerald Häfner, MdEP, auf der Konferenz "Solidarität und Stärke", Heinrich-Böll-Stiftung, 2011. Foto: Heinrich-Böll-Stiftung / Stefan Röhl, Lizenz: CC BY-SA 2.0 Original: flickr.com

14. Juni 2012
Ein Interview mit Gerald Häfner, MdEP


Wie bewerten Sie die aktuelle politische Entwicklung in Ungarn?

Dramatisch. Ich glaube, wir müssen ausgesprochen ernst nehmen, was sich dort vollzieht. Wir haben in Ungarn eine Regierung, die zwar in einem demokratischen Rahmen agiert, aber eigentlich von ihrem Selbstverständnis her sich wie die Führungsoligarchie einer Einparteienherrschaft geriert. Der ganze Staat und alle seine Institutionen und Verfahren sollen nach dem Willen dieser einen Partei eingerichtet und in Teilen auch gleichgeschaltet werden.

Gleich zu Beginn wurden zunächst eine Vielzahl institutioneller Machtbeschränkungen geschleift: So wurden nach einem Urteil, das der Regierung nicht gefiel, die Kompetenzen des ungarischen Verfassungsgerichts eingeschränkt. Oder es sollten, durch eine drastische Herabsetzung des Pensionsalters, mehrere hundert Richter auf einen Schlag entlassen werden, wieder nachdem es Gerichtsentscheidungen gab, die den staatlichen Organen nicht gefielen. Nachdem man die Richterstellen mit genehmen Leuten neu besetzt hatte, sollte das Pensionsalter wieder angehoben werden – um die eigenen Leute länger im Amt zu lassen. Es wurde ein Justizrat geschaffen, in dem eine Person aus dem engen Umkreis und – natürlich – der Partei des Präsidenten, Fidesz, in Zukunft sowohl über die Bestellung von Richtern und Staatsanwälten als auch über die Zuordnung von Fällen in der Justiz entscheiden soll.

Problematische Entwicklungen sind aber nicht nur in den demokratischen Institutionen erkennbar, sondern auch im Bereich der Wirtschaft, etwa der Agrarwirtschaft. Hier ist im Moment eine Form von Plutokratie zu beobachten, in der vielfach nur noch diejenigen, die der Regierungspartei nahe stehen, eine Chance haben, Ausschreibungen zu gewinnen oder große Ländereien kaufen zu können. Diejenigen, die den oppositionellen Kräften zugerechnet werden, müssen hingegen damit rechnen, dass sie wirtschaftlich und sozial benachteiligt werden.

Außerdem hat man die Medienfreiheit eingeschränkt und massiv in den Kulturbetrieb eingegriffen: Es wurden ungefähr 900 Journalisten entlassen, am Theater in Budapest wurde ein Rechtsradikaler zum Intendanten, ein Antisemit zum Direktor ernannt, und so weiter. Das hat Elemente einer kulturchauvinistischen Gleichschaltung. Hier wird Demokratie entkernt und wir schauen zu, ohne richtig zu verstehen oder zu analysieren, was dort passiert. Denn wenn wir es analysierten, würden wir darin eine doppelte Gefahr erkennen: primär für Ungarn, aber langfristig auch für uns alle.

Wo liegen die eigentlichen Gefahren, durch die die demokratischen Grundsätze in Ungarn verletzt werden?

Was man an Ungarn erkennen kann, ist, dass Demokratie täglich verteidigt, erkämpft und gelebt werden muss, und zwar in vielen Bereichen der Gesellschaft. Demokratie ist ein lebendiges, das heißt ein alltäglich gelebtes und immer wieder neu zu justierendes System von checks and balances. Ein System, in dem durch Diskurs und Einfluss aller auf die Entscheidungen am Ende ein Ausgleich bzw. eine politische Mehrheit gesucht wird. Was in Ungarn stattdessen passiert, ist, dass all diese Verfahren entweder umgangen oder nur noch formal praktiziert werden und eine Partei sich den Staat und seine Institutionen zur Beute macht. Wenn die Entwicklung noch weiter in diese Richtung verläuft, kann es sein, dass ein Stadium erreicht wird, bei dem es keinen oder jedenfalls keinen einfachen und demokratischen Weg mehr zurück gibt. Beispielsweise versucht die jetzige Einparteienmehrheit in Ungarn durch eine drastische Änderung des Wahlrechts ihre Herrschaft schon heute über den nächsten Wahltag hinaus so abzusichern, dass die Oppositionsparteien überhaupt keine Chance mehr haben.

Insgesamt erleben wir eine von Orbán vertretene, massiv ideologisierte Politik im Stil einer nationalen Erhebung. Ungarn wird in Orbáns Reden geschildert als das permanente Opfer einer bösen Welt, die Ungarn unterjochen will, wogegen nun alle Ungarn zusammenstehen und sich erheben müssen, und zwar unter Führung dieser Partei und Viktor Orbáns. Das hat durchaus Bezüge zu totalitären Regimen.

Ist Ungarn eine Ausnahme oder gibt es Anzeichen für einen Trend in Europa? Wo liegen hier die Gefahren für die Europäische Demokratie?

Man kann in der Entwicklung in Ungarn durchaus einen Vorblick darauf erkennen, was anderen Ländern in Europa ebenfalls drohen könnte, wenn wir nicht aufpassen und wenn der Problemdruck zunimmt. Denn eine Ursache für diese Entwicklung, neben vielen anderen, ist die zunehmende Krisenhaftigkeit der ökonomischen Entwicklung und die soziale Spaltung der Gesellschaft. Und ich kann mir vorstellen, dass in manchen Ländern z. B. Südeuropas ähnliche vereinfachte, nationale Deutungsmuster Oberwasser gewinnen können und ähnliche Führungsfiguren in einflussreiche Positionen gelangen können, vor allem dann, wenn nämlich die Krisen, die dort gegenwärtig stattfinden, nicht mehr als Folgen eigener gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Fehlentscheidungen interpretiert werden, sondern man sich wie in Ungarn als Opfer böser Mächte im eigenen Land oder außerhalb wähnt. Vor diesem Hintergrund hat Ungarn durchaus Laborcharakter. Ungarn war im Kommunismus ein Labor für die Freiheit und ist jetzt ein Labor für die Einschränkung der Demokratie und totalitäre Versuchungen. Dies muss man um Ungarns willen ernst nehmen – aber auch weil darin eine Gefährdung erlebbar wird, die uns allen drohen könnte.

Wenn wir uns Entwicklungen anschauen, wie sie in Italien unter Berlusconi beobachtbar waren, oder zum Beispiel die Einschränkung der Pressefreiheit in Rumänien unter der letzten Regierung, dann sehen wir, dass Regierungen immer häufiger versucht sind, den demokratischen Diskurs einzuschränken und sich gesellschaftliche Institutionen insgesamt bis hin zu den Medien zur Beute zu machen. Wenn wir uns die Rolle von Rupert Murdoch in Großbritannien oder etlicher anderer Verlagshäuser und Zeitungszaren in Europa anschauen, dann wird deutlich, dass wir die Phase größtmöglicher Medienfreiheit und Pluralität womöglich schon hinter uns haben. Wir beobachten insgesamt in Europa eine Gefährdung zentraler demokratischer oder für die Demokratie lebenswichtiger Institutionen. Das bedeutet: Ungarn ist die Spitze des Eisbergs, die sichtbar aus dem Wasser herausragt, aber in allen europäischen Gesellschaften finden wir unterhalb der Wasserlinie ähnliche Tendenzen.

Wie sollte Europa auf diese Entwicklungen reagieren? Mit Europa meine ich die Europäische Union als solche, aber auch die europäischen Gesellschaften und Regierungen.

Vorweg: Vor allem müssen die Ungarn etwas tun. Ich freue mich, dass man neben all den kritischen Entwicklungen, die wir gerade besprochen haben, über Ungarn auch sagen kann, dass es in Mittelosteuropa eines der Länder ist, in dem die grüne Bewegung sichtbar und am wachsen ist und es eine grüne Partei in Ungarn geschafft hat, ins Parlament einzuziehen. Das gibt Grund für Hoffnung.

Die EU und ihre Institutionen können eine Menge tun. Denn Europa ist nicht einfach ein Zusammenschluss, eine Addition verschiedener Länder, sondern wir haben uns verständigt auf gemeinsame Werte, zu denen Medienfreiheit, Meinungsfreiheit und Demokratie gehören, die in Ungarn gefährdet sind. Ich bin deswegen sehr froh, dass die Europäische Kommission gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet hat und dass zumindest in zwei Punkten jetzt der Europäische Gerichtshof angerufen wurde.
Ich selbst hätte mir gewünscht, dass sich die EU mehr Themen anschaut als nur die drei, die sie zur Grundlage des Verfahrens gemacht hat. Ich weiß, dass die Möglichkeiten der EU-Kommission begrenzt sind. Aber die Möglichkeiten, die wir haben, sollten wir auch nutzen. Ich glaube außerdem, dass es längst an der Zeit ist Klartext zu reden – das gilt vor allem für die konservativen Staatsführer in Europa, die ja im Moment in der Überzahl sind und mit Viktor Orbán in derselben Parteifamilie. Ich wünsche mir, dass – ähnlich wie auch bezüglich der Ukraine im Blick auf Julija Tymoschenko – Staatspräsidenten und andere Regierungsmitglieder Reisen hinterfragen oder absagen und eine deutlichere Sprache diesem Land gegenüber finden als bisher. Europa muss klar machen, dass man diese Entwicklung nicht gutheißt und dass wir jede Möglichkeit nutzen, die wir haben (auch im diplomatischen Verkehr, auf internationalen Konferenzen usw.), um Ungarn und die ungarische Führung auf diese Sorgen hinzuweisen und eine Korrektur zumindest in zentralen Bereichen, in denen es um Grund- und Menschenrechte geht, zu verlangen. Das passiert im Moment leider nicht im notwendigen Maße. Hier im Europäischen Parlament zum Beispiel stellt sich die Europäische Volkspartei (EVP) notorisch hinter die ungarische Regierung. An diesem großen Block perlt jede Kritik ab. Dafür habe ich kein Verständnis. Ich hatte es nicht bei Berlusconi, ich habe es jetzt nicht bei Orbán. Wenn wir die Demokratie verteidigen wollen, müssen vor allem diejenigen, die Mitglied derselben Parteienfamilie wie Orbán sind, deutliche Worte finden.

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Das Interview führte Christine Pütz, EU-Referentin der Heinrich-Böll-Stiftung

 

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