Die Türkei nach den Parlamentswahlen – Chance für einen Neuanfang?

Lesedauer: 7 Minuten
Türkische Flaggen, Foto: hydro-xy, Quelle: Flickr, Lizenz:CC BY 2.0

4. Juli 2011
Von Ulrike Dufner

Nach den Parlamentswahlen am 12. Juni kündigte der Hohe Wahlrat der Türkei an, dass neun der gewählten Abgeordneten ihr Mandat nicht antreten können. Begründet wurde dies im Fall von acht Abgeordneten damit, dass sie -  angeklagt der Unterstützung terroristischer Organisationen - in Untersuchungshaft säßen und die Gerichte ihre Freilassung abgelehnt hätten. Der pro-kurdische Abgeordnete Hatip Dicle hingegen wurde nach der Kandidatennominierung rechtskräftig zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten wegen vermeintlicher PKK-Propaganda verurteilt.

Der Justizapparat als politisches Kampfinstrument

Seit Monaten kommt man als externe Beobachterin der Türkei aus dem Staunen über die frappierende Politisierung der Justiz nicht mehr heraus. Ein gutes Beispiel ist der Hohe Wahlrat, ein aus sieben hohen Richtern zusammengesetztes Gremium, welches für die rechtmäßige Durchführung der Wahlen verantwortlich ist: Vor rund acht Wochen erschütterte zum ersten Mal eine später zurückgenommene Entscheidung des Hohen Wahlrates die politische Öffentlichkeit in der Türkei. Damals wollte er zwölf Kandidaten, darunter sieben Kandidaten des pro-kurdischen Blocks, die Kandidatur mit fadenscheinigen Argumenten entziehen. Sie hätten sich, so die damalige Begründung des Hohen Wahlrates, nicht von einem Gericht bestätigen lassen, dass sie trotz früherer Haftstrafen ihre vollen Bürgerrechte und damit auch das passive Wahlrecht wiedererlangt hatten. Doch der Hohe Wahlrat hätte eigentlich wissen müssen, dass eine derartige Bestätigung von den Gerichten überhaupt nicht mehr ausgestellt wurde, da diese im Zuge der Reformgesetze abgeschafft worden war. Erst auf heftige und empörte Reaktionen seitens der Medien, der Zivilgesellschaft und der kurdischen Elite wurde eine „gesichtswahrende“ Lösung gefunden und zehn Kandidaten das passive Wahlrecht doch noch eingeräumt. Auf der Liste der noch zugelassenen Kandidaten befand sich auch der pro-kurdische Abgeordnete Hatip Dicle.

Es deutete sich jedoch schon damals an, dass dies nicht die einzige politische Krise im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen bleiben würde: Die Republikanische Volkspartei CHP, die ultranationalistische MHP und der pro-kurdische Wahlblock der Unabhängigen hatten insgesamt neun Kandidaten aufgestellt, die sich zu dieser Zeit noch in Untersuchungshaft befanden. Im Fall ihrer Wahl hätten die Gerichte entscheiden müssen, ob Strafverfahren auch bei Haftentlassung hätten fortgesetzt werden können und damit der Weg für die Annahme des Mandates frei wäre. Diesen Weg war man bei den Parlamentswahlen 2007 im Fall der unabhängigen Kandidatin Sabahat Tuncel gegangen.

Hinter der Entscheidung, ein derartiges politisches Risiko einzugehen, steckt letztlich die immer schwächere Legitimation der Justiz und der Strafverfahren insgesamt: Sechs der gewählten Abgeordneten des pro-kurdischen Blocks sind im Rahmen des KCK-Verfahrens angeklagt und der Unterstützung einer terroristischen Organisation beschuldigt. Drei der gewählten Abgeordneten der CHP und MHP sind im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens der Beteiligung an Putschplänen gegen die Regierung angeklagt.

Das im Oktober 2010 eingeleitete KCK-Verfahren wird von zahlreichen politischen Beobachtern als ein Versuch gewertet, die pro-kurdische Partei BDP politisch auszuschalten. Denn im Rahmen dieses Verfahrens werden insgesamt 152 Personen seit nunmehr über zwei Jahren in U-Haft gehalten, darunter gewählte Bürgermeister der BDP bzw. der Vorläuferpartei DTP. Hunderte weitere Politiker der BDP sitzen in Parallelverfahren seit Monaten in Haft.

Das seit 2007 geführte Ergenekon-Verfahren wiederum verlor spätestens seit der Inhaftierung der Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener an Glaubwürdigkeit in der türkischen Öffentlichkeit, auch wenn die Existenz von Ergenekon als eine Organisation, welche die Regierung stürzen will, nicht angezweifelt wird. So gehen viele der im Zusammenhang mit diesem Verfahren durchgeführten Verhaftungen zu weit. Immer öfter wird die Kritik laut, dass es sich bei diesem Verfahren um ein Instrument handelt, um politische Gegner der AKP mit Hilfe der Justiz auszuschalten und mundtot zu machen.
Im Kontext beider Verfahren wird verstärkt Kritik an den enorm langen U-Haftstrafen laut. Sie kann im Fall von Strafverfahren, die unter die Spezialgerichte (früher Staatssicherheitsgerichte) fallen, nach türkischer Strafprozessordnung bis zu 10 Jahre andauern. Wenn man bedenkt, dass gegenwärtig 65 Prozent der Inhaftierten ohne rechtskräftige Urteile in Haft sitzen, wird deutlich, dass U-Haft ein Mittel der Ausschaltung politischer Kritiker und eine Form der Bestrafung ist.

Die Justiz, so die Kritik, wird zunehmend zum Instrument des Staatsapparates, um gegen Oppositionelle vorzugehen. So trifft dies allen voran pro-kurdische und kemalistische Stimmen. Doch die Fälle Nedim Sener und Ahmet Sik, die weder dem einen noch dem anderen Lager zuzuordnen sind, zeigen deutlich, dass durchaus auch weitere Kreise davon betroffen sein können. 
Die Justiz, ihre Urteile und Strafverfahren, haben in der öffentlichen Diskussion deutlich an Legitimation eingebüßt. Äußerungen von Ministerpräsident Erdogan, er respektiere die Unabhängigkeit der Justiz und könne daher nicht in laufende Verfahren eingreifen, wirken vor diesem Hintergrund zynisch.

Zweifelhafte Legitimation des Parlamentes

Ähnlich ist es um die Legitimation des Parlaments bestellt. Seit Jahren fordern Oppositionelle u.a. eine Änderung des Parteiengesetzes und die Abschaffung der 10-Prozent-Hürde, um die Repräsentanz des Parlaments und damit die Legitimation seiner Beschlüsse zu gewährleisten. Dennoch hat die AKP in den vergangenen zwei Legislaturperioden keinerlei Schritte in diese Richtung unternommen. Zunehmend wird deswegen die Demokratiefähigkeit der AKP angezweifelt.

Immerhin hat der pro-kurdische Block der Unabhängigen trotz enormer Hürden im Wahlkampf 6,6 Prozent der Stimmen erzielt. Bei geändertem Wahlrecht wäre die Anzahl der Sitze insbesondere in den kurdischen Gebieten sicherlich noch höher ausgefallen. Beispielsweise hat in der Stadt Diyarbakir der BDP-nahe Block rund 60 Prozent der Stimmen erhalten, er stellt aber nur sechs (bzw. fünf, falls die Wahl von Dicle tatsächlich aufgehoben werden sollte) von elf Abgeordneten. Nunmehr sollen dem BDP-nahen Block durch zweifelhafte Gerichtsverfahren und die Inhaftierung der Angeklagten auch noch sechs der 36 Sitze aberkannt werden. Die BDP hat sich daher - mit dem Boykott der Vereidigung der gewählten Abgeordneten - geschlossen dagegen ausgesprochen, diesem Parlament die Legitimation zu erteilen.

Auch wenn der Republikanischen Volkspartei von ihren 137 gewählten Abgeordneten „nur“ zwei Sitze verloren gehen, so ist auch sie nicht bereit, sich an diesem Spiel zu beteiligen, und will so lange von der Vereidigung der Abgeordneten absehen, solange keine Lösung im Fall ihrer zwei Abgeordneten gefunden wird.

Ministerpräsident Erdogan zeigte sich zunächst unbeeindruckt und verkündete, dass das Parlament gemäß Verfassung auch ohne CHP und BDP beschlussfähig und damit handlungsfähig sei. Er rief dennoch die CHP dazu auf, ihre Entscheidung zu überdenken. Interessanterweise kommentierte er die Boykott-Haltung der BDP mit keinem Wort. Dass er damit auf die Legitimation und gesellschaftliche Repräsentanz des Parlaments verzichtet, schien ihn nicht zu beeindrucken.

Erst durch das Einlenken des Staatspräsidenten Abdullah Gül ist Bewegung in die verfahrene Situation gekommen. Nunmehr wird nach Lösungen gesucht, die Freilassung der gewählten, inhaftierten Abgeordneten zu ermöglichen. Klar ist, dass eine Lösung nicht nur für die CHP sondern auch für die BDP gefunden werden muss.

Die Krise zeigt, wie dringend eine grundlegende Reform des politischen Systems – allen voran der Verfassung und des Justizwesens – erforderlich ist. Für derartige grundlegende Reformen reichen parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse und eine nachträgliche Bestätigung per Referendum nicht aus. Erforderlich ist ein möglichst breiter gesellschaftlicher Konsens. Dieser ist ohne die BDP und CHP im Parlament nicht möglich. Falls diese Krise in dem Sinne gelöst werden kann, dass alle gewählten Abgeordneten auch tatsächlich ihren Auftrag erfüllen, dann hätte dieses Parlament nach Ansicht zahlreicher Beobachter die seit langem besten Voraussetzungen dafür, ein demokratisches, ziviles, repräsentatives, politisches System zu etablieren und einen Neuanfang zu schaffen. 
.................

Ulrike Dufner ist die Leiterin des Türkeibüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.