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Die Zivilgesellschaft zieht es nach Brüssel

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Was Firmen längst verstanden haben, kommt nun auch bei der Zivilgesellschaft an. Nicht ganz im Gleichtakt, aber doch in bemerkenswerter Weise, ziehen die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nach: wer heute noch mittel- oder langfristig politisch etwas bewegen will, kann nicht mehr nur in der jeweiligen nationalen Hauptstadt aktiv sein. Ob Umwelt- oder Verbraucherschutz oder digitale Zivilgesellschaft – ein großer Teil des Orchesters spielt heute in Brüssel.

 Zwischen Berlaymont-Gebäude und Europäischem Parlament tummeln sich zwischen allerlei Anwaltskanzleien, Firmen-, Landes-, Stiftungsvertretungen und EU-Behörden auch immer mehr NGOs. Und das, obwohl Europapolitik noch immer unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet.

Fast 1500 Nichtregierungsorganisationen sind im gemeinsamen Lobbyregister von Europäischer Kommission und Europaparlament aufgeführt. Das fängt mit der Afrikanischen Diplomatie-Akademie an, über den Deutschen Feuerwehr- und den Forstverein und den Weltkongress der Uiguren bis zum Verein Zwiebelfreunde, einem Verein, der Internet-Anonymisierungsdienste fördert. Sie alle wollen in Brüssel ihre Meinung sagen können, wenn sie es für richtig halten. Und längst nicht jede NGO steht in diesem Transparenzregister. Zum Vergleich: auch fast 600 selbständige Berater, Anwaltskanzleien und Beratungsfirmen und fast 2500 Vertreter von Unternehmen, Berufsverbänden und Gewerkschaften kennt das Register. Das klingt zwar nicht nach so unglaublich viel mehr als bei den NGOs, aber oft sind dies professionelle und oft auch hochbezahlte Ganztageslobbyisten.

Viel Macht, wenig Medienöffentlichkeit

Je mehr Politik in Europa gemacht wird, umso eklatanter fällt ins Auge, wie wenig Europa jenseits der Finanzkrise in den Medien beachtet wird. So leistet sich das Magazin „Der Spiegel“ zwar zwei Deutschlandredaktionen – aber keine Europaredaktion. Und auch bei den anderen klassischen journalistischen Erzeugnissen sieht es kaum besser aus: 

Europaberichterstattung heißt selbst bei den Qualitätsradiosendern Deutschlandfunk und DRadio Kultur insgesamt gerade einmal zwei Korrespondenten – im Berliner Hauptstadtstudio tun neun von ihnen tagtäglich Dienst. Europa ist nur zu oft „undercover“ im wahrsten Sinne des Wortes. Das führt dazu, dass immer stärker das Internet zum Zentrum der europäischen Diskussion wird. Reihenweise finden sich die ranghöheren politischen Beamten und die EU-Kommissare, aber auch die Europaparlamentsabgeordneten auf Twitter, Facebook und Konsorten. Dort, wo sie auch einfach für NGOs und deren Sympathisanten erreichbar sind. 

Dass mit ACTA ein netzspezifisches Thema gezeigt hat, was an digitaler, transnationaler europäischer Öffentlichkeit möglich ist, dürfte auch NGOs im nichtdigitalen Sektor beflügelt haben. Doch ohne Medienöffentlichkeit gelangten bislang nur wenige Themen überhaupt bis zu denen, die auch zuhause für NGOs unerlässlich sind: die ganz normalen Menschen, die sich als Mitglied, als Förderer, Aktivistin oder Spenderin für die richtige Politik einsetzen. Ob sich das mit dem Internet ändern kann? Bereits heute gibt es eine kleine aber feine EU-Medienwelt im Netz. Ob es die „Euroblogger“ sind oder Onlinemagazine wie Euractiv, der EU Observer oder eben Twitterer: hier tut sich langsam etwas, auch weil andere es verschlafen.

Die Rolle des Internets ist auch in den Institutionen verankert. Kaum eine EU-Kommissionskonsultation, die nicht öffentlich online für jeden Bürger mit Internetzugang erreichbar wäre und an der sie oder er teilnehmen könnte. Ob es sich um eine Reform der Behilfeverfahren, die Gruppenfreistellungsverordnung, Meeresenergie, Klontierlebensmittel oder die Überarbeitung der EU-Regelung für den Obst- und Gemüsesektor handelt: „Ihre Stimme in Europa“ ist deutlich fortschrittlicher als das, was beispielsweise im politischen Berlin gang und gäbe ist, wo das höchste der Gefühle eine Verbändeanhörung zu sein scheint. Dazu kommt, dass viele – wenn auch längst nicht alle – Dokumente der Vertrags- und Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union online leicht abrufbar sind.

Internet als Schlüssel für mehr Transparenz und Partizipation

Diese Kombination aus erweiterter Transparenz und einem mehr an Partizipation lässt das Wort vom „Raumschiff Brüssel“, das jenseits der Erde seine Bahnen zieht und mit den Erdlingen kaum noch etwas zu tun hat, alt aussehen. Und es hilft auch den zivilgesellschaftlichen Organisationen: nur wer Zugang zu Dokumenten hat, kann überhaupt den professionellen Lobbyisten in die Suppe spucken und Kommissionsbeamten und Parlamentariern über die Schulter gucken.

Und doch: wer in Brüssel dauerhaft etwas bewirken will, muss auch dort persönlich vorstellig werden. In einem besonders umkämpften Bereich der EU-Gesetzgebung, erzählte kürzlich ein frischgebackener Berichterstatter im Europaparlament, können binnen zwei Wochen schon einmal 80 Industrie- und Firmenvertreter auf der Matte stehen. Das hinterlässt Eindruck. Stetig Präsenz zu zeigen, das können nur die wenigsten NGOs leisten. Das gilt insbesondere für die deutschen NGOs: sie sind im europäischen Vergleich oft groß – aber unterrepräsentiert. Von Berlin nach Brüssel dauert eine Bahnfahrt locker sieben Stunden. Und bei den Fluglinien ist, seitdem die deutsche Lufthansa ihre langjährige Streckenkonkurrentin Brussels Airlines kaufte, der Preis ein überaus praktisches Problem.

So ist es nur logisch, dass auch immer mehr nationale Verbände dazu übergehen, nicht nur ihren europäischen Dachverbänden die Brüsseler Lobbyarbeit zu überlassen, sondern auch eigene Europabüros zu eröffnen. Denn wer nichts von sich hören lässt, wird im rasanten Parlamentsbetrieb am Place Luxembourg sonst schnell überhört.

Zwar funktioniert vieles arbeitsteilig, wenn beispielsweise befreundete NGOs aus den Niederlanden einfacher nach Brüssel den Weg finden als diejenigen aus Athen und Themen und Ansichten einfach mittransportieren. Doch um der Vielfalt Europas, seiner Zivilgesellschaft und deren Argumente wirklich Gehör zu verschaffen, reicht es noch nicht. Im Umkehrschluss wird die Tendenz, nach Brüssel zu gehen, aber auch etwas anderes bedeuten: mittelfristig wird sich auch die Zivilgesellschaft selbst zu einem stärker transnationalen Gebilde wandeln und maßgebliche Entscheidungen auch hier nicht mehr in Lissabon, Athen, Berlin oder Helsinki getroffen werden. Doch noch ist das Zukunftsmusik.


Falk Lüke ist freier Journalist.


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