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Es ist eben kein Märchen

Revolutionen brauchen das Internet nicht, und überhaupt sei Netzaktivismus völlig überbewertet, behauptet Wissenschaftler und Internetskeptiker Evgeny Morozov unermüdlich in Kolumnen und Vorträgen. Aber ist diese Aussage noch zeitgemäß? Und was ist eigentlich Netzaktivismus? Über eine Definition ließe sich endlos debattieren. Allein mit Beschreibungen der verschiedensten netzaktivistischen Formen könnte man Seiten füllen; denn Netzaktivismus ist ein digitaler Spiegel dessen, was es schon seit langem offline gibt: professionelle Organisationen, Ad-hoc-Zusammenschlüsse und verschiedenste Untergrundgruppierungen. Durch die ACTA-Kampagnen erfuhren wir in Europa erstmals, was erreicht werden kann, wenn eine große Gruppe von Menschen gemeinsam mit Hilfe des Internets auf dasselbe Ziel hinarbeitet.

Immer mehr Bürgerinnen und Bürger nutzen das Netz, um sich aktiv in die Politikgestaltung einzumischen. Heute kann jeder ein Manifest, einen offenen Brief oder ein Protestschreiben einem potenziell unendlich großen Publikum bereitstellen. Durch das Internet haben wir unmittelbaren Zugang zu nahezu allen Informationen. Leaks, Echtzeitübertragungen und Pressemitteilungen machen uns weniger von den Interpretationen der Medien abhängig, wir können uns unser eigenes Bild machen. Die spezielle Macht des Internets zur Vernetzung und Vervielfältigung gesellschaftlicher Kritik ermöglicht es einem diversifizierten Publikum, zusammenzukommen und auf gemeinsamer Grundlage zu debattieren. Die Ursprünge der verschiedenen netzaktivistischen Gruppierungen haben genau wie das Internet viele Knotenpunkte und sind dezentraler Natur. Manche entstehen durch kleine Facebook-Seiten oder Twitter-Hashtags, vergehen schnell wieder oder werden größer, manche finden sich zufällig in Foren, manche schließen sich geplant zusammen.

Die sicherlich alltäglichste Form des Netzaktivismus ist die niedrigschwellige Online-Beteiligung, wie zum Beispiel das Unterzeichnen von Petitionen, das Klicken von « Gefällt mir »-Buttons, Retweets oder das Teilen von Links auf Pinnwänden. Durch diesen Mikroprotest können viele Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig digital aktiv werden, ohne komplizierte Formulare ausfüllen zu müssen. Da bei vielen das Engagement jedoch nicht über das Mitklicken hinausgeht, hat Morozov in einer Hinsicht recht: Es wäre übertrieben, hier von «Twitter- oder Facebook-Revolutionen» zu sprechen. Anderseits kann dieser Mikroprotest auch nicht als komplett unerheblich abgetan werden, wenn man sich den Fall ACTA anschaut.

Sie kamen für die "Lulz" und wurden politisch

Einen völlig anderen Ursprung hat das internationale Kollektiv «Anonymous», der in den Wirren des Boards (des Internetforums) 4chan liegt. Die Nutzer koordinieren sich hier vollkommen hierarchiefrei. Anfangs ging es darum, lustiges Chaos im Netz zu veranstalten. Die «Anons» kamen für die «Lulz» und blieben schließlich aus politischer Motivierung, um gezieltere Aktionen gegen Scientology, die Finanzdienstleister PayPal, Visa und Mastercard oder tunesische Regierungswebsites durchzuführen. Die Stärke des Kollektivs liegt in seiner Anonymität, in der Fähigkeit, sich dezentral als Schwarm zu mobilisieren, und in den medienwirksamen Aktionen. Die Attacken der Anons auf Webseiten, sogenannte DDoS-Angriffe, wurden mehrfach und heftig kritisiert – damit wurde aber auch erstmals eine umfassende Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen des Online-Protests geführt.

Als professionalisierte Form des digitalen Aktivismus könnte man die etablierten Bürgerrechtsorganisationen bezeichnen. Auf EU-Ebene ist dies European Digital Rights (EDRi), auf nationaler Ebene gibt es zum Beispiel den deutschen Chaos Computer Club oder die Digitale Gesellschaft, die niederländische Organisation Bits of Freedom, die französische Quadrature du Net oder etwa die britische Open Rights Group. Aber auch diese Organisationen unterscheiden sich in ihrer Struktur und Arbeitsweise vollkommen voneinander. Eines aber haben sie alle gemeinsam: Hinter den Kulissen in Brüssel, Berlin, Amsterdam, Paris und London geschieht vieles, was der Netzöffentlichkeit entgeht oder gar nicht erst in diese gelangen soll. Die Stärke der NGOs ist ihre beständige Präsenz, ihre Watchdog-Funktion und das regelmäßige Liefern von Expertenmeinungen und detaillierten Analysen – die dann von Aktivisten als Flyer oder Infomaterial wiederverwendet, kopiert und verbreitet werden können.

Nutzlos - von wegen!

Evgeny Morozovs These zufolge sind Netzaktivisten jedoch entweder (in repressiven Regimen) waghalsig engagiert oder aber (in der westlichen Welt) oberflächlich und nutzlos. Mit ACTA bewiesen digitale Aktivisten direkt auf mehreren Ebenen das Gegenteil. Man könnte sagen, dass sich die unermüdliche Arbeit der Bürgerrechtsorganisationen und die spektakulären Aktionen wie Yin und Yang ergänzen. Das beste Beispiel hierfür ist die sechsmonatige europaweite Protestwelle gegen das internationale Handelsabkommen ACTA. EDRi veröffentlichte seit Beginn der jahrelangen Verhandlungen umfassende Analysen. Später gründeten sich spontan Facebook-Gruppen gegen das Abkommen, in denen europaweite Demonstrationen dezentral koordiniert wurden. Obwohl Morozov behauptet, dass soziale Netzwerke zu einer Entpolitisierung beitragen, hat ACTA gezeigt, dass sich dort plötzlich auch Menschen interessieren und engagieren, die nicht immer direkt von Bürgerrechtsorganisationen erreicht werden können.

Hier in Europa gingen die Menschen nicht nur aus Protest gegen eine repressive Durchsetzung des Urheberrechts oder einzelne Paragraphen auf die Straße, sondern für die Verteidigung ihrer Grundrechte und den Erhalt eines freien und unzensierten Internets. Auch hier wurden Morozovs Annahmen widerlegt: Gerade weil viele Menschen mit ihrem « komfortablen Leben im Westen » erkannten, welch zweifelhafte Möglichkeiten das Netz eröffnen kann, kam es zu Massenprotesten und den über 2,5 Millionen Unterschriften gegen das Abkommen.

Verteidigung der Grundrechte und eines freien Internets

Ohne die Proteste und Tausenden von E-Mails von Bürgerinnen und Bürgern hätten die Europaabgeordneten das Abkommen vermutlich nicht mit einer solch klaren Mehrheit abgelehnt. Sogar diejenigen, für die das Internet hauptsächlich ein Klickmedium ist, haben hierzu beigetragen. Die jahrelangen Arbeiten der NGOs, die Demonstranten, Videomacher und Petitionen haben alle eine Rolle gespielt. Die vielen fragmentierten Facetten des Netzaktivismus haben ein internationales Handelsabkommen zu Fall gebracht. Es ist zu flach gedacht, die befreienden Kräfte des Internets kategorisch als reines Märchen abzufertigen.

Obwohl das Netz eine aktive Beteiligungsdemokratie ermöglicht, ist das Internet kein öffentlicher demokratischer Raum. Da die Infrastruktur von privaten Unternehmen betrieben wird, geben Konzerne den Rahmen für digitalen Aktivismus vor. Es ist nicht selten, dass Accounts und Videos gesperrt, E-Books oder Fotos gelöscht, Domainnamen beschlagnahmt oder Zahlungen eingefroren werden – wie es die Privatunternehmen gerade für angemessen halten. Dies mussten beispielsweise die Netzaktivisten der Enthüllungsplattform WikiLeaks erfahren, als Ende 2010 PayPal, Visa und Mastercard willkürlich die Auszahlung von Spendengeldern an die Plattform sperrten – obwohl bis heute kein Gericht die Aktivitäten von WikiLeaks für illegal erklärt hat. Digitale politische Aktionen hängen also oft am seidenen Faden der Allgemeinen Geschäftsbedingungen.

Wie Cory Doctorow erst kürzlich auf einem Kongress in Berlin erklärte, haben wir mit ACTA noch lange nicht den «Endgegner» erledigt, sondern lediglich das nächste Level erreicht. Damit es nicht bei einem Etappensieg bleibt, wir zukünftigen Herausforderungen gewachsen sind und dem großen «Endboss» ebenbürtig gegenübertreten können, brauchen all jene Organisationen und Netzaktivisten solides Rüstzeug, um sich effektiv für das freie, offene und unzensierte Internet einsetzen zu können. 


Kirsten Fiedler arbeitet als Advocacy Manager bei der europäischen NGO European Digital Rights (EDRi.org), die in Brüssel 32 Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen aus insgesamt 20 europäischen Ländern vertritt. Nebenbei bloggt sie zu netzpolitischen Themen und engagiert sich bei der belgischen NURPA sowie beim Digitale Gesellschaft e.V. Auf Twitter heißt sie @Kirst3nF