Vorsprung durch Fortschritt - Warum sich die Sozialdemokratie im neuen Vielparteiensystem als progressive Partei neu entdecken muss

7. April 2008
Von Tobias Dürr

Von Tobias Dürr

Die SPD ist aus dem Tritt, nicht bloß ein bisschen, sondern richtig – und mit offenem Ausgang. Was an der Partei am meisten zehrt, ist nur bei alleroberflächlichster Betrachtung die ungelöste Frage, mit welchen Partnern ihr in einem sich auffächernden Vielparteiensystem eine neue „Machtperspektive“ offenstehen könnte; oder mit welchem Spitzenkandidaten die nächste Bundestagswahl einigermaßen respektabel zu überstehen wäre. Gewiss wirkt die SPD derzeit auch deshalb so unattraktiv, weil allzu viele ihrer Akteure allzu viel öffentlich darüber räsonieren, mit wem es für sie vielleicht irgendwann wieder zu irgendeiner Mehrheit unter Führung der SPD reichen mag. Und so gesehen ist die aktuelle Unansehnlichkeit der Partei tatsächlich eine Folge übermäßiger – vor allem: übermäßig introvertierter – Beschäftigung mit rein taktischen und machtpolitischen Fragen. Das bedeutet aber umgekehrt zugleich, dass sich die Sozialdemokraten viel zu wenig mit dem beschäftigen, worauf es für sie heute in Wirklichkeit dringend ankommt: nämlich mit strategisch verstandener Arbeit an einem klar konturierten, eigenständigen und vorwärtsweisenden inhaltlichen und kulturellen Profil, das sowohl den Bedingungen des 21. Jahrhunderts als auch den neuen Wettbewerbsverhältnissen im erweiterten deutschen Parteiensystem Rechnung trüge.

Mangelnde konzeptionelle Klarheit – die Sünde des Vielparteiensystems

Die eigene inhaltliche Profilierung zu vernachlässigen, hätte für alle Parteien zu allen Zeiten ein beträchtliches Problem bedeutet. Doch im neuen Vielparteiengefüge mit seinen fünf (und womöglich demnächst irgendwann sogar mehr) Konkurrenten wird die Strafe auf fehlende konzeptionelle Klarheit, mangelnde strategische Konsistenz und unterentwickelte kulturelle Zeitgenossenschaft noch weitaus heftiger ausfallen als in der hinter uns liegenden Ära der großen Volksparteien und kleinen Zweierkoalitionen, der überraschungsfreien Lagerwahlkämpfe, der berechenbaren Stammwählermilieus und stabilen Mehrheiten.

Das große Dealignment (keineswegs nur) im deutschen Parteiensystem hat sich lange angekündigt. Es ist die Folge fundamentaler gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche, die unausbleiblich neue Konfliktlinien produzieren, verbreitete Orientierungslosigkeit schaffen, rastlose politische Suchbewegungen auslösen und parteipolitische Präferenzen verändern. Dass sich seit einigen Jahren die Linkspartei auf gesamtdeutscher Ebene etabliert, ist ein Bestandteil dieser Prozesse – zugleich Ergebnis, Symptom und Beschleuniger der Auflösung des gewohnten Parteiengefüges, keinesfalls aber deren Ursache. Aus der Perspektive nicht weniger Sozialdemokraten sieht es freilich anders aus. Sie missverstehen die Linkspartei gewissermaßen als den eigentlichen Grund ihrer Schwierigkeiten – und eben darin besteht in Wirklichkeit ihr Problem. Denn genau das macht die SPD einstweilen zu derjenigen Partei, die politisch am meisten an den großen Umwälzungen leidet; genau das bewirkt, dass die SPD unter allen betroffenen Parteien einstweilen am wenigsten in der Lage zu sein scheint, die Chancen zu erkennen und zu nutzen, die Transformationskrisen letztlich immer auch innewohnen.

Vorbei ist die Zeit der „natürlichen Bündnisse“

Aber, kein Zweifel, Schwierigkeiten macht die nun eingetretene Lage allen Beteiligten. Je mehr Parteien das neue deutsche Parteiensystem bevölkern und je unerreichbarer die 40-Prozent-Marke für die beiden ehemals großen Parteien wird, desto unklarer bleibt vor den Wahlen, wer hinterher gemeinsam mit wem eine Regierungsmehrheit bilden könnte. Eben damit ist auch die Zeit der „natürlichen“ Bündnisse und der einander fest verschanzt gegenüberstehenden Lager vorbei. Das ist einerseits befreiend, denn jede Lagerbildung führt irgendwann zum Lagerkoller, macht also tatsächlich „dumm, nicht klug“ (Ralf Fücks). Andererseits schaffen neue Verhältnisse auch neue Probleme. Wenn nämlich die Wähler weniger denn je im Voraus wissen (können), zu welcher Koalition ihre Stimmen am Ende beitragen werden, dann wachsen die Legitimationsprobleme der Parteien: „Bezogen auf die Regierungsbildung sind in einem Vielparteiensystem … nicht die Wähler der eigentliche Souverän, sondern die Parteien beziehungsweise Parteiführungen, die über die Koalitionen entscheiden“, hat zu Recht der Politikwissenschaftler Frank Decker in der Berliner Republik angemerkt. „Werden die gewünschten oder nicht auszuschließenden Allianzen vor der Wahl nicht klar offengelegt, gerät die Abgabe der Stimme damit künftig zum Lotteriespiel: Man weiß nicht, was am Ende herauskommt.“

Auch noch den vergangenen zwei Jahrzehnten besaßen die Bürgerinnen und Bürger neben vergleichsweise eindeutigen Vorstellungen von den jeweiligen Eigenarten der einzelnen Parteien auch einigermaßen konkrete Anschauungen hinsichtlich des Gesamtcharakters der beiden „Parteienfamilien“ Schwarz-Gelb und Rot-Grün: Es gab in der deutschen Politik eine „bürgerliche“ Familie und eine „sozialökologische“, und es war nicht zuletzt ihre Zugehörigkeit zu je einer diesen beiden Familien, die die Parteien aus Sicht des Publikums definierte. Das ist heute nicht mehr so. Im neuen Vielparteiensystem werden die alten Parteienfamilien allenfalls noch als historische Reminiszenzen und verblassende Mentalitäten bestimmter politischer Akteure weiterleben; ganz praktisch und gegenwärtig, also als Faktoren der macht- und koalitionspolitischen Wirklichkeit, existieren sie nicht mehr. Unter den Bedingungen eines offenen Fünf- oder gar Sechsparteiensystems sind die Parteien also mehr denn je darauf verwiesen, aus eigener Kraft zu überzeugen. Um gewählt zu werden, können sie nicht mehr auf irgendwelche Identität stiftenden - (angeblich) historischen - Bündnisprojekte jenseits ihrer selbst verweisen. Die aktuellen Abnabelungsprozesse und „Unabhängigkeitserklärungen“ sowohl der FDP und als auch der Grünen tragen dieser Einsicht Rechnung. In beiden Parteien lässt man sich – einstweilen zögerlich noch – auf die neue Wirklichkeit ein.

Konzeptionelle Profilierung und Kompromissfähigkeit – geht das überhaupt?

Aber das ist gar nicht so einfach. Denn wie geht das eigentlich zusammen: klare inhaltlich-kulturelle Profilierung einerseits und multiple Koalitionsfähigkeit andererseits? Wie kann es Parteien gelingen, zugleich als unverwechselbar und prinzipienfest zu gelten – und gleichzeitig in verschiedene Richtungen kompromissfähig zu agieren? Wie schaffen sie es, den spezifischen eigenen Nimbus unter den Wählern auch dann nicht einzubüßen, wenn sie aus koalitionspolitischen Notwendigkeiten gerade ganz anders agieren? Nur wenn den Parteien dieser Spagat zwischen Profil und Kompromissfähigkeit auf neue, überzeugende Weise glückt, werden sie in Zukunft erfolgreich sein können.

Anders formuliert: Nur wer ziemlich genau weiß, wofür er prinzipiell und inhaltlich steht, kann überhaupt Zugeständnisse machen und Kompromisse schließen, ohne darüber sogleich die Nerven oder gar, in der Selbstwahrnehmung, die „Identität“ zu verlieren. Bei der SPD weiß man das alles derzeit aber nicht so genau, und eben darin besteht ihr zentrales Defizit, aus dem sich die fehlende „Machtperspektive“ nur folgerichtig ableitet. Was die Partei mehr als alles andere aufreibt, ist ihre Verunsicherung über Ziel und Auftrag der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Was eigentlich soll heute das eigene sozialdemokratische Projekt sein? Worin besteht die besondere Idee der SPD für das 21. Jahrhundert? Was unterscheidet diese Partei ganz prinzipiell von ihren Konkurrenten? Hierzu werden dringend Vorschläge benötigt.

Hier kommt einer. Die SPD sollte alles daran setzen, sich erneut als Partei des Fortschritts zu profilieren. Der Satz ist weniger unoriginell, als er auf Anhieb klingt. Sozialdemokraten meinen häufig, fortschrittlich seien sie – gleichsam qua parteihistorischer Herkunft – sowieso. Aber sie machen es sich zu einfach. Denn entgegen der gängigen Legende ist das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Fortschritt heute mitnichten so eng, wie es einmal gewesen sein mag, zuweilen erscheint es geradezu zerrüttet. Jedenfalls ist Fortschritt kein Konzept, das sich wie selbstverständlich im Besitz der SPD befände.

Die SPD und der Fortschritt

War das einmal anders? Durchaus. „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gilt nach Meinung eines großen Teils unseres Volkes als Partei des Fortschritts“, erklärte einst Willy Brandt. „Die Zeiten, da politische Tageserfolge mit der Parole „Keine Experimente“ erzielt werden konnten, sind ohnehin vorbei. Die Mehrheit der Deutschen spürt den Zusammenhang zwischen der Erhaltung des Friedens, wirtschaftlicher Stabilität, Reform des Bildungs- und Ausbildungswesens. Mehr Menschen erkennen, dass die führende Kraft der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands verstärkt werden muss, um gerade diese Aufgaben in den kommenden Jahren erfolgreich durchführen zu können. Als Sozialdemokrat darf man stolz sein auf dieses Vertrauen.“ Das war 1969, kurz vor dem Wahlsieg, der Brandt zum Kanzler einer Koalition mit der ebenfalls forciert fortschrittlich auftretenden FDP machen sollte. „Wir schaffen das moderne Deutschland“, plakatierte die SPD in jenem Jahr. „Wir schaffen die alten Zöpfe ab“, sekundierten die Liberalen. Those were the days.

Warum sollte die SPD heute versuchen, die unterdessen verlorene Hoheit über die Kategorie des Fortschritts zurückzuerobern? Warum reicht es nicht, weiterhin schlicht nach dem „sozialen Deutschland“ zu verlangen und wieder verstärkt für traditionell verstandene soziale Verteilungsgerechtigkeit zu trommeln? Die einfache, aber machtpolitisch unmittelbar bedeutsame Antwort lautet: Weil dies nach Lage der Dinge ausschließlich der Linkspartei in die Hände spielt und damit gerade nicht der – unter den Bedingungen eines Vielparteiensystems so dringend nötigen – Herausbildung eines markanten eigenen sozialdemokratischen Profils dient. Ganz im Gegenteil.

Noch wichtiger aber ist es, eine grundsätzliche Antwort zu geben. Die lautet etwa so: Die SPD muss wiederum zur Partei des Fortschritts werden, weil sie ohne Fortschrittsdrang, ohne Experimentierfreude und ohne Vorwärtsbewegung zu einer konservativen Partei herunterkäme. Als Partei der bloßen Verwaltung des Status quo aber, die bloß das Erreichte verteidigt oder gar Vergangenes zurück verlangt, träte die SPD aber aus ihrer eigenen Geschichte aus. Will sich die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert treu bleiben, will sie erfolgreich sein und innerhalb des neuen deutschen Vielparteiensystems einen eigenen Ort finden, dann muss sie unbedingt in ihrer ganzen Grundhaltung und kollektiven Körpersprache wieder als Partei des Fortschritts in Deutschland erkennbar werden.

Fortschritts damals und Fortschritt heute – das Dilemma

Schön und gut. Aber was wäre das für ein Fortschritt, für den die SPD stehen müsste? Ganz sicher nicht angebracht wäre die Rückkehr zu einem unreflektierten Fortschrittsglauben, der alles Neue und andere schon deshalb begrüßt, weil es neu und anders ist. Aber der benefit of the doubt muss schon eindeutig – und verstärkt wieder – für die Annahme gelten, dass Verbesserung (oder auch nur die Bewahrung des Erreichten) ohne fortschreitende Veränderung undenkbar ist. Fortschritt bedeutet heute nicht, möglichst viel so zu belassen, wie es war, nur weil es früher einmal unter der Parole des Fortschritts angestrebt wurde. Tatsächlich hat die SPD ihr heutiges Dilemma in vieler Hinsicht selbst geschaffen, gerade weil sie zu lange nicht mehr fortschrittlich genug gewesen ist. Wäre sie in ihrer ganzen Haltung rechtzeitig fortschrittlich gewesen, hätte sie viel früher umschalten müssen, auf eine umfassende und vor allem positive Politik der emanzipatorischen Investitionen: für Bildung für mehr Menschen, für bessere Integration, für mehr lebens- und berufsbegleitende Weiterbildung, für Kinder und Familien, für eine fortschrittliche Politik, die prinzipiell nicht abwartet, bis Kinder in Brunnen gefallen, sondern stets proaktiv Potenziale fördert, Menschen stärkt und neue Wege eröffnet.

Die alte Fortschrittsidee lautete, dass in der Menschheitsgeschichte ein Muster des Wandels existiere und Veränderungen irreversibel in Richtung Verbesserung verliefen. Diese Zuversicht wirkt heute – nach Weltkriegen und Genoziden, angesichts der Energienot und des Klimawandels – durch und durch naiv. Wieder erobern muss sich die SPD allerdings eine grundlegend kulturoptimistische Weltsicht: Gerade weil die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte so außerordentlich groß sind und überall neue Lösungen dringend gebraucht werden, muss das Neue – jedenfalls prima facie – als das Bessere und Höherwertige gegenüber dem Alten und Überkommenen gelten.

Dinge in die eigene Hände nehmen

Häufig – nicht immer – ist Fortschrittsdenken mit teleologischen Vorstellungen verbunden: mit der Idee, dass sich die Dinge auf ein Endziel hin entwickeln. Das war beim Kommunismus so. Ziel, Richtung und Endzustand der historischen Entwicklung standen gewissermaßen von vornherein fest. „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“, glaubte nicht nur Erich Honecker. Wenn eines wirklich attraktiv war an der dezidiert nichtmarxistischen Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann war es ihr grundsätzlicher Kulturoptimismus bei gleichzeitigem Verzicht auf jegliche Geschichtsteleologie. Diese Kombination ist nicht selbstverständlich. Aber sie macht den Kern der Sozialdemokratie aus: die Idee, dass Fortschritt erstens möglich ist, dass es aber zweitens von den Lebenden und Handelnden selbst abhängt, ob er tatsächlich eintritt. Vom eigenen Handeln hängt der Fortschritt ab, nicht von behaupteten historischen Zwangsläufigkeiten – ein Gedanke übrigens, den die nichtmarxistische Sozialdemokratie historisch in vieler Hinsicht mit dem Liberalismus teilt und der sich auch im ideenpolitischen Repertoire der Grünen findet.

Aus allen diesen Gründen muss es der SPD im 21. Jahrhundert wieder mehr um Fortschritt und Erneuerung gehen, um Emanzipation, um bessere Lebens- und Verwirklichungschancen für möglichst alle Menschen. Und es muss ihr darum gehen, die Dinge energisch in die eigenen Hände zu nehmen. Sozialdemokratie, beim Wort genommen, hat mit Dynamik zu tun, mit eigenem Zupacken, mit kreativer politischer Bewegung, um unbefriedigende Verhältnisse zu verbessern. Als dynamisch nach vorn weisendes Fortschrittsprojekt, wie es die SPD heute so dringend benötigt, könnte sich das Konzept des vorsorgenden Sozialstaates erweisen, der systematisch und von Anfang an in alle Menschen und ihre Fähigkeiten investiert, damit sie ihr Leben selbstbestimmt und aus eigener Kraft bestreiten können.

„Yes, we can“ – es ist lange her, seit man Barack Obamas zupackendes Credo so oder ähnlich von deutschen Sozialdemokraten gehört hat. Nötig dafür wäre allerdings der Mut, eingefahrene Gleise zu verlassen. Nötig wäre die Vorstellungskraft, neue Spielregeln für eine veränderte gesellschaftliche Landschaft zu entwerfen. Nötig wäre die Zuversicht, auch unter veränderten Bedingungen aufs Neue Menschen für die große Idee einer sozialen Demokratie gewinnen zu können. Nötig wären Neugier, Öffnung und Zuwendung, statt Abgrenzung, Reihenschließen und der Sehnsucht nach angeblich besseren alten Zeiten. Kurz, nötig wäre Fortschritt und nicht Beharrung – aus sehr grundsätzlichen Gründen, aber auch deshalb, weil die Bedingungen des neuen deutschen Vielparteiensystems alles andere nicht prämieren werden.

Tobias Dürr ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er ist Chefredakteur des Intellektuellenmagazins "Berliner Republik".